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Volume Nro. 165., Sonnabend den 18. August

Full text: Der Freimüthige oder Ernst und Scherz (Public Domain) Issue2.1804 (Public Domain)

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und macht ihn abhängig von Umständen; Allgewalt 
führt unmittelbar zum Zweck und löset jeden Knoten. 
Auch die Götter mußten sich beugen unter einer 
höheren Ordnung, dem Schicksal; ste konnten ihre 
Einsicht und Stärke brauchen, aber der Erfolg ward 
befördert oder gehenimt durch daö Gesetz eines dunk- 
len Fatums. Dies Fatum ist für die Neueren nicht 
mehr im Volksglauben vorhanden; an dessen Stelle 
trat in den Abendländern der Wille eines unsichtba 
re» Herrschers der Welt, und eine moralische Bezie 
hung des Menschen auf Len Unsichtbaren. Es er 
scheint deutlicher die Freiheit dev Handelnden, und 
als Folge seiner Schuld oder Unschuld, das Maaß der 
Furcht oder Hoffnung für die Zukunft. Eine solche 
reiigiöse Ueberzeugung muß den Helden der Bühne, 
wenn sie Wahrheit des wirklichen Gebens an sich 
tragen sollen, einen eigenthünilichen Charakter mit 
theilen; Las Große ihrer Gesinnungeii und Thaten 
muß sich mehr oder weniger durch ihre Religion 
modificiren. Wenn auch die Gewalt der Unistände, 
denen die menschliche Kraft unterliegt, sich empirisch 
als ein Schicksal darstellt; so kann doch dieses Schick 
sal nicht das Höchste seyn, welches die Handelnden 
im Auge haben, sondern der Allmächtige, der viel 
leicht nickt in der Gegenwart, doch in der Zukunft, 
die menschlichen Thaten nach ihrem sittrlichen Werthe 
auögleichk. Sollte die Herrschaft des Schicksals mit 
dem Orakelspiel der Götter wieder auf die neuere 
Bühne gebracht werden; so müßte man, um nicht 
gegen die Wahrheit zu sündigen, vorher den Glau 
ben daran in dem Herzen der Nationen wiederher 
stellen. Was dabei für tragische Kunst gewonnen ') 
würde, läßt sich schwer einsehen; denn die mensch 
liche Schwäche und physische Abhängigkeit muß sich 
in jeder tragischen Begebenheit deutlich genug offen 
baren, die Größe und Erhabenheit de» Geistes aber 
verliert gewiß nicht durch das Vertrauen auf einen 
unsichtbaren Geist, und den Glauben, an seine All 
macht und Nähe. 
Resultat dieser Bemerkungen wäre: Aus dem 
Herzen der Nation muß dag Drama hervorgehen, 
wenn ce auf Herzen wirken soll. Nicht die todte 
Regel, nicht der überlegende Verstand ist die Ge- 
burtsstätte der Wirkung eines Kunstwerks, sondern 
die lebendige Welt, in deren mannigfaltigem Spiele 
sich der einzelne Mensch bewegt, worin schon der 
jugendliche Sinn sich gebildet, und dessen Gestalten 
der Ernst des Erwachsenen in der Erinnerung be 
wahrt. Alle Dichtkunst, und folglich auch alle Tra- 
■*) JInni. Ader verloren werden konnte, in diückncht 
«uf wahr- Enstes- Cultur sehr viel. D. R. 
gödie wird die Farbe der Zeit tragen kn der sie ent 
sprang; sie wird begleitet seyn von einer Menge 
Individualitäten und Lokalitäten, wie der Mensch 
im Leben selbst von diesen Besonderheiten begleitet ist. 
Weit entfernt, daß diese Beimischung dem Kunst 
werke zum Nachtheil gereiche, wird es ihm in Ge 
gentheil seinen wahren Werth und seine wahren 
Kraft sichern, wenn anders überhaupt ein großer 
Geist in demselben athmet, und der Künstler nicht 
bloß ein Nacherzähler von Alltags-Begebenheiten ist. 
Das Griechische Trauerspiel, dessen Gesetz man zum 
Theil allen tragischen Bühnen überhaupt aufdringen 
will, ist ganz auf Griechischem Boden erwüchsen, 
und trägt bei aller seiner Hoheit die deutlichen Spu 
ren seine« Werdens. Ehe das Menschengeschlecht 
aus verschiedenen Nationen mit einer verschiedenen 
Denkungsweise, mit verschiedenen Sitten, eigen 
thümlichem Glauben, unterscheidender Geschichte, in 
ein Volk zusammenschmilzt, dem auch zufolge dieser 
Amalgamanon, Geschichte, Sitten, Glaube, Eins 
werden müßten mit einer etwanigen Universalsprache: 
ehe giebt es keine Menschen ohne Vaterland, und 
keine wahre Gestalten der Bühne ohne Individuali 
tät der Zeit und des Ortes. 
Unsre moderne Tragödie kann demnach keine 
Griechische Tragödie seyn. Die ganze Lage der Welt, 
alle Verfassungen und Sitten einzelner Staaten 
haben sich umgewandelt, und nicht einmal stufenweise 
fortschreitend in der Zeit, sondern durch einen Sprung, 
mit welchem alle Observanz und Tradition der Vor 
welt auf der Bühne untergegangen ist. Unter den 
Römern bildete sich kein nationelleö Trauerspiel; das 
Volk, dessen Geschichte so reich war an tragischen 
Handlungen, ist arm geblieben an tragischen Dich 
tern; die Wirklichkeit war in diesem Volke vorherr 
schend, sein idealischer Schwung war meistens bloßer 
Nachhall der Griechen. Nachdem aber auch jene 
Reste eines frühern Kunstgeistcs in sich selbst zusam 
men sanken; und durch die gewaltsame Hand nordi 
scher Völker zerstört wurden, mußte aus der Barba 
rei eine neue Kunstepoche hervorgehen. Die moderne 
Bühne mag einem Originalwerk verglichen werden, 
in welchen manches vielleicht minder glücklich, das 
Ganze aber aus eigner Schöpfung gebildet ist. 
Die Trauerspiele der neuern europäischen Natio 
nen haben, verglichen unter sich selbst, »inen eigen 
thümlichen Charakter, unterscheiden sich aber insge 
sammt specifisch von der Griechischen Tragödie. Die 
Griechen nahmen den Gegenstand ihres Schauspiels 
aus der Geschichte ihres eignen Volks, wir Neueren 
benutzen die Geschichte aller Völker: jene hatten keine 
Beobachtung des Kostümes und der Sitten des Zeit-
	        
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