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gengefthte Gang eintraten — der Mensch muß di«
Gegenstände durch die Sprache kennen lernen.
Denken wir uns z. B. ein nomadische« Vslk,
in dessen Mitte Einer oder auch Mehrere zugleich
zur Bezeichnung eines geistigen, mächtigen Wesens
(worauf sic etwa durch gewisse gewaltsame Erschei
nungen in der Natur geleitet werden) irgend ein
Wort, ihrer falschen oder wahren Vorstellung ange
messen, erfinden: so hat dieses eben erfundene Zei
chen den nehmlichen Grad der Klarheit für sie, den
ihre Vorstellung von dem Gegenstände selbst hat.
Dieses nomadische Volk aber entwildct sich, bildet
eine Art von gesetzlicher Verfassung, und nähert sich
dem Zustande der Mündigkeit. DK unter ihren
Augen aufwachsende Generation dräucht. nun nicht
erst für bekannte Gegenstände neue Wörter zu erfin
den; sie sind schon vorhanden, der Knabe Hort sie.
ahmt nach, und erlernt das Gehörte, ohne kniniep
die Gegenstände selbst zu sehen ; — er lernt also die
Sprache, ehe er die Gegenstände durch eigene An
schauung kennt.
Ich mag nicht bchauptrn, daß dies bei allen
Gegenständen der 'Fall sey.' Die Streitaxt,' der
Bogen oder der Hamen, deren sich der Vater be
dient, können, als Gegenstände ssnnsscher'Wahrneh
mung, dem Knaben früher bekannt werden, als die
dafür angenommenen Wortzeichen; oder er kann
Gegenstand und Zeichen in einem und demselben Au
genblicke kennen lernen. Aber find die Gegenstände
enssernt, spricht der Vater von ihnen, ohne dem
Knaben eine anschauliche Kennmiß davon zu geben;
oder sind es Gegenstände der Abstraktion; so muß
in dem Knaben der Begriff durch da« Wort, nicht
das Wort durch den Begriff erzeugt werden.
Das Wort selbst aber, wenn cs nicht geradezu
eine Onomatopöie ist, oder «ine Gleichheit des Tons
mit dem Hörbaren in der Matur enthält, kann ohne
weitere Erklärung und Verdeutlichung immer noch
keinen Begriff erzeugm. Es bedarf daher einer Er
klärung, und von dieser hängt eü ab, ob der Knabe
einen richtigen oder falschen, klarm oder dunkeln,
Begriff von dem Gegenstände bekommen soll.
Je mehr nun da« angenommene Volk'kn seiner
Geisteskultur fortschreitet, je mehr es an neuen
Ideen und Vorstellungen gewinnt; je mehr sich über
haupt sein ganzer Jdeenkreiö erweitert: desto mehr
muß auch die Sptache an Umfang gewinnen, desto
schwerer aber auch zugleich die Erlernung derselben
werden, da die Erklärungen aller, nicht sogleich ge
genwärtigen, oder gar unsinnliche». Gegenständ« im
mer nothwendiger und häufiger werden müssen.
Dieö ist nun bei jeder, wenn auch nur auf
der ersten Stufe der Kultur stehenden, Nation der
nothwendige Gang, den sie bei der Erlernung der
Sprache nehmen muß. Unsre Kinder hören, sobald
die Sprachfähigkeit sich bei ihnen entwickelt, eine
Menge von Wörtern, von denen zwar mehrere als
rin bloßer Schall vor ihnen verschwinden, aber
auch andere^ die sie oft hörten, und die in ihnen
irgend eine dunkle Vorstellung erzeugten, ihrem Ge
dächtnisse sich einprägen. Sind diese Wörter Zei
chen für vorhandene sinnliche Gegenstände, welche
dem Kinde auf der Stelle zur Anschauung gebracht
werden können: so ist kein Zweifel, daß es den
Begriff mit dem Worte zugleich erhält; es wird
sich, so oft es dies Wort von Andern aussprechen
hört, ein bestimmtes Bild von dem Gegenstände,
der dadurch bezeichnet wird, entwerfen, und ihn an
gewissen aufgefaßten Merkmalen sicher von jedem
andern, in dep Form merklich verfchiedenrn, Gegen
stände unterscheiden.
Allein eben dieses Kind wird auch mit solchen
Wörtern bekannt gemacht, deren Gegenstände ihm
nicht — wenigstens nicht gleich — vor Augen ge
halten wtzpden können» oder die auch wohl keiner
sinnlichen.Wahrnehmung fähig sind. Die Wärterin
hat' meinem Kinde wiederholt gezeigt und gesagt:
da wohnt der Buchbinder. — Durch dir öftere
Wiederholung tiefes Satzes ist der Ausdruck Buch
binder kein leerer Schall mehr für das Kind ge
blieben; d.«^n frage ich eö: »vo wohnt der Buch
binder? so weiser etz'mik'demeMnger bestimmt nach
chem Orte hin. So hörest unfte"Kinder die Namen
König, Gott, Tod, und gewöhnen ihr Ohr an
diesen Laut so, daß sich mit der Z«it etneWorstel-
lung von diesen Gegenständen in ihnen entwickelt,
die aber oft genug gerade die entgegengesetzte von
der ist, auf welche das Wort hinführen sollte.
Daß dem so ist, liegt in der Erfahrung. Wir
wissen es Alle, daß der Mensch die Sprache durch
. das gesellige Leben ohne Stufenfolge und Ordnung
erlernt, und eben daher tausend Wörter durch das
Gedächtniß auffaßt, die entweder auf einige Zeit»
oder auf immer, wie Zahlen in der Reihe seiner Be
griffe da stehen, und al« solche ihn nicht beschäftigen
können. , . -H
H. Th.
(Die Fortsetzung folgt.)
Aefthetische Briefe.
L e s s i n g.
^3enn man Von den Original-Schriftstellern der
Deutschen Literatur spricht, so darf man den unsterb
lichen Lessing nicht vergessen — einen Geist, der
an Vielseitigkeit und Umfang kaum einen neben sich
hat. In welcher Dichtungöart hat er sich nicht mit
Glück und überraschendem Erfolg gezeigt? welcher
Zweig der Gelehrsamkeit war ihm fremd? in welcher
Art Prose hat er nicht Muster geliefert? — Die
Tragödie, das Lustspiel, die Fabel, das Lied, die poe
tische Erzählung, das Epigramm lagen in feinem
Gebiete, wie die höhere Kritik, Philologie, antiqua
rische Untersuchungen, Kunst, Theologie und philoso
phisch- Wissenschaften. Wie Leibniz hegte er
von Jugend an den großen Gedanken: Ein Mann
von "Geist müsse die ganze Welt menschlichen
Wissens und menschlicher Entdeckungen umschif
fen; sich überall versuchen, wo'er Trieb und Lust in
sich fühle — und nach vollbrachter Reift da nieder-