Path:
Volume Nro. 77., Dienstag, den 18. April 1809

Full text: Der Freimüthige oder Berlinisches Unterhaltungsblatt für gebildete, unbefangene Leser / Kuhn, Friedrich August (Public Domain) Issue6.1809 (Public Domain)

3°7 
machen gesucht: daß der Vater von jeher Besorg, 
Nisse über die Authenticität dieses Knaben gehabt. 
Als er einst von der Residenz zurück kam, wo, 
selbst er der pomphaften Aufführung einer großen 
Oper beigewohnt hatte; gestand er zwar anfangs: 
daß die Musik Meisterwerk sei, und daß er gleich, 
sam in einer wollüstigen See von Tönen gcschwom, 
men; ja, daß alle Legenden von Orpheus durch ei, 
nen solchen Harmouiestnrm begreiflich würden; daß 
sein Geist sich vor dem Compontsten beuge; daß er 
seine Schwingen dieser Sonnenhöhe nicht gewach, 
sen fühle u. s. w. Kaum war er aber in Kräh 
winkel wieder etwas warm geworden; kaum hatte 
er seine erste Kirchenmusik aufgeführt: so hörte 
man schon eine Menge Klauseln und Einschrän- 
kungen. Zum Beispiel: Die Gründlichkeit ge, 
höre eben nicht unter die vorstechenden Eigenschaft 
ten jenes Meisters; er erlaube sich gewaltige Ab 
weichungen von den eingeführten Formen: bei ei, 
ner solchen Geringschätzung aller Regeln, einem 
solchen muthwilligen Hinwegsetzen über Hecken 
nnd Zäune — habe man gut wett kommen. Er 
wolle doch auch einmal zur Probe einen solchen 
Rolandsritt versuchen rc. Zn der That machte er 
den Versuch mit einer Romanze, der aber (denn 
nur ein Genie darf eine Krücke ungestraft wegwer 
fen!) so erbärmlich ausfiel, daß sie weislich ganz 
unterdrückt wurde, und in sein großes Maculatur, 
faß wanderte. 
An den berühmten Capellmeister der Residenz 
schrieb er einmal: 
„Nachdem ich aus der Zeitung ersehen, daß 
„Ew. Wohlgebohren eine neue Oper gesetzt: 
„so erbitte mir solche zur Durchsicht; stehe 
„dagegen mit meinen Operibus zu Dien- 
„ ften, und verharre, E. W. dienstwillig, 
„ster rc. 
Wie der Kapellmeister nicht antwortet, kaust 
er sich nach Zahreesrist den Klavterauszug, und 
reißt den Mann so hämisch, und mit so scheinba 
rer Gründlichkeit in einem viel gelesenen Journal 
herunter, daß er selbst über die Unverschämtheit der 
kritiichen Fliege erstaunte. Durch seine Verbindun, 
gen erfuhr er unschwer den Verfasser der Kritik, 
und rächte sich damit, daß er ihm ein Exemplar 
seiner Werke zum Geschenk mächte. 
Kurz, er ist der beste Mann von der Welt, 
sobald man seine Eitelkeit kitzelt; aber der V-rlä»g, 
von Weib und Kind, und aller heiligsten Ge- 
fühle fähig, ,o wie diese verwundet wird. 
L. S ch u b a r t. 
Die glückliche Lüge. 
(Schluß.) 
Ein Jahr war verflossen, als Verneuil allein 
nach Lyon reis'te, um Handelsangelegenhetten dorr 
zu beseitigen. Kaum war er ein Paar Stunden 
von Montargis entfernt, als er das Schloß de« 
Herrn Bremond vor sich liegen sah, und bei der 
Erinnerung an die Lüge, die er so klug ersonnen 
harte, laut auflachte. Bald wurde ihm aber an 
ders zu Muthe, als er bet der Allee, die nach dem 
Schlosse führte, eine Menge Leute stehen sah, die 
Zufall oder Neugierde dahin geführt hatte, und 
die die Ankunft seines Wagens abzuwarten schie 
nen... „0 Himmel! rief er aus, wenn das die 
Bewohner des Schlosses wären! ..." Kaum hatte 
er diesen Gedanken gedacht, als er wirklich Herrn 
Bremond mit offnen Armen auf sich zukommen 
sah. Dieser hatte ihn sogleich erkannt, und rief 
ihm zu: „Das ist er! das ist Verneuil! . .. Sie 
kommen wahrscheinlich, um Sich nach dem Erfol 
ge Ihres Briefes zu erkundigen? .... Steigen 
Sie aus; wir wollen Ihnen Alles erzählen. ..." 
Verneuil gertelh ein wenig in Verwirrung; indessen 
suchte er sich bald wieder zu fassen, nnd antwortete 
mit erkünstelter Unbefangenheit: „Nun? Sie ha 
be» noch keine Antwort erhalten?" . . . 
Verzeihen Sic; im Gegentheil! Und wir wa 
ren sehr in Verlegenheit, weil wir durchaus nicht 
Mittel und Wege finden konnten, sie an Sie ge, 
langen zu lassen. — Doch lassen wir diese Auf 
schlüsse, bis wir im Schlosse sind. .. . Kommen 
Sie mit uns. 
Was sollte Verneuil thun? .. . Sollte er 
mitgehen? ... Würde er diesen zweiten Besuch, 
unter so sonderbaren Umständen, nicht vielleicht bit 
ter bereuen müssen? .... Konnte man sich nicht 
leicht über ihn lustig machen wollen? ... Aber er 
ist umringt.... man zieht ihn ins Schloß... 
Schon ist er auf dem Hausflur angekommen; er 
muß i» den Saal treten. . .—Ein ältlicher Mann 
saß hier und las Zeitungen. Bei dem Geräusch, 
da« die Eintretenden machten, blickte er auf ... . 
grüßte den Fremden, und las weiter. „Nun?" 
rief Bremond Verneuil mit fragendem Blicke zu. 
„Nun?" riefen die jungen Mädchen, und zupft 
ten den Lesenden am Kleide. — „Das ist er! — 
Das ist er! — Warum kennen Sie Sich aber 
beide nicht? — Warum umarmen Sie Sich 
nicht? • •Beide standen einander stumm, un 
beweglich und verlegen gegenüber, sahen si an, und 
brharrten auf ihrem Stillschweigen. Endlich nahm
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.