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Volume Nro. 156, Dienstag den 5. August 1806

Full text: Der Freimüthige oder Ernst und Scherz (Public Domain) Issue4.1806 (Public Domain)

der rasche Gang der Handlung, und wenn sie selbst 
Mitglieder des Staats waren, Theilnahme und 
Vaterlandsliebe erweckt, so ausgezeichneten Beifall 
erhalten. Roms und Griechenlands Geschichtschrei 
ber, deren Znnigkeit für den Gegenstand, den sie 
bearbeiteten, zum Theil dadurch stieg, daß sie selbst, 
wenigstens ihre Voreltern, bei den Begebenheiten 
die sie erzählen, zugleich thätig mitwirkten, verdan 
ken vielleicht zum Theil diesem Umstande die Ach 
tung der Nachwelt. Wie nachtheilig ist aber die 
Lage derjenigen, die blos die Geschichte eines sin 
kenden Staate schildern; denn wir beben bch gräß- 
lichen Scenen zurück; jene Zuckungen die größten- 
theils der völligen Auflösung vorhcrgchn, erfüllen 
uns oft, wie der Anblick krampfhafter Bewegun 
gen eines Sterbenden, mit Widerwillen und Ab 
scheu, die Mitleiden und Theilnehmung zwar mäßi 
gen, aber deshalb nicht völlig umwandeln: und 
wenn gar noch die Krankengeschichte des Staats 
der eines Schwindsüchtigen gleicht, die Kräfte mit 
jedem Tage immer stärker schwinden, die Thätig 
keit immer niehr erschlafft, dann gränzt unser 
Mitleiden gewöhnlich an Kälte, nicht selten an 
Verachtung. Dies schwache Mitleiden ist daher 
nicht hinreichend unsere Aufmerksamkeit zu fesseln, 
und deshalb erwirbt oft der Gefchichtschreiber, der 
diese undankbare Arbeit übernahm, durch alle seine 
Anstrengung, statt des gesuchten Beifalls, nur die 
Gleichgültigkeit der Zeitgenossen. Zurückschreckend 
ist dies freilich, aber wenn es einer der herrlichsten 
Zwecke der Geschichte bleibt, aus der Vergangen, 
heit Lehren für die Gegenwart und Zukunft zu ent, 
wickeln; so wird auch dieser Zweck mehr durch die Ge 
schichte eines sinkenden, als eines aufblühenden Staa 
tes erreicht. Denn die Natur führt den Menschen 
auf einem und dem nehmstchen Wege zur Reife, 
alle Aeußerungen von Kraft, wenn gleich die Ur 
sachen davon wie bei den Bürgern Roms oder den 
Jüngern Mohammeds himmelweit verschieden sind, 
bleiben sich in gewisser Rücksicht immer gleich und 
sind gewöhnlich mit dem Nachtheil oder wohl gar 
dem Verderben anderer Menschen verknüpft. Be 
geisterung für den vorgesetzten Zweck, Anstrengun 
gen jeder Art und Aufopferung ihn zu erreichen, 
gewaltsames Niedertreten eines jeden im Wege ste 
henden Gegenstandes, Selbstgefühl und Selbstver 
trauen, die mit jedem glücklichen Erfolge höher 
steigen, immer schwächerer Widerstand von Seiten 
der Gegner und zuletzt ihr völliges Ermatten. 
Diese Gegenstände in höherm oder geringerm 
Grade mit einander vermischt, geben uns das Ge 
mälde emporgestiegener Völker, worin folglich des 
halb immer ein gleichförmiges Colorit herrscht. 
Nicht so bei der Geschichte des sinkenden 
Volks: denn tausendfach ist der Weg zum Grabe, 
sehr mannigfaltig sind die Abweichungen von dem ge 
wöhnlichsten Pfade, die Hülfsmittel das Verderben 
aufzuhalten, oder ihm zu entgehn, das mannigfache 
Spiel der Leidenschaften, die gewaltsamen Anstren 
gungen zum Widerstände, das muthlose Hingeben 
in die Hand des eisernen Schicksals: alles dieses 
erzeugt eine größere Mannigfaltigkeit, und aus je 
der Begebenheit erwächst beinahe zugleich die 
Schlußfolge, daß sie bei ähnlicher Veranlassung 
entweder zu vermeiden oder nachzuahmen sey. 
Anziehend wird ans diesem Gesichtspunkte dis 
Geschichte Pohlens, des weiten Staats, der in 
unsern Tagen durch innere Uebel und durch unter 
lassene ThAlnehmuug an Fortschritten seiner Nach- 
barcn, ungeachtet seines Flächeninhalts, seines 
Ueber,lusses an den nothwendigsten Lebensbedürf 
nissen, und ungeachtet seiner zahlreichen und streit 
baren Bewohner, nach verhältnißmäßig höchst gerin 
gem. Widerstände völlig aufgelöst, die Beute seiner 
Nachbaren wurde. Die Uebel, welche dies veran 
laßten und den Staat völlig zu Grunde richteten, 
waren lange vorbereitet, und hatten zum Theil in 
den angezeigten Verhältnissen Pohlens zu seinen 
Nachbaren, mehr aber noch in der hierdurch ver 
anlagten Denkungsart und den innern Verhält 
nissen der ganzen Nation ihren Grund. Denn 
Pohlens Einwohner bestanden, wie bei allen Sla 
vische» Völkern, nur aus dem freien - Adel, den 
Herrschern, die ungeachtet des verschiedenen Na 
mens der Uojkwen, Gzupanen oder Sziacticicen, 
ihre Leibeigenen überall despotisch beherrschten. Zn 
allen Staaten Europens sank die Macht der Aristo- 
craten, und das Schicksal der Leibeigenen wurde 
nach dem Verhältniß gemildert, wie ein dritter 
Stand, der freie Bürger, sein Haupt emporhob 
und dem Monarchen ein Gegengewicht gegen den 
Feudal -Aristoerarismus verschaffte; in Pöhlen aber 
konnte der dritte Stand sich aus mancherlei Grün 
den nicht gehörig ausbilden. Denn der Leibeigene 
blieb, ohne daß wie in vielen andern Staaten, 
günstige Umstände seine Freilassung häufig besör- 
derceu, durch den Zwang seines Herrschers, und 
hätte auch in seiner Seele der Keim zu den größ 
ten Anlagen und Eigenschaften gelegen, als 
Sklave an den Boden gefesselt, und nichts von 
den ihn umgebenden Gegenständen konnte den 
schlummernden Funken erwecken. Der Adel blieb 
ganz ln seinem alten Zustande. Seitdem sich Poh 
lens Fürsten von Deutschlands Oberhcrrlchaft los 
gerissen hatten, und Deutschland an Pohlens An, 
gelegenheiten weniger Theil nahm, kam er durch 
seine Kriege in Süden und Osten nur mit Völkern 
die ihm an Cultur gleich waren, oder »ocb nach 
standen, in Verbindtmg, und nicht durch Umgang 
und Gieichhcit der Sprache für die herrschenden 
Zdeen des übrigen Europas erwärmt, nahm Poh 
len, das ohnehin jchvtt Ungläubige in feiner Nach 
barschaft zu bekämpfen harte, an den Kreuzzügen, 
die Europas ganze Gestalt in so hohem Grade 
umwandelten, beinahe gar keinen Antheil. Die 
Provinzialgesetze, die so sehr den Aristoceatismus 
und andere herrfthende Uebel begünstigten, und die 
bald das Deutjche Recht, welches in Pohlen Ein 
gang fand, so wichtig veränderten, waren zugleich 
dem Eingang und den Wirkungen des Römischen 
Rechts entgegen. Daher kam es, daß man Gesetz- 
kunde,^ nicht aber systematische Kenntnisse, richtige 
Begriffe, und mit philosophischem Geiste gemachte
	        
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