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die Seele in Ketten. Folglich sind^die Menschcn, seit ih-
reu elften Schritte» zur Civilisation, stillschweigend über
eingekommen , in Dem SsugeitMicf ihrer Muhe einander
schonend zu behandeln, den Unterschied des Ranges oder
der Stärke bei Seile zu setzen, Gleichheit des Verdien-
ster, des Vermögens, der Macht und Würde zu fin gi
rrn, kurz, es Jedermann behaglich zu machen; ge
schieht das nicht, so giebt es auch keine Unterhaltung.
Jener erste Kontrakt möchte etwa in folgenden Ausdrük-
ken abgefaßt worden seyn: „Wir alle, die wir uns der
langen Weile vereinigt einschlagen wollen, setzen fest: je
der darf sagen, was er will. — Man soll den, der redet,
nicht unterbrechen, cs wäre denn, daß er zu viel redete.
— Man soll ihn bis zu Ende hören, wenn man kann.
— Man soll niemanden hindern, ihn anzuhören. — Man
soll niemanden Beleidigungen sagen, noch Gewalt, noch
Zwang anthun. - Jeder von uns steht unter dem Schutz
von uns allen." —
Unterhaltung ist ein Tauschhandel der Geister; diese
erkennen aber keine wahrhafte Ungleichheit unter sich an,
sie versuchen daher, oder stellen sich wenigstens so, in der
Gesellschaft keine Rücksicht darauf zu nehmen. Indessen
giebt es bekanntlich noch andere Ungleichheiten, weniger
reell vielleicht, aber sichtbarer, auffallender, und mit die
sen thut ina» wohl zu kapituliren. Darum hat man für
nöthig erachtet, jenen ersten Grundarrikeln noch gewisse
Verordnungen hinzuzufügen, um den etwanigen Stolz der
Vornehmeren zu befriedigen, und zugleich der so natürli,
chen Unruhe der Geringeren vorzubeugen. Beides ge,
schieht durch Höflichkeit, die mit aller Civilisation so
innig verbunden ist, daß cs kein Volk giebt, bei welchem
sie nicht auf eine oder die andere Art eristirre. Schon
das Mort selbst ist fast immer gleichbedeutend mit Civi
list rung- Höflichkeit ist in der That nichts andere, als
eine freiwillige Gcscllschaftspolizei; für die Unterhaltung,
was die Polizei für de» großen Haufen, für die Manie,
ren, was jene für die Sitten.- Höflichkeit ist eine Art
von Appendix zum geselligen Vertrag, und die Verord,
nungcn dieses Appendix find oft eben so nothwendig zu
wissen, al» schwer zu sammeln; sie beruhen, wie alle Ge
setz: thun sollten, auf dem Vortheil des Ganzen, und oh
ne Codex, ohne Tribunal, wacht die ganze Gesellschaft
über ihre Ausübung.
So hat uns ein Umweg wieder zu unserm ersten Ge
genstand zurückgeführt; denn einer der wichtigsten und am
schwersten zu dcftnirendcn Punkte in den Gesetzen der
Höflichkeit, ist der gute Ton. Er steht in Beziehung
mit allem, was wir nur Leichte« und Veränderliche« ken
nen, und über ihn raifonniren, heißt gewissermaßen die
Wichtigkeit der Frivolität beweisen. Gleichviel! ist e« doch
nut der Gesellschaft wie mit der Natur, wo Alles mit
Allem zusammenhängt; das kleinste Blatt, das der leiseste
Wind auf dem Gipfel eines hohen Baumes bewegt, steht
dennoch mit einem starken Stamme und unerschütterlichen
Wurzel» in Verbindung.
Die Civilisation ist eine Entwickelung der menschli
chen Natur. Sie hat verschiedene Formen angenommen
nach den verschiedenen Klimaten, Neigungen der Völker,
ihrer politischen Lage, den Richtungen, die ihnen vor un«
denklichcn Zeiten von ihren ersten Gesetzgebern ertheilt
worden u. s. w. Die Höflichkeit, ein Ausfluß, und gleich
sam die älteste Tochter der Civilisation hat, denn auch,
wie die Mutter ihre Formen verändert, und diese Ver
änderungen haben hinwiederum Einfluß aus das gehabt,
was man übereingekommen ist, den guten Ton zu nen
nen. Er verhält sich zur Höflichkeit, wie diese zur Civi
lisation. Der beste Ton ist immer derjenige, der am
vollkommensten mit allem übereinstimmt, wa« die Gesell
schaft von ihren Mitgliedern, und diese, jedes einzeln
genommen, von einander zu fvdern ein Recht haben —
das heißt, Beobachtung des Schicklichsten, Nachahmung
dessen, was am meisten gefällt, Entwickelung derjenigen
Eigenschaften und Emfindungen, welche den meisten
Menschen wohl thun, als da sind Hochachtung, Beschei
denheit, Wohlwollen, Nncigeiiiiützigkeit, und vor allen
Dingen die Bereitwilligkeit, andern mehr zu geben,
als man von ihnen fordert. Endlich noch, eine gänz
liche Unterwerfung unter die Gebräuche, eine vollkomme
ne Kenntniß der Verhältnisse, eine Wahl der gangbar
sten Ausdrücke und gefälligsten Wendungen — da» sind
die Grundzüge des guten Tons, der zugleich die Spra
che der Höflickikcit und die Höflichkeit der Sprache ist.
Freilich nicht der, den die ganze Welk hat, aber gewiß
der, von dem jeder wänichte, daß der aillrere ihn halle.
Wer den Unterricht der Gesellschaft so benutzt hat, daß
er es der größeren Zahl derselben recht macht, der hat
den besten Ton.
So wie aber die Menschen überhaupt, durch ihre Ver
mehrung gezwungen, sich auf der Erde verbreitet und
folglich verschiedene Sprachen angenommen haben, so
hat auch jede« Land, jede Stadt, nach Maaßgabe ihrer
wachsenden Bevölkerung, ihre Einwohner nicht mehr in
eine Gesellschaft vereinigen können, sondern Abtheilun
gen und Unkcrabtheilungen machen müssen. Da hat man
denn nach Stand, Beschäftigung, Interesse, Alter und,
Geschmack sich zusammen gefunden- Gleich und gleich