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D e r Freimüthige
Freitag,
oder ^
den i. Januar.
Berlinisches Unterhaltungsblatt für gebildete/ unbefangene Leser.
Die Stiefgeschwister;
«fte wahre Geschichte/ von A. v. Kotzebue.
Bor kurzem besucht' ich den Obristen von **berg
auf seimn Gütern. Gleich am andern Morgen, als
wir beim Frühstück saßen, trat ein junger Dtann in
einer abgetragenen Uniform herein, dessen vernarb
tes Gesicht von feeliger Zufriedenheit glänzte. „Waü
wollt ihr?" fragte der Obriste freundlich. „I nu,
gnädiger Herr," erwiederte Jener mit einem ver
schämten lächeln, „ich wollte Ew. Gnaden bitten,
bei meinem vierten Kinde Gevatter zu stehen." —
„Von Herzen gern," sagte der Obriste; „wie
befindet sich Eure Frau? "
„Gott sey Dank! recht wohl!" und bei dem
„Gott sey Dmk" blickte er so seelenvoll gen Him
mel, als wollt'er sagen: du hast mir alles gewährt!
Nachmittage begleitete ich meinen Wirch zu der
Gevatterschaft n eine nahe Mühle. Ich sah ein hol
des, junges W?ib, ich sah blühende Kinder; alles
tm Hause war ss reinlich, so nett, und die Men
schen waren alle so herzlich untereinander, selbst den
Obristen nicht ausgenommen, daß meine Ncubegier
rege wurde. Der Mann, sagte mein edler Wirth,
hat sonderbare Schicksale gehabt, die er Ihnen selbst
erzählen mag. Das that Paul Wolf, der Diül-
ler, kunstlos bescheiden; die Natur hatte ihren Wahr-
heitSstcmpel auf feine Erzählung gedrückt, und ich
wurde so lebhaft davon bewegt, daß ich noch in
derselben Nacht sie aufzeichnete. —
Hane Wolf, ein wohlhabender Pachter, hatte
sein gutes Weib begraben, und schritt zur zweiten
Ehe. Die Verstorbene hinterließ ihm nichts, als ein
wehmüthiges Andenken an ihre treue Liebe, und ei
nen muntern Knaben, Paul. Die lebende, eine
Wittwe, brachte ihm nichts weiter zu, als zwei Kin
der aus der ersten Ehe und Haß gegen ihren Stief
sohn. Was nur immer an die Verstorbene erinnern
konnte, schaffte sie aus dem Wege. Jene war Blu
menliebhaberin , -sie hatte aus einem Myrthenreis ein
Bäumchen erzogen, das der Wohnstube Fenster schmück
te, und nicht fester in der Erde, als in Wolfs Her
zen, wurzelte; das begoß diese so viel und lange, bis
die Wurzeln faulten. Als das dürre Bäumchen hin
aus geworfen wurde, trübten sich des Mannes Au
gen, denn so klein es war, so ragte es doch für ihn
bis in den Himmelsgarten hinauf, wo seine Therese
blühte, und es stand nun nichts mehr um ihn her,
was sie berührt, gepflegt, erzogen hatte. Als er
vollends am nächsten Sonntage zur Kirche ging —
der kleine Paul hatte das dürre Bäumchen unter
dem Fernster gefunden, und, weil er oft vom Vater
gehört, die Mutter habe es gepflanzt, so trug er es
auf der Mutter Grab. wühlte mit seinen schwachen
Händchen ein Loch in den Hügel, und meinte, es
könne wohl wieder wachsen, die Mutter werde schon
dafür sorgen. Hans Welf wußte nichts von des
Kindes Beginnen; der Anblick des verdorrten Däum
chens auf Theresens Grabe preßte ihm Thränen in
die Augen, die von der herrschenden Gattin weder