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Volume Nr. 62, (Dienstags, den 19ten April.)

Full text: Der Freimüthige oder Berlinische Zeitung für gebildete, unbefangene Leser (Public Domain) Ausgabe 1.1803 (Public Domain)

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vor ihrer Abreise für die Kaffe nicht mehr nachthcilig 
werde» können. 
Am meisten aber ist der geschmacklose unreinliche An- 
z„g beim Tanzen zu tadeln. Es giebt in der Garderobe 
verschiedene Röcke, deren Aermel lose Aufschläge haben, 
die nach Verhältniß der Größe des jedesmaligen Inha 
ber«, eines kleinen Mädchens, oder eines erwichsenen 
Mannes, herauf und herunter geschlagen werden können. 
Den Ehrgeitz der Schauspieler anzufeuern, bekommt 
ein jeder, der applaudirt wird, von der Direktion 6 Pfen 
nige ausgezahlt. Ls wird daher öfter aus Mitleid als 
aus Ueberzeugung geklatscht, um die Kaffe jener zu be 
reichern, und dieser zu vermindern. Der Zufall kann 
also die einen in ihrer Arroganz bestärken, indeß das Ver 
dienst anderer unbelvhnt bleibt. 
Die Mädchen muffen, wenn sie ihre Rolle» einstudiert 
haben, sich mit weiblichen Arbeiten beschäftigen. Alle 
Kinder erhalten Unterricht im Schreiben u. dergl. m. 
Zwei Rasttage sind überhaupt nur in der Woche, wo 
nicht tine sonst täglich für 8 Gr. Lntreegcld wenigstens 
drei Vorstellungen gegeben werden. Ein großes Stück 
und zwei Tänze, oder zwei kleinere und ein Tanz. Man 
sieht, daß von Freistunden eben nicht die Rede ist. 
Herr Nuth macht im Komödien-Zettel, worauf alle 
Stücke für den ganzen Monat stehen, zugleich bekannt: 
daß man auf seinen Namen nichts borgen soll, weil er 
alles gleich baar bezahlt; welches bei herumziehenden Ge 
sellschaften nicht immer geschieht. 
In Osterburg, Seehauscn und Perlcberg war das Pu 
blikum sehr zahlreich. Die Landleuke aus der benachbar 
ten Gegend, die Wische genannt, fanden großes Vergnü 
gen an dem Spiel dieser lebendigen Puppen, wie sie es 
zum Unterschiede von Marionetten nannten, welche sie 
ehemals vielleicht nur gesehen haben mochten, und boten, 
da sie zum Theil sehr wohlhabend find, mehrmals einen 
Fnedrichsd'or für den Platz, wenn das Haus stark besetzt 
war. 
Einer von ihnen, Nahmens Nachtigall, der sehr auf 
geklart für seinen Stand ist, war vorher schon einmal 
nach Berlin gereiset, um Ifflands vortreffliche« Spiel zu 
sehen. — I — 
Ein Vorschlag, der Beherzigung verdient. 
Wie wär'«, wenn wir mit unsern alten ehrlichen 
Vorfahren sür Sonett wieder Klinggedicht sagten? 
Ich bin sonst eben kein Freund vom Purismus. Ist ein 
Wort wohlklingend, significaciv und dem Publikum, zu 
welchem man spricht, verständlich; so kommt meines Er 
achtens wenig darauf an, ob es auf fremdem oder hei 
mischem Boden wuchs. Das Schöne ist ein Gemeingut. 
Der wahre Patriot nimmt, wo er es auch findet, im Nah 
men und zum Besten seiner Nation Besitz davon. Er 
hält es keineswegs für Patriotismus, sondern für Thor 
heit, den Sprachokganen Mißlaute bloß darum abquälen 
zu wollen, weil sie den Vorzug haben, von den rauhen 
Kehlen seiner in Bärenfelle gehüllten Urahnen heraus 
gewürgt worden zu seyn. Aber eben, weil das Wort 
Klinggedicht nicht übel klingt, und so ungemein charak 
teristisch ist, wünschte ich, wir führten es wieder ein. 
Unsere Sonettendichter würden dann Kling- oder Klingel 
dichter heißen. Dabei müßten uns nothwendig die Klin 
gelvater einfallen, zumal, da zwischen beiden eine auf 
fallende Aehnlichkeit obwaltet; denn beide sammeln milde 
Gaben ein, mit dem Unterschiede jedoch, daß diese um 
ein Almosen an Scheidemünze — jene um ein dürfti 
ges Almosen an Lorberen klingelnd ansuchen. Ein 
größerer Unterschied ist noch dieser: der Klingelvater 
weckt mit der Klingel die Schlafenden auf — der Klin, 
geldichrer hingegen schläfert eben dadurch die Wachen 
den ein. 
Eine poetische Merkwürdigkeit. 
Das älteste Klinggedicht, welches ich habe auftrciben 
können, ist vom Jahre 15*9- Es steht vor Christoph 
Wirsungs Verdeutschung der Apologen Bernhardt Ochini, 
und ist eine wahre Quintessenz von Ungcschmack, Unsinn 
und Rusticitat. Wahrlich! dieses Klinggcdichk muß schon 
damals von der ganzen Gattung Hoffnungen erregt ha 
ben, die jetzt im Kynosarges, im Apollon und anderwärts 
so ganz und schön erfüllt werden. Dabei scheint Herr 
Christoph Wirsung einen prophetischen Geist und die Ab, 
sicht gehabt zu haben, nicht sein, sondern unser Zeit, 
alter zu schildern. Man höre: 
,,S Zeit für andre torecht toll, 
S Welt ohn Witz, blind, viehisch und 
Die gan; und gar im finstern Schlund 
versenkt, verstrickt und Mangels voll." 
„Du liegest »e vergrabe» wol 
Im Chaos, da kein End, noch Grund 
Der Irrthum, Gstank, Kot, ungesund 
Da all Gottlosigkeit sei» soll." 
„So gschicht dem, der den Bronnen klar 
Der Wahrheit last und sucht crstert 
kisternen, die ohn Säst und leer. 
Liebt tunkten Nebel, schwarjen Gfahr, 
De»' lugt, das er das hell Liecht werdt, 
Der Wahrheit nit kann dulden mehr." 
— dt.
	        
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