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Volume Nr. 65, (Montags, den 25sten April.)

Full text: Der Freimüthige oder Berlinische Zeitung für gebildete, unbefangene Leser (Public Domain) Ausgabe 1.1803 (Public Domain)

scheidenste und verschämteste Frau muß sich darüber weg 
seyen, wen» wahre Pflichten sie dazu auffordern. Sie 
wird dieser Opiiiion möglichst aus dem Wege gehen, sich 
ihr aber nicht unterwerfen. Don wessen Opinion ist fer> 
ncr die Rede? Ist das allgemeine öffentliche Urtheil eines 
großen uninkcressirten Publicums, und das eigenmächtige 
willkührliche Urtheil einer Cokerie, die auf ihr angemaaß, 
lei Gewicht trotzt, ein» wie das andre zu fürchten oder 
zu verachten? Und was für seltsame Anwendungen des 
seltsamen moralischen Grundsatzes, der hier für Weisheit 
ausgesehen wird! Ist es bloß Opinion, was Delphine 
beleidigt, indem sie ein geheimes Verständniß mit einem 
Manne unterhalt, der durch seine strafbare Leidenschaft 
die heiligsten Verbindlichkeiten verletzt? wenn sie ein an 
dres Liebesvcrstandniß begünstigt, welches ebenfalls den 
innern Frieden einer Familie stört, und durch die Natur 
der inlcressirte» Theile, zu irgend einem schrecklichen En 
de führen niuß? Und welche Opinion ist es, über welche 
Leone« sich nicht erheben kann, und doch wegsetzen sollte? 
Es wird ihmzwar viel Geschwätz in den Mund gelegt über 
die Schande, die er für sich und für seine Geliebte fürchtet; 
er setzt sich aber über die Meinung andrer über seine an 
gebetete Schöne gerade da weg, wo die gemeinste Mo 
ralität ihn bewegen müßte, sie zu schonen. 
Das ganze Werk kann daher nur dazu beitragen, die 
Denkungsart zu befördern, die in so vielen Französischen 
Werken der Philosophie und der Dichtkunst empfohlen 
wird: nach welcher im Grunde innere Moralität nichts 
ist, oder wenig Werth hat; äußere Schicklichkeit aber ih 
re Stelle vertreten soll. Wenn die Darstellung der hef 
tigen Leidenschaften der Liebe und Eifersucht in Verhält 
nissen, die ihre Befriedigung unmöglich inachen, moralisch 
nützen sollte, so hatte gezeigt werden müssen, wie diese 
Menschen durch beruhigende Vorstellungen wohlmeinen 
der Freunde und durch überlegte Behandlung von Sei 
ten dieser, so herabgestimml werden könnten, daß sie ihre 
Fesseln erträglich finden, sich in denselben weniger un 
glücklich fühlen, und diejenigen die sie umgeben, wenig 
stens nicht unglücklich machen. Das wäre zwar nicht 
poetisch gewesen, weil es keine frappante Wirkung thut. 
Aber die poetische Gerechtigkeit, „ach welcher die Zioma- 
nenhclden, die ihr Herz von rasenden Lcide»schaften nicht 
reinigen wollen, durch große Unglücksfälle bestraft werden, 
oder sich durch heroische Thaten (Selbstmord, Klesierge« 
lübde und dcrgl.) selbst strafen, macht ihre radelnöwerihen 
Leidenichaslen nur noch interessanter, und verführt da« 
Herz de» Leser«, indem sie seine Einbildungskraft besticht. 
Hannover. Rehberg. 
Notizen. 
Auf dem Coventgarden-Theater ist ein Monodrama, 
die Gefangene, gegeben worden. Den Verfasser, Lew 
is, würde man leicht errathen haben, wenn er nicht oh 
nehin bekannt gewesen wäre. Hat er gehofft, sein Stück 
werde gefallen, so war er freilich in Irrthum; hat 
er bloß Schauder erregen wollen, so ist cs ihm vollkom 
men gelungen, denn verschiedene Damen waren der Ohn 
macht nahe. Nach einer klagenden Musik rollt der Vor, 
hang auf, und wir erblicken ein Frauenzimmer, ausge 
streckt in einem Thurm (Oonjou.) Ein Mann bringt ihr 
Brot und Wasser. Sie jammert um ihre Freiheit, und 
ruft: ich bin nicht toll! nicht toll! nicht toll! 
Der Wärter aber stößt sie verächtlich von sich und ver 
schwindet. Nun erscheint außen auf dem Walle ein wü 
thender Mensch, der alle Zeichen des Wahnsinns von sich 
giebt. Er versucht in das Gefängniß zu brechen, wird 
aber davon abgehalten. Die Gefangene beklagt ihr 
Schicksal, und wird in Ernst toll, indem sie immer fort/ 
schreit: ich bin nicht toll! Wahrend sie in einer Ohn 
macht liegt, kommen mehrere Menschen zu ihrer Befreiung. 
Anfangs kennt sie Niemand; aber man läßt ihr Kind 
herein, sie bekommt ihr Bewußtseyn wieder, und beschließt 
da« Stück mit der Versicherung, daß sie nicht toll sey. 
Eine Erzählung der Frau von Genlis scheint die erste Idee 
zu diesem Monodrama gegeben zu haben; aber die Aus 
führung derselben ist sehr übel gerathen. Es wird uns kein 
einziger Wink gegeben, »ver der Gemahl der Gefangenen 
ist, und warum er so barbarisch handelt. - Der männ 
liche Wahnsinnige ist nur so hincingeflickt, um noch mehr 
Grausen zu erwecken. Das Stück wurde mit großem Miß 
fallen aufgenommen, und ivird wahrscheinlich nicht mehr 
gespielt werden. — Man hat sich in öffentlichen Blättern 
allerlei Spott darüber erlaubt. DerEin; sagte: man müs 
se die Gefangene am Seeufer spiele» lassen; wenn die 
Franzosen eben eine Landung machen wollten, so würden 
sie sich entsetzen und umkehren. Der Andere meinte, er 
gäbe noch mehr dergleichen rührende Gegenstände, wel 
che man den dramatischen Dichtern empfehlen könnte, zum 
Beispiel: ein Lazarerh, ein Auto da fe, oder einen 
Canni b alen < S ch mau s. 
Delillc's neues Gedicht, la pitie, in vier Gesängen 
ist erschienen. Der Verfasser begehrt in der Vorrede, 
daß man den Gegenstand vierfach abtheile, nehmlich: 
das Mitleid von Privatpersonen; das der Regierungen; 
da» Mitleid in stürn»,chen Revolutionszeiten, und endlich 
bas Mitleid in den Zeiten der Verbannungen. Ein-» 
Auszuges ist dies Gedicht nicht fähig; jedermann von 
Gefchmack ivird es ohnehin kaufen. Von dem Sohne 
Ludwigs des XVI. sagt Dclille: 
(Quelle» mains out iiälo son atteinte funeste? 
.Le uiOi.de apprit sa. lau» la lombe sail le reitet
	        
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