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Volume Nro. 149, Dienstag, den 26. Julius 1808

Full text: Der Freimüthige oder Berlinisches Unterhaltungsblatt für gebildete, unbefangene Leser / Kuhn, Friedrich August (Public Domain) Issue5.1808 (Public Domain)

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gengefthte Gang eintraten — der Mensch muß di« 
Gegenstände durch die Sprache kennen lernen. 
Denken wir uns z. B. ein nomadische« Vslk, 
in dessen Mitte Einer oder auch Mehrere zugleich 
zur Bezeichnung eines geistigen, mächtigen Wesens 
(worauf sic etwa durch gewisse gewaltsame Erschei 
nungen in der Natur geleitet werden) irgend ein 
Wort, ihrer falschen oder wahren Vorstellung ange 
messen, erfinden: so hat dieses eben erfundene Zei 
chen den nehmlichen Grad der Klarheit für sie, den 
ihre Vorstellung von dem Gegenstände selbst hat. 
Dieses nomadische Volk aber entwildct sich, bildet 
eine Art von gesetzlicher Verfassung, und nähert sich 
dem Zustande der Mündigkeit. DK unter ihren 
Augen aufwachsende Generation dräucht. nun nicht 
erst für bekannte Gegenstände neue Wörter zu erfin 
den; sie sind schon vorhanden, der Knabe Hort sie. 
ahmt nach, und erlernt das Gehörte, ohne kniniep 
die Gegenstände selbst zu sehen ; — er lernt also die 
Sprache, ehe er die Gegenstände durch eigene An 
schauung kennt. 
Ich mag nicht bchauptrn, daß dies bei allen 
Gegenständen der 'Fall sey.' Die Streitaxt,' der 
Bogen oder der Hamen, deren sich der Vater be 
dient, können, als Gegenstände ssnnsscher'Wahrneh 
mung, dem Knaben früher bekannt werden, als die 
dafür angenommenen Wortzeichen; oder er kann 
Gegenstand und Zeichen in einem und demselben Au 
genblicke kennen lernen. Aber find die Gegenstände 
enssernt, spricht der Vater von ihnen, ohne dem 
Knaben eine anschauliche Kennmiß davon zu geben; 
oder sind es Gegenstände der Abstraktion; so muß 
in dem Knaben der Begriff durch da« Wort, nicht 
das Wort durch den Begriff erzeugt werden. 
Das Wort selbst aber, wenn cs nicht geradezu 
eine Onomatopöie ist, oder «ine Gleichheit des Tons 
mit dem Hörbaren in der Matur enthält, kann ohne 
weitere Erklärung und Verdeutlichung immer noch 
keinen Begriff erzeugm. Es bedarf daher einer Er 
klärung, und von dieser hängt eü ab, ob der Knabe 
einen richtigen oder falschen, klarm oder dunkeln, 
Begriff von dem Gegenstände bekommen soll. 
Je mehr nun da« angenommene Volk'kn seiner 
Geisteskultur fortschreitet, je mehr es an neuen 
Ideen und Vorstellungen gewinnt; je mehr sich über 
haupt sein ganzer Jdeenkreiö erweitert: desto mehr 
muß auch die Sptache an Umfang gewinnen, desto 
schwerer aber auch zugleich die Erlernung derselben 
werden, da die Erklärungen aller, nicht sogleich ge 
genwärtigen, oder gar unsinnliche». Gegenständ« im 
mer nothwendiger und häufiger werden müssen. 
Dieö ist nun bei jeder, wenn auch nur auf 
der ersten Stufe der Kultur stehenden, Nation der 
nothwendige Gang, den sie bei der Erlernung der 
Sprache nehmen muß. Unsre Kinder hören, sobald 
die Sprachfähigkeit sich bei ihnen entwickelt, eine 
Menge von Wörtern, von denen zwar mehrere als 
rin bloßer Schall vor ihnen verschwinden, aber 
auch andere^ die sie oft hörten, und die in ihnen 
irgend eine dunkle Vorstellung erzeugten, ihrem Ge 
dächtnisse sich einprägen. Sind diese Wörter Zei 
chen für vorhandene sinnliche Gegenstände, welche 
dem Kinde auf der Stelle zur Anschauung gebracht 
werden können: so ist kein Zweifel, daß es den 
Begriff mit dem Worte zugleich erhält; es wird 
sich, so oft es dies Wort von Andern aussprechen 
hört, ein bestimmtes Bild von dem Gegenstände, 
der dadurch bezeichnet wird, entwerfen, und ihn an 
gewissen aufgefaßten Merkmalen sicher von jedem 
andern, in dep Form merklich verfchiedenrn, Gegen 
stände unterscheiden. 
Allein eben dieses Kind wird auch mit solchen 
Wörtern bekannt gemacht, deren Gegenstände ihm 
nicht — wenigstens nicht gleich — vor Augen ge 
halten wtzpden können» oder die auch wohl keiner 
sinnlichen.Wahrnehmung fähig sind. Die Wärterin 
hat' meinem Kinde wiederholt gezeigt und gesagt: 
da wohnt der Buchbinder. — Durch dir öftere 
Wiederholung tiefes Satzes ist der Ausdruck Buch 
binder kein leerer Schall mehr für das Kind ge 
blieben; d.«^n frage ich eö: »vo wohnt der Buch 
binder? so weiser etz'mik'demeMnger bestimmt nach 
chem Orte hin. So hörest unfte"Kinder die Namen 
König, Gott, Tod, und gewöhnen ihr Ohr an 
diesen Laut so, daß sich mit der Z«it etneWorstel- 
lung von diesen Gegenständen in ihnen entwickelt, 
die aber oft genug gerade die entgegengesetzte von 
der ist, auf welche das Wort hinführen sollte. 
Daß dem so ist, liegt in der Erfahrung. Wir 
wissen es Alle, daß der Mensch die Sprache durch 
. das gesellige Leben ohne Stufenfolge und Ordnung 
erlernt, und eben daher tausend Wörter durch das 
Gedächtniß auffaßt, die entweder auf einige Zeit» 
oder auf immer, wie Zahlen in der Reihe seiner Be 
griffe da stehen, und al« solche ihn nicht beschäftigen 
können. , . -H 
H. Th. 
(Die Fortsetzung folgt.) 
Aefthetische Briefe. 
L e s s i n g. 
^3enn man Von den Original-Schriftstellern der 
Deutschen Literatur spricht, so darf man den unsterb 
lichen Lessing nicht vergessen — einen Geist, der 
an Vielseitigkeit und Umfang kaum einen neben sich 
hat. In welcher Dichtungöart hat er sich nicht mit 
Glück und überraschendem Erfolg gezeigt? welcher 
Zweig der Gelehrsamkeit war ihm fremd? in welcher 
Art Prose hat er nicht Muster geliefert? — Die 
Tragödie, das Lustspiel, die Fabel, das Lied, die poe 
tische Erzählung, das Epigramm lagen in feinem 
Gebiete, wie die höhere Kritik, Philologie, antiqua 
rische Untersuchungen, Kunst, Theologie und philoso 
phisch- Wissenschaften. Wie Leibniz hegte er 
von Jugend an den großen Gedanken: Ein Mann 
von "Geist müsse die ganze Welt menschlichen 
Wissens und menschlicher Entdeckungen umschif 
fen; sich überall versuchen, wo'er Trieb und Lust in 
sich fühle — und nach vollbrachter Reift da nieder-
	        
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