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Volume Nro. 136., Montag den 9. July

Full text: Der Freimüthige oder Ernst und Scherz (Public Domain) Issue2.1804 (Public Domain)

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pfangen soll, gern überhoben wäre, aber sich ihr 
gleichwohl unterwirft, weil es weiß, daß Papa und 
Mama es lieb haben, und daß es — die Tafte nicht 
hätte zerbrechen sollen. Umsonst wendet der Dichter 
alle Kraft seines wirklich sehr großen Talente auf, 
die einzelnen Momente, die einzelnen Regungen 
schön auszudrücken: nichts erhebt seine Charaktere 
über die Winzigkeit, zu der sie das Schicksal herab- 
Lrückt. Sobald der Knecht Ruprecht aufgetreten ist, 
so ist alles, was vor ihm zu Winkel kriecht, Kind, 
sollt' es auch einen Bart haben. 
Doch genug des Tadels. Ich fühle, daß ich, 
bloß aus Verdruß darüber, Herrn Collin fein Ta 
lent so mißbrauchen zu sehen, bitter werde. Kein 
Wort also mehr über die Fehler des Stücks: jetzt 
von seinen Vorzügen,, deren cs in Rücksicht auf das 
Detail sehr viel hat. 
Es hat mehrere Momente, die vortrefflich, bald 
erschütternd, bald sehr rührend, sind. Dahin gehört 
zum Beispiel jener, in weichem Kalchas seinen Traum 
erzählt, und sich dieser vor den Augen der Hören 
den realisirt; dahin die Scene, in welcher Polyxena 
dem vor Liebe glühenden Neoptolem erklärt, sie 
liebe nur seinen Vater; er werde, selbst wenn er sie 
zwinge, seine Gattin zu werden, noch im Elysium 
sie nur jenen allein lieben sehn, ihr in weiter Ent 
fernung ■ durch die Lustgefilde folgen; dahin gehört 
ferner die Scene, in welcher Kaftandra sie zum Tode 
bereitet. 
Auch ist die Wallung der Gefühle vorzüglich 
im Gemüthe Polyxena's und Kassandra's, hinreißend 
zart und schön ausgedrückt. In dieser Rücksicht steht 
Collin keinem andern unsrer Dichter nach, — nur 
Schade, daß durchaus im Stücke nur Wallun 
gen, nicht wirksame Ausbrüche und Stürme der Lei 
denschaft Statt finden konnten. 
Die Diktion ist durchaus rein, edel, nicht sel 
ten erhaben; — das Fortströmen der Verse, vorzüg 
lich in den lvrischen Reden Kaftandra'S, voll bezau 
bernden Wohlklanges, und der Gang der Gedanken 
echt lyrisch. Doch alle diese Schönheiten eignen das 
Werk mehr zum Lesen, als zum Aufführen. Zu dem 
ersten empfeh!' ich es mit Warme; — auf der 
Dü hne kann es kein Glück machen, denn es hat 
nur' für die Phantasie Leben, nicht für die Dar 
stellung. 
Die Form des Ganzen ist Schiller'« Nachah 
mung der Alken nachgeahnit. Auch Collin laßt in 
den meisten Scenen die Rede' aus dem jambischen 
Maaße in lyrische Versmaaße übergehen. Auch be 
st!, ließt er jeden Akt (die Benennung: Abtheilung, 
ist eine Spielerei,) nnt Chören, *) die, ohne daß 
der Vorhang sinkt, am Schiulfe jedes Aktes gesun 
gen werden sollen. Diese Idee (sie wurde auch 
schon im Freimüthigen, wo ich nicht irre, von Hrn. 
Schreibern, aufgestellt,) scheint mir glücklich für 
Stücke dieser Art, in denen im Grunde keine Hand 
lung ist, und die für uns ins Reich der Wundermähr- 
chen gehören: sonst aber möcht'es wohl befter seyn, s« 
oft ein Ruhepunkt in der Handlung eintritt, die idea- 
tische Welt, die wir vor unö in Handlung sehn, durch 
das Niedersinken des Vorhanges ganz verschwinden, 
als in derselben etwas vorgehen zu lassen, daß mit 
dem Uebrigen beinah eben so wenig zusammenhängt, 
als diese Welt selbst mit der unsrigen. 
G.M. 
Der moralische Krämer. 
Eine wahre Geschichte. 
err Falsing ein ehemals sehr berühmter Kauf 
mann und Spekulant in Z, war durch verschiedene 
Unglücksfällc ganz heruntergekommen. Indeß, es 
leben die guten Köpfe! — Sie bahnen sich allenthal 
ben, und unter allen Umständen neue Wege! Herr 
Falsing hatte in seinem Laden nur noch einen unbe 
trächtlichen Uebei'rest öfter,,lahmer Schecren, verrostete 
Degen, und Biegeleisen, Haarnadeln, Schachteln, 
Dosen, u. s. w. Einst, als er trübselig zwischen al 
len diesen Raritäten stand, fuhr er auf einmal wie 
begeistert auf. „Ha! rief der philosophische Handels- 
mann: — ist nicht die Welt ein große» Puppen spiel? 
Lauter Possen, zehnmal unbedeutender wie diese um 
mich her, werden geiucht, geschätzt, — angebetet; — 
alles dreht sich zur Posse, und selbst die ernsthafteste 
Sache von der Welt wird dazu gemacht. Wohlan, — 
ich will diesen Possen - Geist des Zeitalters beuutzeo, — 
ich will ein geschmackvoller Moralist werden, und in 
kurzer Zeit die ganze elegante Welt vor meinen La 
den zaubern!" — 
Gesagt, gethan! Bald ward Herr Falsing unter 
dem Namen des moralischen Krämers das Gerede 
der ganzen Stadt. Ein Fremder, der nicht in Fal- 
sings Bude gewesen war, wurde dem gleich gehalten, 
der nicht in Rom dem Pabst die Sohlenspitze geküßt 
• ) Schill» rilgt tu seiner Vorrede >nr Braut von Meß 
stna bin», daß man bei der Tragödie »o, Chöre» spreche, 
ii. s. w. Jemand har im Freimüthigen aufmerksam gemacht, 
daß Schiller s,ch selbst diese« Ausdruck« bedient habe. Da« 
war eigentlich «berstuM. Schiller« Rüge bewies nur, daß — 
Aerger in sein» Seele sey, daher schwieg derjenige, ge 
gen den ste eigentlich gerichtet war. Der Chor lg die tdeal»- 
sche Person dcr alten Tragödie, der Todte, den Schiller oer- 
gcbcn« persuchre wandeln zu machen. „ Die Chöre, " ist die 
kürzeste und ».»sciidste Benennung der Reden, welche die äit»-- 
th ilungen de« Chor« wechseln.
	        
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