Dieses Eindringen in das Gebiet der Kunst, und
die dadurch erlangte Kenntniß von den Gegenständen
derselben, verträgt sich jedcch eben so wohl mit einem
geläuterten und gebildeten Geschmack, als mit Ver
bildung und Ungeschmack, je nachdem die ästhetischen
Ideen mit jener der Natur eigenthümlichen edlen
Simplicität und Erhabenheit, von einem ächtgeniali
schen Schriftsteller dargestellt, oder von einem Usur
pator und Parteigänger in der Literatur verunstaltet,
unter der großen Menge in Umlauf gebracht wurden.
Man denke nur an das Unwesen, welches Lucinde,
Rinaldini, und ähnliche Schriften, in den Köpfen
und Herzen unserer Zeitgenossen getrieben haben! —
Um uns nun vor allem Ungeschmack zu bewah
ren, müssen wir von richtiger Kenntniß der Natur
ausgehen, und ihre Gesetze auf die Beurtheilung der
Werke der Kunst übertragen.
Weil jedoch die Natur nicht jedem Menschen ihr
inneres Heiligthum im gleichen Grade offenbaret,
so ist auch nicht jeder gleich geschickt, in das
Gebiet der Kunst, als ihrer Nachahmerin, einzu
dringen. — Die größere Hälfte der Freunde der
Kunst beschränkt sich auf den Genuß und die Beur
theilung der schon gegebenen Kunstwerke, indem nur
wenige Menschen fähig sind, selbst etwas hervorzu
bringen, was auf dem Probiersteine der Kritik in
jeder Rücksicht die Probe hält. Wir können mithin
die Freunde der ächten Kunst füglich in zwei Haupt
parteien eintheilen: in die blos receptive, und in
die zugleich produktive. Der erstem schreiben wir,
nach den verschiedenen Graden der Deutlichkeit der
Anschauungen, und der ästhetischen Ideen, Kunst-
geschmack und Kunstsinn, der andern Klaffe
aber, nach Verhältniß der großem Regsamkeit des
Gefühls unh der schöpferischen Phantasie, oder des re-
stektirendenVerstandes, Kunstgenie und Kunst- —
oder nach dem gewöhnlichen Sprachgebrauch, Künst
lertalent zu.
E« lassen sich aber auch diese verschiedne Grade
des Interesse an den Gegenständen der Kunst, und
diese Aeußerungen de« Kunstgefühls, den vier Haupt-
momenten der Kategorieen unterordnen, und dann
folgendermaßen rnbriciren.
Wenn ein, durch natürliches Gefühl für jedes
Gute und Schöne, zu einem reinen Interesse an
den Gegenständen der Kunst hingeleitetes Gemükh-
daü an einem ästhetischen Kunstwerke befindlich«
Schöne mit reinem Sinne wahrnimmt und auffaßt,
ohne durch den Antheil, den die Sinnlichkeit an dem
Genusse desselben genommen hat, bestochen, und
zu einem schiefen Urtheile darüber verleitet zu seyn;
wenn cs seinen Gegenstand von allen Seiten betrach
tet, und durch keine noch so blendende Schönheit
desselben hingerissen, das Fehlerhafte an demselben
übersieht, oder leichtsinnig darüber wegschlüpft; wenn
eö das Wesentliche von dem Zufälligen, die Hülle
von dem Kern, die Materie von der Form und Ein
kleidung sondert, und jeden einzelnen Zug mit dem
Plane und Zwecke des Gegenstandes in Verbindung
denkt; wenn es dann alles sorgfältig wägt, und sich
tet, und das Unpassende und der Schönheit des Gan
zen Widerstreitende, in seinein Denken von dem zu
betrachtenden Kunstprodukte scheidet; so sagt man,
„der Mensch besitzt Kunstgeschmack." Ein sol
ches Betrachten, Auseinandersetzen und Beurtheilen
ästhetischer Kunstprodukte nach den logischen Gesetzen
der Quantität, indem man das Ganze nach seinem
wahren Gehalte und Umfange würdigt, und nur
das als schön und vortrefflich sich verstattet, was
nach den unwandelbaren Gesetzen der Natur geformt,
auf die Betrachtung der Natur gegründet, und aus
einer, durch die heilige Regel, der Anmuth und
Schönheit geleiteten freien Stimmung hes Geiste«
entsprungen war: ist also ein Akt des geläuterten
Kunstgeschmack«.
Dieser ächte Kunstgeschmack muß jedoch nicht
nothwendig mit einer genauen und vollständigen
Kenntniß der Regeln der Kunst verbunden seyn. Er
ist vielmehr so genau und innig in das gesammte
Denk-und Empfindungsveiinögen des Menschen ver
webt, daß er sich auch unwillkührlich und absichtslos,
in jeder zur Natürlichkeit gestimmten Seele ankündi
get, und im traulichen Deisamniensein, in dem hei
ligen Moment des reingeistigen Genusses, auch der
gleichgestimmten Seele offenbaret und mittheilt. Denn,
wie Schiller sagt:
„Nicht dcr Masse qualvoll abgerungen, —
„Schlank und leicht, wie aus dem Nichts gesprungen,
„Steht das Bild vor dem entzückten Blick."
Von leiser Berührung der verwandten Idee
oder Empfindung, erzittern die zarten Saiten des
Herzens; die Seelen schließen sich sympathetisch an
einander, und eine Einmalige geistvolle Unterhaltung
im Umgänge mit einem gebildeten Menschen, macht
oft für das ganze Leben einen dlcibcndern Eindruck
auf uns, als die längste Bekanntschaft mit einem ge
wöhnlichen Menschen. — Woher diese nähere Be
rührung der Geister? . . . Woher anders, als aus
dem Gedanken an eine gemeinschaftliche Quelle des
reingeistigen Lebensgenusses? —
So wird dieser geläuterte Kunstgeschmack ein
sehr zweckmäßiges Beförderungsmittel dcr edlen Ge
selligkeit und der Humanität, und, indem dadurch
zugleich die sittlichen Urtheile berichtiget, die Gefühle