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Volume Nro. 46., Montag den 5. März

Full text: Der Freimüthige oder Ernst und Scherz (Public Domain) Issue2.1804 (Public Domain)

Dieses Eindringen in das Gebiet der Kunst, und 
die dadurch erlangte Kenntniß von den Gegenständen 
derselben, verträgt sich jedcch eben so wohl mit einem 
geläuterten und gebildeten Geschmack, als mit Ver 
bildung und Ungeschmack, je nachdem die ästhetischen 
Ideen mit jener der Natur eigenthümlichen edlen 
Simplicität und Erhabenheit, von einem ächtgeniali 
schen Schriftsteller dargestellt, oder von einem Usur 
pator und Parteigänger in der Literatur verunstaltet, 
unter der großen Menge in Umlauf gebracht wurden. 
Man denke nur an das Unwesen, welches Lucinde, 
Rinaldini, und ähnliche Schriften, in den Köpfen 
und Herzen unserer Zeitgenossen getrieben haben! — 
Um uns nun vor allem Ungeschmack zu bewah 
ren, müssen wir von richtiger Kenntniß der Natur 
ausgehen, und ihre Gesetze auf die Beurtheilung der 
Werke der Kunst übertragen. 
Weil jedoch die Natur nicht jedem Menschen ihr 
inneres Heiligthum im gleichen Grade offenbaret, 
so ist auch nicht jeder gleich geschickt, in das 
Gebiet der Kunst, als ihrer Nachahmerin, einzu 
dringen. — Die größere Hälfte der Freunde der 
Kunst beschränkt sich auf den Genuß und die Beur 
theilung der schon gegebenen Kunstwerke, indem nur 
wenige Menschen fähig sind, selbst etwas hervorzu 
bringen, was auf dem Probiersteine der Kritik in 
jeder Rücksicht die Probe hält. Wir können mithin 
die Freunde der ächten Kunst füglich in zwei Haupt 
parteien eintheilen: in die blos receptive, und in 
die zugleich produktive. Der erstem schreiben wir, 
nach den verschiedenen Graden der Deutlichkeit der 
Anschauungen, und der ästhetischen Ideen, Kunst- 
geschmack und Kunstsinn, der andern Klaffe 
aber, nach Verhältniß der großem Regsamkeit des 
Gefühls unh der schöpferischen Phantasie, oder des re- 
stektirendenVerstandes, Kunstgenie und Kunst- — 
oder nach dem gewöhnlichen Sprachgebrauch, Künst 
lertalent zu. 
E« lassen sich aber auch diese verschiedne Grade 
des Interesse an den Gegenständen der Kunst, und 
diese Aeußerungen de« Kunstgefühls, den vier Haupt- 
momenten der Kategorieen unterordnen, und dann 
folgendermaßen rnbriciren. 
Wenn ein, durch natürliches Gefühl für jedes 
Gute und Schöne, zu einem reinen Interesse an 
den Gegenständen der Kunst hingeleitetes Gemükh- 
daü an einem ästhetischen Kunstwerke befindlich« 
Schöne mit reinem Sinne wahrnimmt und auffaßt, 
ohne durch den Antheil, den die Sinnlichkeit an dem 
Genusse desselben genommen hat, bestochen, und 
zu einem schiefen Urtheile darüber verleitet zu seyn; 
wenn cs seinen Gegenstand von allen Seiten betrach 
tet, und durch keine noch so blendende Schönheit 
desselben hingerissen, das Fehlerhafte an demselben 
übersieht, oder leichtsinnig darüber wegschlüpft; wenn 
eö das Wesentliche von dem Zufälligen, die Hülle 
von dem Kern, die Materie von der Form und Ein 
kleidung sondert, und jeden einzelnen Zug mit dem 
Plane und Zwecke des Gegenstandes in Verbindung 
denkt; wenn es dann alles sorgfältig wägt, und sich 
tet, und das Unpassende und der Schönheit des Gan 
zen Widerstreitende, in seinein Denken von dem zu 
betrachtenden Kunstprodukte scheidet; so sagt man, 
„der Mensch besitzt Kunstgeschmack." Ein sol 
ches Betrachten, Auseinandersetzen und Beurtheilen 
ästhetischer Kunstprodukte nach den logischen Gesetzen 
der Quantität, indem man das Ganze nach seinem 
wahren Gehalte und Umfange würdigt, und nur 
das als schön und vortrefflich sich verstattet, was 
nach den unwandelbaren Gesetzen der Natur geformt, 
auf die Betrachtung der Natur gegründet, und aus 
einer, durch die heilige Regel, der Anmuth und 
Schönheit geleiteten freien Stimmung hes Geiste« 
entsprungen war: ist also ein Akt des geläuterten 
Kunstgeschmack«. 
Dieser ächte Kunstgeschmack muß jedoch nicht 
nothwendig mit einer genauen und vollständigen 
Kenntniß der Regeln der Kunst verbunden seyn. Er 
ist vielmehr so genau und innig in das gesammte 
Denk-und Empfindungsveiinögen des Menschen ver 
webt, daß er sich auch unwillkührlich und absichtslos, 
in jeder zur Natürlichkeit gestimmten Seele ankündi 
get, und im traulichen Deisamniensein, in dem hei 
ligen Moment des reingeistigen Genusses, auch der 
gleichgestimmten Seele offenbaret und mittheilt. Denn, 
wie Schiller sagt: 
„Nicht dcr Masse qualvoll abgerungen, — 
„Schlank und leicht, wie aus dem Nichts gesprungen, 
„Steht das Bild vor dem entzückten Blick." 
Von leiser Berührung der verwandten Idee 
oder Empfindung, erzittern die zarten Saiten des 
Herzens; die Seelen schließen sich sympathetisch an 
einander, und eine Einmalige geistvolle Unterhaltung 
im Umgänge mit einem gebildeten Menschen, macht 
oft für das ganze Leben einen dlcibcndern Eindruck 
auf uns, als die längste Bekanntschaft mit einem ge 
wöhnlichen Menschen. — Woher diese nähere Be 
rührung der Geister? . . . Woher anders, als aus 
dem Gedanken an eine gemeinschaftliche Quelle des 
reingeistigen Lebensgenusses? — 
So wird dieser geläuterte Kunstgeschmack ein 
sehr zweckmäßiges Beförderungsmittel dcr edlen Ge 
selligkeit und der Humanität, und, indem dadurch 
zugleich die sittlichen Urtheile berichtiget, die Gefühle
	        
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