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machen gesucht: daß der Vater von jeher Besorg,
Nisse über die Authenticität dieses Knaben gehabt.
Als er einst von der Residenz zurück kam, wo,
selbst er der pomphaften Aufführung einer großen
Oper beigewohnt hatte; gestand er zwar anfangs:
daß die Musik Meisterwerk sei, und daß er gleich,
sam in einer wollüstigen See von Tönen gcschwom,
men; ja, daß alle Legenden von Orpheus durch ei,
nen solchen Harmouiestnrm begreiflich würden; daß
sein Geist sich vor dem Compontsten beuge; daß er
seine Schwingen dieser Sonnenhöhe nicht gewach,
sen fühle u. s. w. Kaum war er aber in Kräh
winkel wieder etwas warm geworden; kaum hatte
er seine erste Kirchenmusik aufgeführt: so hörte
man schon eine Menge Klauseln und Einschrän-
kungen. Zum Beispiel: Die Gründlichkeit ge,
höre eben nicht unter die vorstechenden Eigenschaft
ten jenes Meisters; er erlaube sich gewaltige Ab
weichungen von den eingeführten Formen: bei ei,
ner solchen Geringschätzung aller Regeln, einem
solchen muthwilligen Hinwegsetzen über Hecken
nnd Zäune — habe man gut wett kommen. Er
wolle doch auch einmal zur Probe einen solchen
Rolandsritt versuchen rc. Zn der That machte er
den Versuch mit einer Romanze, der aber (denn
nur ein Genie darf eine Krücke ungestraft wegwer
fen!) so erbärmlich ausfiel, daß sie weislich ganz
unterdrückt wurde, und in sein großes Maculatur,
faß wanderte.
An den berühmten Capellmeister der Residenz
schrieb er einmal:
„Nachdem ich aus der Zeitung ersehen, daß
„Ew. Wohlgebohren eine neue Oper gesetzt:
„so erbitte mir solche zur Durchsicht; stehe
„dagegen mit meinen Operibus zu Dien-
„ ften, und verharre, E. W. dienstwillig,
„ster rc.
Wie der Kapellmeister nicht antwortet, kaust
er sich nach Zahreesrist den Klavterauszug, und
reißt den Mann so hämisch, und mit so scheinba
rer Gründlichkeit in einem viel gelesenen Journal
herunter, daß er selbst über die Unverschämtheit der
kritiichen Fliege erstaunte. Durch seine Verbindun,
gen erfuhr er unschwer den Verfasser der Kritik,
und rächte sich damit, daß er ihm ein Exemplar
seiner Werke zum Geschenk mächte.
Kurz, er ist der beste Mann von der Welt,
sobald man seine Eitelkeit kitzelt; aber der V-rlä»g,
von Weib und Kind, und aller heiligsten Ge-
fühle fähig, ,o wie diese verwundet wird.
L. S ch u b a r t.
Die glückliche Lüge.
(Schluß.)
Ein Jahr war verflossen, als Verneuil allein
nach Lyon reis'te, um Handelsangelegenhetten dorr
zu beseitigen. Kaum war er ein Paar Stunden
von Montargis entfernt, als er das Schloß de«
Herrn Bremond vor sich liegen sah, und bei der
Erinnerung an die Lüge, die er so klug ersonnen
harte, laut auflachte. Bald wurde ihm aber an
ders zu Muthe, als er bet der Allee, die nach dem
Schlosse führte, eine Menge Leute stehen sah, die
Zufall oder Neugierde dahin geführt hatte, und
die die Ankunft seines Wagens abzuwarten schie
nen... „0 Himmel! rief er aus, wenn das die
Bewohner des Schlosses wären! ..." Kaum hatte
er diesen Gedanken gedacht, als er wirklich Herrn
Bremond mit offnen Armen auf sich zukommen
sah. Dieser hatte ihn sogleich erkannt, und rief
ihm zu: „Das ist er! das ist Verneuil! . .. Sie
kommen wahrscheinlich, um Sich nach dem Erfol
ge Ihres Briefes zu erkundigen? .... Steigen
Sie aus; wir wollen Ihnen Alles erzählen. ..."
Verneuil gertelh ein wenig in Verwirrung; indessen
suchte er sich bald wieder zu fassen, nnd antwortete
mit erkünstelter Unbefangenheit: „Nun? Sie ha
be» noch keine Antwort erhalten?" . . .
Verzeihen Sic; im Gegentheil! Und wir wa
ren sehr in Verlegenheit, weil wir durchaus nicht
Mittel und Wege finden konnten, sie an Sie ge,
langen zu lassen. — Doch lassen wir diese Auf
schlüsse, bis wir im Schlosse sind. .. . Kommen
Sie mit uns.
Was sollte Verneuil thun? .. . Sollte er
mitgehen? ... Würde er diesen zweiten Besuch,
unter so sonderbaren Umständen, nicht vielleicht bit
ter bereuen müssen? .... Konnte man sich nicht
leicht über ihn lustig machen wollen? ... Aber er
ist umringt.... man zieht ihn ins Schloß...
Schon ist er auf dem Hausflur angekommen; er
muß i» den Saal treten. . .—Ein ältlicher Mann
saß hier und las Zeitungen. Bei dem Geräusch,
da« die Eintretenden machten, blickte er auf ... .
grüßte den Fremden, und las weiter. „Nun?"
rief Bremond Verneuil mit fragendem Blicke zu.
„Nun?" riefen die jungen Mädchen, und zupft
ten den Lesenden am Kleide. — „Das ist er! —
Das ist er! — Warum kennen Sie Sich aber
beide nicht? — Warum umarmen Sie Sich
nicht? • •Beide standen einander stumm, un
beweglich und verlegen gegenüber, sahen si an, und
brharrten auf ihrem Stillschweigen. Endlich nahm