scheidenste und verschämteste Frau muß sich darüber weg
seyen, wen» wahre Pflichten sie dazu auffordern. Sie
wird dieser Opiiiion möglichst aus dem Wege gehen, sich
ihr aber nicht unterwerfen. Don wessen Opinion ist fer>
ncr die Rede? Ist das allgemeine öffentliche Urtheil eines
großen uninkcressirten Publicums, und das eigenmächtige
willkührliche Urtheil einer Cokerie, die auf ihr angemaaß,
lei Gewicht trotzt, ein» wie das andre zu fürchten oder
zu verachten? Und was für seltsame Anwendungen des
seltsamen moralischen Grundsatzes, der hier für Weisheit
ausgesehen wird! Ist es bloß Opinion, was Delphine
beleidigt, indem sie ein geheimes Verständniß mit einem
Manne unterhalt, der durch seine strafbare Leidenschaft
die heiligsten Verbindlichkeiten verletzt? wenn sie ein an
dres Liebesvcrstandniß begünstigt, welches ebenfalls den
innern Frieden einer Familie stört, und durch die Natur
der inlcressirte» Theile, zu irgend einem schrecklichen En
de führen niuß? Und welche Opinion ist es, über welche
Leone« sich nicht erheben kann, und doch wegsetzen sollte?
Es wird ihmzwar viel Geschwätz in den Mund gelegt über
die Schande, die er für sich und für seine Geliebte fürchtet;
er setzt sich aber über die Meinung andrer über seine an
gebetete Schöne gerade da weg, wo die gemeinste Mo
ralität ihn bewegen müßte, sie zu schonen.
Das ganze Werk kann daher nur dazu beitragen, die
Denkungsart zu befördern, die in so vielen Französischen
Werken der Philosophie und der Dichtkunst empfohlen
wird: nach welcher im Grunde innere Moralität nichts
ist, oder wenig Werth hat; äußere Schicklichkeit aber ih
re Stelle vertreten soll. Wenn die Darstellung der hef
tigen Leidenschaften der Liebe und Eifersucht in Verhält
nissen, die ihre Befriedigung unmöglich inachen, moralisch
nützen sollte, so hatte gezeigt werden müssen, wie diese
Menschen durch beruhigende Vorstellungen wohlmeinen
der Freunde und durch überlegte Behandlung von Sei
ten dieser, so herabgestimml werden könnten, daß sie ihre
Fesseln erträglich finden, sich in denselben weniger un
glücklich fühlen, und diejenigen die sie umgeben, wenig
stens nicht unglücklich machen. Das wäre zwar nicht
poetisch gewesen, weil es keine frappante Wirkung thut.
Aber die poetische Gerechtigkeit, „ach welcher die Zioma-
nenhclden, die ihr Herz von rasenden Lcide»schaften nicht
reinigen wollen, durch große Unglücksfälle bestraft werden,
oder sich durch heroische Thaten (Selbstmord, Klesierge«
lübde und dcrgl.) selbst strafen, macht ihre radelnöwerihen
Leidenichaslen nur noch interessanter, und verführt da«
Herz de» Leser«, indem sie seine Einbildungskraft besticht.
Hannover. Rehberg.
Notizen.
Auf dem Coventgarden-Theater ist ein Monodrama,
die Gefangene, gegeben worden. Den Verfasser, Lew
is, würde man leicht errathen haben, wenn er nicht oh
nehin bekannt gewesen wäre. Hat er gehofft, sein Stück
werde gefallen, so war er freilich in Irrthum; hat
er bloß Schauder erregen wollen, so ist cs ihm vollkom
men gelungen, denn verschiedene Damen waren der Ohn
macht nahe. Nach einer klagenden Musik rollt der Vor,
hang auf, und wir erblicken ein Frauenzimmer, ausge
streckt in einem Thurm (Oonjou.) Ein Mann bringt ihr
Brot und Wasser. Sie jammert um ihre Freiheit, und
ruft: ich bin nicht toll! nicht toll! nicht toll!
Der Wärter aber stößt sie verächtlich von sich und ver
schwindet. Nun erscheint außen auf dem Walle ein wü
thender Mensch, der alle Zeichen des Wahnsinns von sich
giebt. Er versucht in das Gefängniß zu brechen, wird
aber davon abgehalten. Die Gefangene beklagt ihr
Schicksal, und wird in Ernst toll, indem sie immer fort/
schreit: ich bin nicht toll! Wahrend sie in einer Ohn
macht liegt, kommen mehrere Menschen zu ihrer Befreiung.
Anfangs kennt sie Niemand; aber man läßt ihr Kind
herein, sie bekommt ihr Bewußtseyn wieder, und beschließt
da« Stück mit der Versicherung, daß sie nicht toll sey.
Eine Erzählung der Frau von Genlis scheint die erste Idee
zu diesem Monodrama gegeben zu haben; aber die Aus
führung derselben ist sehr übel gerathen. Es wird uns kein
einziger Wink gegeben, »ver der Gemahl der Gefangenen
ist, und warum er so barbarisch handelt. - Der männ
liche Wahnsinnige ist nur so hincingeflickt, um noch mehr
Grausen zu erwecken. Das Stück wurde mit großem Miß
fallen aufgenommen, und ivird wahrscheinlich nicht mehr
gespielt werden. — Man hat sich in öffentlichen Blättern
allerlei Spott darüber erlaubt. DerEin; sagte: man müs
se die Gefangene am Seeufer spiele» lassen; wenn die
Franzosen eben eine Landung machen wollten, so würden
sie sich entsetzen und umkehren. Der Andere meinte, er
gäbe noch mehr dergleichen rührende Gegenstände, wel
che man den dramatischen Dichtern empfehlen könnte, zum
Beispiel: ein Lazarerh, ein Auto da fe, oder einen
Canni b alen < S ch mau s.
Delillc's neues Gedicht, la pitie, in vier Gesängen
ist erschienen. Der Verfasser begehrt in der Vorrede,
daß man den Gegenstand vierfach abtheile, nehmlich:
das Mitleid von Privatpersonen; das der Regierungen;
da» Mitleid in stürn»,chen Revolutionszeiten, und endlich
bas Mitleid in den Zeiten der Verbannungen. Ein-»
Auszuges ist dies Gedicht nicht fähig; jedermann von
Gefchmack ivird es ohnehin kaufen. Von dem Sohne
Ludwigs des XVI. sagt Dclille:
(Quelle» mains out iiälo son atteinte funeste?
.Le uiOi.de apprit sa. lau» la lombe sail le reitet