Path:
Volume Nro. 150, Montag den 28. Julius 1806

Full text: Der Freimüthige oder Ernst und Scherz (Public Domain) Issue4.1806 (Public Domain)

82 
weis von der Achtung vor der Stimme des Gewis 
sens und der allgemeinen Meinung, selbst bei den 
jenigen, die, gestützt auf die herkulische Keule des 
Rechte des Stärker», so lange sie leben, die erstere 
ju übertäuben, die letztere niederzutreten vermögen. 
Denn gleich einer rächenden Nemesis waltet das Ur 
theil der Nachwelt, das auch in Betreff dessen, der, 
so lange er lebte, vom Glücke begünstigt, jede seiner 
Leidenschaften zu befriedigen, jedem Tadel Schwei 
gen zu gebieten vermochte, wenn er einst kraftlos 
im Grabe liegt, lauter und sicherer, als jeder er 
kaufte Beifall, spricht, und die prahlenden Inschrif 
ten so mancher Monumente Lügen straft. Hierin 
hat die zum Theil empörende Härre den Grund, 
womit der Sieger, um das Urtheil der Nachwelt 
auf seine Seite zu lenken, den Charakter der Na 
tion, di« das Schicksal unter ihn beugte, zu ver 
kleinern strebt, die Mangel der Gebeugten, nicht 
durch das Zusammentreffen ungünstiger Umstände, 
ukcht durch ihre natürliche, politische und religiöse 
Verhältnisse, sondern einzig als unveränderliche Fol 
ge ihres Stumpfsinnes oder wohl gar ihrer Laster, 
darzustellen sucht; so wurde schon oft die ungroßmü- 
chige Absicht des Siegers erreicht, selbst die tröstli, 
che Theilnahme der Nachwelt denen, die ihm hier 
unterlagen, dadurch zu entrücken, daß er ihren Na- 
tionalcharacter angriff, ihre Mängel zur Schar! stellte, 
ihre Einsichten und Tugenden verkleinerte, um sie 
als eine geringere Gattung von Menschen darzustel 
len , die, weil sie auf einer niedrigern Stufe der 
Cultur stand, blos ein verdientes Schicksal erduldete. 
So behandelten bereits die Juden die Canaaniter, 
der Grieche den Perser, und Rom Carthago. Hakte 
es das Schicksal anders gewollt, wären die Besieg 
ten Sieger geworden, ihre Geschichtschreiber bis auf 
uns gekommen, so würden die Völker, die wir jetzt 
bewundern, uns wahrscheinlich in demjenigen nach- 
thciligen Lichte erscheinen, worin wir jetzt die Na, 
tioiren dargestellt erblicken, die im Kampfe mit dem 
Glücklichern oder Stärkern, der Uebermackt unter- 
lagen. Sehr lebhaft dringen sich diese Gedanken 
dem Geschichtschreiber auf, der ftei von Vorurtheil 
und Leidenschaft, die Geschichte des jetzt erloschenen 
Pohlens überblickt. Es wäre lächerlich, diesem Staate 
eine Standrede halten zu wollen; allein die Grün, 
de zu entwickeln, wodurch ihn sein Schicksal zum 
Abgrunde fortriß, und hiedurch zugleich den Bc>veis 
,u führen, daß sich der Charakter des Volks noth 
wendig auf diese Weise und nicht anders bilden 
konnte, scheint wahrlich dem Freunde der Geschichte 
und dem Beobachter des Menschen kein unwürdiges 
Geschäft zu seyn, und nur allein den richtigen Ge 
sichtspunkt zur Beurtheilung der Nation angeben 
zu können. » 
Pohlen vor seiner Zerstückelung, von den Deut 
schen, den Ungarn, Türken und Russen umgeben, 
von allen durch dle Sprache, den mchrcsten durch 
Religion, von manchen durch wechselseitigen Haß ge, 
trennt, wurde hiedurch außer Stand gesetzt, durch 
Umtausch der Ideen, Begriffe und Kenntnisse, den 
Geist seiner Einwohner zu beleben. Keine große 
Flüsse brachten den Staat mit Deutschland in Ver 
bindung. Die am Meere zu Pohlen gehörige Pro 
vinzen waren, wie Preußen und Liefland, durch 
Sprache und Religion, zum Theil Verfassung und 
Gesetze, vom Haupclande getrennt. Der Pohle, so 
oft im Handel von hieraus übervortheilt, wurde 
gegen alles, was ven daher kam, wie gegen eine 
neue Waare mißtrauisch, und konnte, selbst durch die 
natürliche Lage seines Landes blos auf Flußschiffahrt 
beschrankt, sich nicht über das Meer aus fremden 
Ländern Kenntnisse holen. Ungarns Staatsverfas 
sung, vormals der Polnischen gleich, schaffte deshalb 
auch den Pohlen keine neue Ansichten; sondern die 
Klagen und häufige Empörungen der Ungarn, seit 
dem sie das Haus Oestreich beherrschte, wurden 
vielmehr den Pohlen ein neirer Sporn, über eine 
Verfassung und Rechte zu wachen, die von den Vor 
fahren ererbt und gepriesen, wenigstens die Macht 
der Gewohnheit und ererbtes Vorurtheil heilig mach 
ten. Von den Türken, dem Erbfeinde der Christen, 
heit, gab cs in der Thar nur äußerst wenig zu er 
lernen oder nachzuahmen, und selbst vor dem We, 
nigen bebte der rechtgläubige Pohle, weil cs aus ei, 
ner, wie er glaubte, so unsauber» Quelle kam, fröm 
melnd zurück. Ueber die Russen dünkte sich der alte 
Pohle, als Sieger in der Fcldschlacht und Meister 
in der Kriegskunst, nicht mit Unrecht so lange er 
haben, bis Peter des Großen schöpferischer Geist je 
de schlummernde Kraft seines Volke« weckte, und 
nun den Pohlen unendlich überlegen wurde. Mör 
derische Kriege und wechselfeitigerReligionshaß hatten 
zwischen Pohlen und Russen einen Nationalhaß er 
zeugt, und von den letzter» seit dem Zeitalter Peter 
des Großen'völlig niederget'-ctcn, hinderte vieljährt- 
ger Groll und durch die Unterdrückung doppelt auf 
gereizte, wenn gleich jetzt ohnmächtige Wuth, dir 
Pohlen, Nachahmer der emporgestiegenen Russen zu 
werden; kein König Pohlens aber, gesetzt auch, daß 
er Peters allumfassenden Geist mit dessen rastloser 
Thätigkeit vereint besessen hätte, konnte mit ähnli 
cher Kraft auf Pohlen wirken, weil dessen äußerst 
beschränkten Königen gerade hiedurch die Energie 
des uneingeschränkten Alleinherrschers fehlte. 
So standen die Pohlen isolier unter EuropeuS 
übrigen Völkern, und blieben, indeß diese alle zur 
Cultur fortschritten, in Betreff derselben, beinahe 
völlig zurück: und sehr natürlich ist daher die Fra
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.