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und macht ihn abhängig von Umständen; Allgewalt
führt unmittelbar zum Zweck und löset jeden Knoten.
Auch die Götter mußten sich beugen unter einer
höheren Ordnung, dem Schicksal; ste konnten ihre
Einsicht und Stärke brauchen, aber der Erfolg ward
befördert oder gehenimt durch daö Gesetz eines dunk-
len Fatums. Dies Fatum ist für die Neueren nicht
mehr im Volksglauben vorhanden; an dessen Stelle
trat in den Abendländern der Wille eines unsichtba
re» Herrschers der Welt, und eine moralische Bezie
hung des Menschen auf Len Unsichtbaren. Es er
scheint deutlicher die Freiheit dev Handelnden, und
als Folge seiner Schuld oder Unschuld, das Maaß der
Furcht oder Hoffnung für die Zukunft. Eine solche
reiigiöse Ueberzeugung muß den Helden der Bühne,
wenn sie Wahrheit des wirklichen Gebens an sich
tragen sollen, einen eigenthünilichen Charakter mit
theilen; Las Große ihrer Gesinnungeii und Thaten
muß sich mehr oder weniger durch ihre Religion
modificiren. Wenn auch die Gewalt der Unistände,
denen die menschliche Kraft unterliegt, sich empirisch
als ein Schicksal darstellt; so kann doch dieses Schick
sal nicht das Höchste seyn, welches die Handelnden
im Auge haben, sondern der Allmächtige, der viel
leicht nickt in der Gegenwart, doch in der Zukunft,
die menschlichen Thaten nach ihrem sittrlichen Werthe
auögleichk. Sollte die Herrschaft des Schicksals mit
dem Orakelspiel der Götter wieder auf die neuere
Bühne gebracht werden; so müßte man, um nicht
gegen die Wahrheit zu sündigen, vorher den Glau
ben daran in dem Herzen der Nationen wiederher
stellen. Was dabei für tragische Kunst gewonnen ')
würde, läßt sich schwer einsehen; denn die mensch
liche Schwäche und physische Abhängigkeit muß sich
in jeder tragischen Begebenheit deutlich genug offen
baren, die Größe und Erhabenheit de» Geistes aber
verliert gewiß nicht durch das Vertrauen auf einen
unsichtbaren Geist, und den Glauben, an seine All
macht und Nähe.
Resultat dieser Bemerkungen wäre: Aus dem
Herzen der Nation muß dag Drama hervorgehen,
wenn ce auf Herzen wirken soll. Nicht die todte
Regel, nicht der überlegende Verstand ist die Ge-
burtsstätte der Wirkung eines Kunstwerks, sondern
die lebendige Welt, in deren mannigfaltigem Spiele
sich der einzelne Mensch bewegt, worin schon der
jugendliche Sinn sich gebildet, und dessen Gestalten
der Ernst des Erwachsenen in der Erinnerung be
wahrt. Alle Dichtkunst, und folglich auch alle Tra-
■*) JInni. Ader verloren werden konnte, in diückncht
«uf wahr- Enstes- Cultur sehr viel. D. R.
gödie wird die Farbe der Zeit tragen kn der sie ent
sprang; sie wird begleitet seyn von einer Menge
Individualitäten und Lokalitäten, wie der Mensch
im Leben selbst von diesen Besonderheiten begleitet ist.
Weit entfernt, daß diese Beimischung dem Kunst
werke zum Nachtheil gereiche, wird es ihm in Ge
gentheil seinen wahren Werth und seine wahren
Kraft sichern, wenn anders überhaupt ein großer
Geist in demselben athmet, und der Künstler nicht
bloß ein Nacherzähler von Alltags-Begebenheiten ist.
Das Griechische Trauerspiel, dessen Gesetz man zum
Theil allen tragischen Bühnen überhaupt aufdringen
will, ist ganz auf Griechischem Boden erwüchsen,
und trägt bei aller seiner Hoheit die deutlichen Spu
ren seine« Werdens. Ehe das Menschengeschlecht
aus verschiedenen Nationen mit einer verschiedenen
Denkungsweise, mit verschiedenen Sitten, eigen
thümlichem Glauben, unterscheidender Geschichte, in
ein Volk zusammenschmilzt, dem auch zufolge dieser
Amalgamanon, Geschichte, Sitten, Glaube, Eins
werden müßten mit einer etwanigen Universalsprache:
ehe giebt es keine Menschen ohne Vaterland, und
keine wahre Gestalten der Bühne ohne Individuali
tät der Zeit und des Ortes.
Unsre moderne Tragödie kann demnach keine
Griechische Tragödie seyn. Die ganze Lage der Welt,
alle Verfassungen und Sitten einzelner Staaten
haben sich umgewandelt, und nicht einmal stufenweise
fortschreitend in der Zeit, sondern durch einen Sprung,
mit welchem alle Observanz und Tradition der Vor
welt auf der Bühne untergegangen ist. Unter den
Römern bildete sich kein nationelleö Trauerspiel; das
Volk, dessen Geschichte so reich war an tragischen
Handlungen, ist arm geblieben an tragischen Dich
tern; die Wirklichkeit war in diesem Volke vorherr
schend, sein idealischer Schwung war meistens bloßer
Nachhall der Griechen. Nachdem aber auch jene
Reste eines frühern Kunstgeistcs in sich selbst zusam
men sanken; und durch die gewaltsame Hand nordi
scher Völker zerstört wurden, mußte aus der Barba
rei eine neue Kunstepoche hervorgehen. Die moderne
Bühne mag einem Originalwerk verglichen werden,
in welchen manches vielleicht minder glücklich, das
Ganze aber aus eigner Schöpfung gebildet ist.
Die Trauerspiele der neuern europäischen Natio
nen haben, verglichen unter sich selbst, »inen eigen
thümlichen Charakter, unterscheiden sich aber insge
sammt specifisch von der Griechischen Tragödie. Die
Griechen nahmen den Gegenstand ihres Schauspiels
aus der Geschichte ihres eignen Volks, wir Neueren
benutzen die Geschichte aller Völker: jene hatten keine
Beobachtung des Kostümes und der Sitten des Zeit-