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liehen Begebenheiten zu Stande zu bringen. Dagegen sind
aber auch einige Nebenpersonen mit vieler Menschenkennt
niß und Kunst gezeichnet. (A. B. die Schilderung, welche
Mad. de Lobensai von ihrem Manne mache.) Die weib
lichen Charaktere sind beinahe alle vortrefflich ausgedacht.
Die unglückliche Nachgiebigkeit der verblendeten Delphi
ne gegen den Mann, der sich einmal ihrer Empfindungen
bemächtigt hat; die Aufopferung, mit der sic sich allem un
terwirft, was ihre Liebe und der Gedanke an ihn fodern,
selbst nachdem sie sich von seiner Person losgerissen hat:
dies alles ist aus der Natur. Die liebenswürdige mißge
staltete Schwiegerinn, ihr fester Sinn, bei ihrer Schüch
ternheit ; die harten selbstsüchtigen Charaktere der Mutter
und Tante des Helden, der eingeschränkte Geist der Ma-
tilde, der versteckte Charakter ihrer Mutter: dies alles ist
so dargestellt, daß der Leser es der Vcrfasscrinn mehren-
theils glauben muß, Menschen können so denken, und so
handeln; oftmals auch da, wo er sie nicht recht begreift.
Die Geschichte ist ebenfalls gut angelegt. Es fehlt
nicht an großen und kleinen Begebenheiten, wodurch die
Handlungen motivirt werden, und welche zu interessanten
Scenen Veranlaffung geben. Die Charaktere der Welt
leute, und die Auftritte des gesellschaftlichen Lebens, sind
großcntheils vortrefflich ausgeführt. Der Duc de Men-
boce, der Ball im ersten Theile, die Soirsss von Paris in
den folgenden, sind mit dem Besten zu vergleichen, was in
andern Romanen gefunden wird. Auch in einigen ernsten
Auftritten ist viel Imagination. Dennoch ist in der Wir
kung des Ganzen durchaus etwas Verfehltes. Die schreck
liche» Katastrophen sind, mit Ausnahme der letzten, die mit
der rhetorischen Geschwätzigkeit einer durch die vorhergehen
den Scenen erschöpften Einbildungskraft ausgeführt wird,
sehr gut dargestellt. Aber cs fehlt etwas, welches dem
Trauerspiele ganz wesentlich ist. Solche Abscheulichkeiten,
als dies« Menschen aus verblendeter Leidenschaft begehen,
solches Unglück, als sie über sich und andre bringe», ist
nicht zu ertragen, wenn das Herz des Lesers nicht durch
da» Gefühl des Erhabnen besänftigt wird. Nur dadurch
werden Sophokles und Shakespear anziehend. Die schreck
lichen Handlungen und Begebenheiten, womit diese das
Herz zerreißen, sind so gedacht, und so dargestellt, daß
große sittliche Gedanken und Empfindungen die Oberhand
behalten. Indem der Leser .oder Zuschauer im Innersten
erschüttert wird, fühlt sich sein Herz wieder durch jene
geheilt. Aehnliches empfindet man nicht bei dewKatastro,
phcn der Delphine, eine einzige Stelle im dritten Theile
ausgenommen, welcher hiernächst besonders gedacht wer,
den wird. Die vorzüglichste umcr allen, die am meisten
Gelegenheit gab, die unüberwindliche Gewalt der Moraki-
tät darzustellen, der Tod der Mad. de Verno» im zweiten
Theile, ist verfehlt; weil das wahre Gefühl des dichte
risch Erhabenen der Verfasserin versagte. Der Ansang
dieses Auftritts ist vortrefflich ausgeführt: das Betragen
der eingeschränkten devo.'en Matilde, des Priesters, der
Delphine, desLeonce, alles wahr und gut geschildert; bis
auf den Augenblick, da die Sterbende sich wieder aufrich
tet, um mit einer Declamation alles zu verderben. Die
sen rednerischen Aufwand mußte die Verfasserin ersparen,
und den rasenden Leonce durch einen einfachen sinnlichen
Eindruck zum Bewußtseyn bringen. Milten in seinen Vor
würfen und Verwünschungen, wodurch er die Hinschei
dende mit ctnpörenderHärte in einen verzwciflungsvollen
Tod zu stürzen bemüht ist, mußte er den Vorhang aufrei
ßen, um die Wirkung seiner Strafrede wenigstens in dem
Gesichte der Verstummenden zu lesen; und nun mit Ent
setzen entdecken, daß der Tod aus ihren erstarrten Zügen
schon den Ausdruck des gequälten Gewissens verwischt
hatte, den sie den Umstehenden zu verberge» gesucht. Da
brauchte ee wenig Worte, um dem Leser begreiflich zu
machen, was Leonce empfinden muß, sobald er erkennt, daß
er sich nicht mehr versöhnen kann.
Die Leidenschaften, deren Darstellung den Inhalt der
Delphine ausmacht, sind natürlich. Aber wer kann sich für
die rasende Liebe eines übermüthigen Menschen iniereffi«
reu? und wer soll sich für die unsinnige Neigung der
Heldin zu einem Manne inkcreffiren, dem sie nicht wagen
darf zu gestehen, daß sie aus unschuldiger Menschenliebe
und Großmukh seinen verzweifelnden Nebenbuhler zu ret
ten gesucht har? Die Geschichte der erst:» Entstehung die
ser Liebe ist nichts besser, als die lappischen Erfindungen
in den Romanen der Madam Aiccoboni, die durch ihre
laxe Moral, weichliche Empfindsamkeit und schöne Schreib
art vor einiger Zeit so beliebt geworden waren. Oer Cha
rakter der Delphine ist liebenswürdig: aber es ist in der gan
zen Geschichte nur ein einziger Augenblick, da er wirklich
das Gefühl der Achtung erregt, ohne welches kein Roma,
nenhcld Anspruch machen darf, den Leser ernstlich zu in-
lcressiren. Dieses ist die Katastrophe im dritten Theile,
da sie den Entschluß faßt sich aus den unauflöslichenDer-
wickclungeu ihres strafbaren Verhältnisses, mit der Flucht
zu retten. Etwa drei Briefe, die sie hierüber schreibt,
sind vortrefflich: aber es sind auch nur diese wenigen
Briefe, wodurch man für ihr Schicksal ein Interesse faßt,
das tiefer gehr, als dasjenige, welches jede Beschäftigung
der Einbildungskraft aus einige Augenblicke erregt.
Auf die nehinliche Art al» die Erfindung, ist auch der