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weis von der Achtung vor der Stimme des Gewis
sens und der allgemeinen Meinung, selbst bei den
jenigen, die, gestützt auf die herkulische Keule des
Rechte des Stärker», so lange sie leben, die erstere
ju übertäuben, die letztere niederzutreten vermögen.
Denn gleich einer rächenden Nemesis waltet das Ur
theil der Nachwelt, das auch in Betreff dessen, der,
so lange er lebte, vom Glücke begünstigt, jede seiner
Leidenschaften zu befriedigen, jedem Tadel Schwei
gen zu gebieten vermochte, wenn er einst kraftlos
im Grabe liegt, lauter und sicherer, als jeder er
kaufte Beifall, spricht, und die prahlenden Inschrif
ten so mancher Monumente Lügen straft. Hierin
hat die zum Theil empörende Härre den Grund,
womit der Sieger, um das Urtheil der Nachwelt
auf seine Seite zu lenken, den Charakter der Na
tion, di« das Schicksal unter ihn beugte, zu ver
kleinern strebt, die Mangel der Gebeugten, nicht
durch das Zusammentreffen ungünstiger Umstände,
ukcht durch ihre natürliche, politische und religiöse
Verhältnisse, sondern einzig als unveränderliche Fol
ge ihres Stumpfsinnes oder wohl gar ihrer Laster,
darzustellen sucht; so wurde schon oft die ungroßmü-
chige Absicht des Siegers erreicht, selbst die tröstli,
che Theilnahme der Nachwelt denen, die ihm hier
unterlagen, dadurch zu entrücken, daß er ihren Na-
tionalcharacter angriff, ihre Mängel zur Schar! stellte,
ihre Einsichten und Tugenden verkleinerte, um sie
als eine geringere Gattung von Menschen darzustel
len , die, weil sie auf einer niedrigern Stufe der
Cultur stand, blos ein verdientes Schicksal erduldete.
So behandelten bereits die Juden die Canaaniter,
der Grieche den Perser, und Rom Carthago. Hakte
es das Schicksal anders gewollt, wären die Besieg
ten Sieger geworden, ihre Geschichtschreiber bis auf
uns gekommen, so würden die Völker, die wir jetzt
bewundern, uns wahrscheinlich in demjenigen nach-
thciligen Lichte erscheinen, worin wir jetzt die Na,
tioiren dargestellt erblicken, die im Kampfe mit dem
Glücklichern oder Stärkern, der Uebermackt unter-
lagen. Sehr lebhaft dringen sich diese Gedanken
dem Geschichtschreiber auf, der ftei von Vorurtheil
und Leidenschaft, die Geschichte des jetzt erloschenen
Pohlens überblickt. Es wäre lächerlich, diesem Staate
eine Standrede halten zu wollen; allein die Grün,
de zu entwickeln, wodurch ihn sein Schicksal zum
Abgrunde fortriß, und hiedurch zugleich den Bc>veis
,u führen, daß sich der Charakter des Volks noth
wendig auf diese Weise und nicht anders bilden
konnte, scheint wahrlich dem Freunde der Geschichte
und dem Beobachter des Menschen kein unwürdiges
Geschäft zu seyn, und nur allein den richtigen Ge
sichtspunkt zur Beurtheilung der Nation angeben
zu können. »
Pohlen vor seiner Zerstückelung, von den Deut
schen, den Ungarn, Türken und Russen umgeben,
von allen durch dle Sprache, den mchrcsten durch
Religion, von manchen durch wechselseitigen Haß ge,
trennt, wurde hiedurch außer Stand gesetzt, durch
Umtausch der Ideen, Begriffe und Kenntnisse, den
Geist seiner Einwohner zu beleben. Keine große
Flüsse brachten den Staat mit Deutschland in Ver
bindung. Die am Meere zu Pohlen gehörige Pro
vinzen waren, wie Preußen und Liefland, durch
Sprache und Religion, zum Theil Verfassung und
Gesetze, vom Haupclande getrennt. Der Pohle, so
oft im Handel von hieraus übervortheilt, wurde
gegen alles, was ven daher kam, wie gegen eine
neue Waare mißtrauisch, und konnte, selbst durch die
natürliche Lage seines Landes blos auf Flußschiffahrt
beschrankt, sich nicht über das Meer aus fremden
Ländern Kenntnisse holen. Ungarns Staatsverfas
sung, vormals der Polnischen gleich, schaffte deshalb
auch den Pohlen keine neue Ansichten; sondern die
Klagen und häufige Empörungen der Ungarn, seit
dem sie das Haus Oestreich beherrschte, wurden
vielmehr den Pohlen ein neirer Sporn, über eine
Verfassung und Rechte zu wachen, die von den Vor
fahren ererbt und gepriesen, wenigstens die Macht
der Gewohnheit und ererbtes Vorurtheil heilig mach
ten. Von den Türken, dem Erbfeinde der Christen,
heit, gab cs in der Thar nur äußerst wenig zu er
lernen oder nachzuahmen, und selbst vor dem We,
nigen bebte der rechtgläubige Pohle, weil cs aus ei,
ner, wie er glaubte, so unsauber» Quelle kam, fröm
melnd zurück. Ueber die Russen dünkte sich der alte
Pohle, als Sieger in der Fcldschlacht und Meister
in der Kriegskunst, nicht mit Unrecht so lange er
haben, bis Peter des Großen schöpferischer Geist je
de schlummernde Kraft seines Volke« weckte, und
nun den Pohlen unendlich überlegen wurde. Mör
derische Kriege und wechselfeitigerReligionshaß hatten
zwischen Pohlen und Russen einen Nationalhaß er
zeugt, und von den letzter» seit dem Zeitalter Peter
des Großen'völlig niederget'-ctcn, hinderte vieljährt-
ger Groll und durch die Unterdrückung doppelt auf
gereizte, wenn gleich jetzt ohnmächtige Wuth, dir
Pohlen, Nachahmer der emporgestiegenen Russen zu
werden; kein König Pohlens aber, gesetzt auch, daß
er Peters allumfassenden Geist mit dessen rastloser
Thätigkeit vereint besessen hätte, konnte mit ähnli
cher Kraft auf Pohlen wirken, weil dessen äußerst
beschränkten Königen gerade hiedurch die Energie
des uneingeschränkten Alleinherrschers fehlte.
So standen die Pohlen isolier unter EuropeuS
übrigen Völkern, und blieben, indeß diese alle zur
Cultur fortschritten, in Betreff derselben, beinahe
völlig zurück: und sehr natürlich ist daher die Fra