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Volume Nro. 1, Freitag, den 1. Januar 1808

Full text: Der Freimüthige oder Berlinisches Unterhaltungsblatt für gebildete, unbefangene Leser / Kuhn, Friedrich August (Public Domain) Issue5.1808 (Public Domain)

i8°8- 
JNro. i. 
D e r Freimüthige 
Freitag, 
oder ^ 
den i. Januar. 
Berlinisches Unterhaltungsblatt für gebildete/ unbefangene Leser. 
Die Stiefgeschwister; 
«fte wahre Geschichte/ von A. v. Kotzebue. 
Bor kurzem besucht' ich den Obristen von **berg 
auf seimn Gütern. Gleich am andern Morgen, als 
wir beim Frühstück saßen, trat ein junger Dtann in 
einer abgetragenen Uniform herein, dessen vernarb 
tes Gesicht von feeliger Zufriedenheit glänzte. „Waü 
wollt ihr?" fragte der Obriste freundlich. „I nu, 
gnädiger Herr," erwiederte Jener mit einem ver 
schämten lächeln, „ich wollte Ew. Gnaden bitten, 
bei meinem vierten Kinde Gevatter zu stehen." — 
„Von Herzen gern," sagte der Obriste; „wie 
befindet sich Eure Frau? " 
„Gott sey Dank! recht wohl!" und bei dem 
„Gott sey Dmk" blickte er so seelenvoll gen Him 
mel, als wollt'er sagen: du hast mir alles gewährt! 
Nachmittage begleitete ich meinen Wirch zu der 
Gevatterschaft n eine nahe Mühle. Ich sah ein hol 
des, junges W?ib, ich sah blühende Kinder; alles 
tm Hause war ss reinlich, so nett, und die Men 
schen waren alle so herzlich untereinander, selbst den 
Obristen nicht ausgenommen, daß meine Ncubegier 
rege wurde. Der Mann, sagte mein edler Wirth, 
hat sonderbare Schicksale gehabt, die er Ihnen selbst 
erzählen mag. Das that Paul Wolf, der Diül- 
ler, kunstlos bescheiden; die Natur hatte ihren Wahr- 
heitSstcmpel auf feine Erzählung gedrückt, und ich 
wurde so lebhaft davon bewegt, daß ich noch in 
derselben Nacht sie aufzeichnete. — 
Hane Wolf, ein wohlhabender Pachter, hatte 
sein gutes Weib begraben, und schritt zur zweiten 
Ehe. Die Verstorbene hinterließ ihm nichts, als ein 
wehmüthiges Andenken an ihre treue Liebe, und ei 
nen muntern Knaben, Paul. Die lebende, eine 
Wittwe, brachte ihm nichts weiter zu, als zwei Kin 
der aus der ersten Ehe und Haß gegen ihren Stief 
sohn. Was nur immer an die Verstorbene erinnern 
konnte, schaffte sie aus dem Wege. Jene war Blu 
menliebhaberin , -sie hatte aus einem Myrthenreis ein 
Bäumchen erzogen, das der Wohnstube Fenster schmück 
te, und nicht fester in der Erde, als in Wolfs Her 
zen, wurzelte; das begoß diese so viel und lange, bis 
die Wurzeln faulten. Als das dürre Bäumchen hin 
aus geworfen wurde, trübten sich des Mannes Au 
gen, denn so klein es war, so ragte es doch für ihn 
bis in den Himmelsgarten hinauf, wo seine Therese 
blühte, und es stand nun nichts mehr um ihn her, 
was sie berührt, gepflegt, erzogen hatte. Als er 
vollends am nächsten Sonntage zur Kirche ging — 
der kleine Paul hatte das dürre Bäumchen unter 
dem Fernster gefunden, und, weil er oft vom Vater 
gehört, die Mutter habe es gepflanzt, so trug er es 
auf der Mutter Grab. wühlte mit seinen schwachen 
Händchen ein Loch in den Hügel, und meinte, es 
könne wohl wieder wachsen, die Mutter werde schon 
dafür sorgen. Hans Welf wußte nichts von des 
Kindes Beginnen; der Anblick des verdorrten Däum 
chens auf Theresens Grabe preßte ihm Thränen in 
die Augen, die von der herrschenden Gattin weder
	        
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