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Volume Nr. 73, (Montags, den 9ten Mai.)

Full text: Der Freimüthige oder Berlinische Zeitung für gebildete, unbefangene Leser (Public Domain) Ausgabe 1.1803 (Public Domain)

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die Seele in Ketten. Folglich sind^die Menschcn, seit ih- 
reu elften Schritte» zur Civilisation, stillschweigend über 
eingekommen , in Dem SsugeitMicf ihrer Muhe einander 
schonend zu behandeln, den Unterschied des Ranges oder 
der Stärke bei Seile zu setzen, Gleichheit des Verdien- 
ster, des Vermögens, der Macht und Würde zu fin gi 
rrn, kurz, es Jedermann behaglich zu machen; ge 
schieht das nicht, so giebt es auch keine Unterhaltung. 
Jener erste Kontrakt möchte etwa in folgenden Ausdrük- 
ken abgefaßt worden seyn: „Wir alle, die wir uns der 
langen Weile vereinigt einschlagen wollen, setzen fest: je 
der darf sagen, was er will. — Man soll den, der redet, 
nicht unterbrechen, cs wäre denn, daß er zu viel redete. 
— Man soll ihn bis zu Ende hören, wenn man kann. 
— Man soll niemanden hindern, ihn anzuhören. — Man 
soll niemanden Beleidigungen sagen, noch Gewalt, noch 
Zwang anthun. - Jeder von uns steht unter dem Schutz 
von uns allen." — 
Unterhaltung ist ein Tauschhandel der Geister; diese 
erkennen aber keine wahrhafte Ungleichheit unter sich an, 
sie versuchen daher, oder stellen sich wenigstens so, in der 
Gesellschaft keine Rücksicht darauf zu nehmen. Indessen 
giebt es bekanntlich noch andere Ungleichheiten, weniger 
reell vielleicht, aber sichtbarer, auffallender, und mit die 
sen thut ina» wohl zu kapituliren. Darum hat man für 
nöthig erachtet, jenen ersten Grundarrikeln noch gewisse 
Verordnungen hinzuzufügen, um den etwanigen Stolz der 
Vornehmeren zu befriedigen, und zugleich der so natürli, 
chen Unruhe der Geringeren vorzubeugen. Beides ge, 
schieht durch Höflichkeit, die mit aller Civilisation so 
innig verbunden ist, daß cs kein Volk giebt, bei welchem 
sie nicht auf eine oder die andere Art eristirre. Schon 
das Mort selbst ist fast immer gleichbedeutend mit Civi 
list rung- Höflichkeit ist in der That nichts andere, als 
eine freiwillige Gcscllschaftspolizei; für die Unterhaltung, 
was die Polizei für de» großen Haufen, für die Manie, 
ren, was jene für die Sitten.- Höflichkeit ist eine Art 
von Appendix zum geselligen Vertrag, und die Verord, 
nungcn dieses Appendix find oft eben so nothwendig zu 
wissen, al» schwer zu sammeln; sie beruhen, wie alle Ge 
setz: thun sollten, auf dem Vortheil des Ganzen, und oh 
ne Codex, ohne Tribunal, wacht die ganze Gesellschaft 
über ihre Ausübung. 
So hat uns ein Umweg wieder zu unserm ersten Ge 
genstand zurückgeführt; denn einer der wichtigsten und am 
schwersten zu dcftnirendcn Punkte in den Gesetzen der 
Höflichkeit, ist der gute Ton. Er steht in Beziehung 
mit allem, was wir nur Leichte« und Veränderliche« ken 
nen, und über ihn raifonniren, heißt gewissermaßen die 
Wichtigkeit der Frivolität beweisen. Gleichviel! ist e« doch 
nut der Gesellschaft wie mit der Natur, wo Alles mit 
Allem zusammenhängt; das kleinste Blatt, das der leiseste 
Wind auf dem Gipfel eines hohen Baumes bewegt, steht 
dennoch mit einem starken Stamme und unerschütterlichen 
Wurzel» in Verbindung. 
Die Civilisation ist eine Entwickelung der menschli 
chen Natur. Sie hat verschiedene Formen angenommen 
nach den verschiedenen Klimaten, Neigungen der Völker, 
ihrer politischen Lage, den Richtungen, die ihnen vor un« 
denklichcn Zeiten von ihren ersten Gesetzgebern ertheilt 
worden u. s. w. Die Höflichkeit, ein Ausfluß, und gleich 
sam die älteste Tochter der Civilisation hat, denn auch, 
wie die Mutter ihre Formen verändert, und diese Ver 
änderungen haben hinwiederum Einfluß aus das gehabt, 
was man übereingekommen ist, den guten Ton zu nen 
nen. Er verhält sich zur Höflichkeit, wie diese zur Civi 
lisation. Der beste Ton ist immer derjenige, der am 
vollkommensten mit allem übereinstimmt, wa« die Gesell 
schaft von ihren Mitgliedern, und diese, jedes einzeln 
genommen, von einander zu fvdern ein Recht haben — 
das heißt, Beobachtung des Schicklichsten, Nachahmung 
dessen, was am meisten gefällt, Entwickelung derjenigen 
Eigenschaften und Emfindungen, welche den meisten 
Menschen wohl thun, als da sind Hochachtung, Beschei 
denheit, Wohlwollen, Nncigeiiiiützigkeit, und vor allen 
Dingen die Bereitwilligkeit, andern mehr zu geben, 
als man von ihnen fordert. Endlich noch, eine gänz 
liche Unterwerfung unter die Gebräuche, eine vollkomme 
ne Kenntniß der Verhältnisse, eine Wahl der gangbar 
sten Ausdrücke und gefälligsten Wendungen — da» sind 
die Grundzüge des guten Tons, der zugleich die Spra 
che der Höflickikcit und die Höflichkeit der Sprache ist. 
Freilich nicht der, den die ganze Welk hat, aber gewiß 
der, von dem jeder wänichte, daß der aillrere ihn halle. 
Wer den Unterricht der Gesellschaft so benutzt hat, daß 
er es der größeren Zahl derselben recht macht, der hat 
den besten Ton. 
So wie aber die Menschen überhaupt, durch ihre Ver 
mehrung gezwungen, sich auf der Erde verbreitet und 
folglich verschiedene Sprachen angenommen haben, so 
hat auch jede« Land, jede Stadt, nach Maaßgabe ihrer 
wachsenden Bevölkerung, ihre Einwohner nicht mehr in 
eine Gesellschaft vereinigen können, sondern Abtheilun 
gen und Unkcrabtheilungen machen müssen. Da hat man 
denn nach Stand, Beschäftigung, Interesse, Alter und, 
Geschmack sich zusammen gefunden- Gleich und gleich
	        
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