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anstatt daß man ihn sonst ohne Umstände nur
Herr von Hall zu nennen pflegte. Kurz, Vereh
rung und Liebe drängten sich ihm von allen Sei
ten entgegen. Aber einstimmig widerriethen ihm
seine rheilnkhmenden Freunde die beschlossene Rei
se. „Die Hauptstadt ist voll Schlangen und Füch
se;" sagten sie. „Ein so argloser und zutraulicher
Mann, wie der Herr Baron, ist dort den größten
Gefahren ausgesetzt."
„Sorgt doch nicht für mich'," sprach er la
chend. „Unser einer weiß sich in allen Fällen ge
gen List und Betrug zu bewahren."
Nach aufgehobener Tafel führten ihn verschie,
Vene Herren bei Seite, und in einer halben Scun,
de waren schon drei Theile der Erbschaft gegen
annehmliche Sicherheiten untergebracht.
Er kam in der Hauptstadt an, trat im vor,
nehmsten Gasthofe ab, und seine erste Sorge war,
sich mit einem Lohnbedienten zu versehen. Der
Wirth des Hauses wollte ihm einen treuen Mann
zuweisen; er verbat es. „Mein Grundsatz ist:
Trau, schau, wem!" sprach er. „Stellen Sie mir
die Menschen vor, die gewöhnlich in diesem Hause
die Fremden bedienen. Ich will mir einen davon
erkiesen, und hoffe, keinen Fehlgriff zu thun, da
ich mit der Gesichts - und Mienenkunde ein we
nig bekannt bin."
Es erschienen drei Candidaten. Zwei dersel
ben traten ernst und schweigend, mit mäßigen
Verbeugungen, auf. Der dritte bückte sich so tief
als möglich, küßte dem Wahlherrn die Hand, und
erbot sich mit geläufiger Zunge Sr. Excellenz
zu unterthänigsten Diensten. Der Titel Excellenz
kitzelte den Baron, weil er ihm nicht zukam; die
freundliche Gesichtebildung des Gunstschleichers
gefiel ihm; er schickte die Sauertöpfe fort, und
wählte den kriechenden Lächler. Der Hauswirth
schüttelte darüber den Kopf, und fing an, die ge
rühmten physiognomischen Kenntnisse seines Ga
ste« zu bezweifeln.
Am folgenden Tage fuhr der Baron ins Ster
behaus, um die ererbten Goldstücke in Empfang
zu nehmen. Da« ging aber nicht so geschwind,
als er dachte. Der kluge Mann halte zwar Geld
säcke mitgebracht, aber die ihm von dem Gerichts
höfe zugefertigken Rechtsbeweise auf seinem Gute
gelassen. DcrHaupterbe, ein alter barscher Kriegs
kamerad des Verstorbenen, wies ihn deshalb mit
leeren Händen ab. „Sie begreifen," sagte er,
„daß es eine Unbesonnenheit wäre, dem Erste»
dem Besten, der sich Barotz Hall nennt, ein so
beträchtliches Legat auszuzahlen. Stellen Sie mir
wenigstens drei hier angesessene Zeugen und Bür-
gen, daß Sie der rechte Mann sind."
„Es kennt mich leider hier niemand;" ant
wortete der Baron.
„Sv haben wir für jetzt nichts mit einander
zu thun;" sagte Jener. „Sorgen Sie für gehö
rige Legitimation, und kommen Sie in drei oder
vier Wochen wieder: denn eher ist Ihr Geld oh
nehin nicht beisammen."
Der Baron schrieb an feinen Gerichtöverwal-
ter, um die nöthigen Urkunden zu erhalten, und
war dann nicht wenig verlegen, was er in einem
so fremden Elemente, als die Hauptstadt für ihn
war, einen Monat lang mit seiner Zeit anfangen
sollte. Kauz, sein Lohnbedienter, schlug ihm man,
cherlei vor. „Wollen Ew. Excellenz die Biblio
thek, den Bildersaal, die Kunstcabinette und an,
dere Merkwürdigkeiten sehen? — Soll ich Hoch-
dieselben auf Kaffeehäuser und in Tanzgesellschaf
ten führen?"— DerBaron verwarf alles, rauchte
eine Pfeife Tabak nach der andern zum Fenster
hinaus, und belustigte sich an dem bunten Ge
wühl der Straße. Als ihm aber der Abend die
sen Guckkasten schloß, ließ er sich aus langer
Weile überreden, ins Schauspiel zu gehen.
Es war das erste Komödienhaus, das er von
innen sah. Der Glanz der dort versammelten
schönen Welt machte daher einen wunderbaren
Eindruck auf ihn. Manche Dame schien ihm eine
vollendete Göttinn, und die artigsten Landmädchen,
die ihm jemals gefallen hatten, kamen ihm jetzt
wie Frahenbilder vor. Er durchmusterte unermü-
det die Logen, die gerade an diesem Tage sehr
angefüllt waren. Nur die nächste an seiner lin
ken Seite war leer. Doch, indem das Schauspiel
angehen sollte, traten auch in diese zwei Damen:
dem Ansehen nach, Mutter und Tochter. Die
letztere glich an Schönheit und Anmuth einem
überirdischen Wesen. Der Baron vergaß alle an
dere Frauen, die er kurz zuvor unter die Götter
versetzt halte, und blickte nur seine himmlische
Nachbarinn an.
Hier wird es Zeit, über sein Alter und seine
Gestalt mit der Sprache heraus zu gehen. Er
war kein Jüngling mehr; ein halbes Zahrhun-
dert drückte schon seinen Nacken; aber, durch Aus
schweifungen nicht entnervt, trug er sich noch fest
und aufrecht wie ein Eichbaum. Ein schöngebil-
derer Mann war er übrigens nicht, und war es
nimmer gewesen. Er hatte schon als Kind das
Antlitz eines alten Männleins. Dieser Natur
makel, den man im gemeinen Lebe«, das Alter