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Volume Sitzung 35, 17.11.1927

Full text: Stenographische Berichte über die öffentlichen Sitzungen der Stadtverordnetenversammlung der Haupt- und Residenzstadt Berlin (Public Domain) Issue1927 (Public Domain)

Sitzung ant 17. 
Meine Dante» und Herren, das ist eine Tatsache, die j 
ich bereit bin, Ihnen nachzuweisen und Namen zu 
nennen. Diesen jungen Mädchen will man dann 
14 Tage vor dem Abgang aus der Schule endlich 
über den menschlichen Körper Unterweisung geben. 
(Zuruf des Stadtv. Gäbet.) 
Ich glaube, die anwesenden Lehrpersonen werden sich 
bestimmt schamhaft unter den Tisch verkriechen. Bei 
solchen Zuständen will mau etwa mit der Aus- 
klärung anfangen, wenn die Jungen schon ans der 
Fortbildungsschule sind imd die jungen Mädchen 
ans der Schule heraus sind. 
Meine Dame» und Herren! Wir verlangen, 
daß hier eine ganz andere Aufklärung durchgeführt 
wird, wir verlangen, daß das hier nur eine Min 
destunterlage ist, aufzuklären. Wenn Sie den Kamps 
gegen die Geschlechtskrankheiten durchführen wollen, 
so ist die erste Bedingung Aufklärung von unten au, 
in der Schule, von der untersten Klasse an, schon 
int Elternhaus über die gesamten sexualen Vor 
gänge überhaupt. Des weiteren werden Sie den 
Kampf gegen die Geschlechtskrankheiten nur durch 
führen können, wenn er tatsächlich bei den Woh 
nungsverhältnissen einsetzt, wenn Sie das Geld, das 
Sie heute nur für Behandlung der Erscheinung 
der Geschlechtskrankheiten anwenden und den pri 
vaten Aerzten von der wirtschaftlichen Organisation 
den Geldbeutel füllen, dazu benutzen, billige und 
größere Wohnungen zu bauen, damit die Familien 
nicht mit vier Personen in einem Zimmer hausen 
müssen. Sie werden erst dann den Kampf richtig 
aufgenommen haben, wenn sie andere Arbeits 
bedingungen und andere Löhne geschaffen haben. 
Meine Damen und Herren! Dieser Kampf ist 
ein Politischer Kampf, und wir sagen Ihnen an 
dieser Stelle, mit diesem Organisationsplan werden 
Sie den Kampf nicht durchführen können. Wir als 
Kommunisten wissen ja ganz genau, daß Sie nie 
mals imstande sind, überhaupt ein soziales Problem 
zu lösen und daß erst dann, wenn die Arbeiterschaft 
selber sich ihren Staat geschaffen hat, dieses große 
Problem und der Kampf gegen die Geschlechts 
krankheiten richtig durchgeführt werden kann. 
(Lebhafte Bravorufe und Händeklatschen bei den 
Kommunisten.) 
Stadtv. Frau Dr. Frankenthal (S): Meine 
Herren und Xanten! Ich kann mich recht kurz fassen, 
da ja im Ausschuß über die prinzipiellen Fragen allge 
mein Einigkeit bestattet. Nur einige Worte zu den Aus 
führungen der Kollegin Hoffmann-Gwinner. 
Daß die Bekämpfung der Geschlechtskrankl-eiten ein 
setzen muß bei der Bekämpfung der sozialen Mißstände: 
der Wohnungsnot, der Arbeitslosigkeit, der schlechten Ta- 
rifpolitik usw., weiß jeder Mensch, der sich überhaupt mit 
den Dingen beschäftigt hat. Aber darauf brauchen wir ja 
hier nicht einzugehen, denn wir wollen ja hier nur den 
Organisationsplan besprechen. 
Was nun die Bemängelungen der Kollegin Hofsmann 
Gwinner bezüglich der Aufklärungsaktion betrifft, so muß 
ich ihr zu meinem großen Bedauern wiederholen, daß sie 
wieder einmal etwas dnrcheinandergeworfen hak. Diese 
Aufklärung, -verehrte Kollegin Hoffmann-Gwinner, bezog 
sich ja nur auf die eine große Agitation, die vom Haupt 
gesuugheitsamt anläßlich der Einführung des Gesetzes 
in die Wege geleitet wurde. 
(Zuruf der Stadtv. Fr. Hoffmann-Gwinner. 
Daß in den Schulen bereits von 13—14 Jahren 
an die Aufklärung einsetzen soll, ist ein einstimmiger Be 
schluß der Gesundheitsdeputation, den ivir vor einigen 
Monaten gefaßt haben. Wir erivarteti noch immer die 
Bestätigung, daß das Provinzialschtilkolleginm dieser 
November 1927. 861 
Sache zugestimmt hat und daß die Sache tatsächlich nach 
unfern Wünschen durchgeführt wird. 
Tarnt ging aus den Ausführungen der verehrten 
Kollegin Hosfmamt-Gwiutter so ungefähr hervor, daß 
die Einführung der freien Arztwahl von uns gegen ihren 
Willen durchgedrückt worden ist. Nun, meine Herren und 
Damen, vor dieser Sitzung hörte man es anders, da 
hörte man: Aha, ihr wollt, daß die Herrschaften vom 
Knrfürstendamm ihren Arzt aufsuche», daß aber unsere 
armen Volksgenossen in die öffentliche Beratungsstelle 
gesteckt und der Zwangsbehandlnng zugeführt werden. 
Wir verlangen für unsere armen Volksgenossen die freie 
Arztwahl, getrau so, tvie die Herrschaften vom Kurfürsten» 
dämm sie haben. 
Nun scheint es mir ja auch so, da Sie ja dem Aus 
schußbeschlusse zustimmen wollen, daß Sie auch der freien 
Arztwahl Ihre Zustimmung geben wollen. Aus Ihren 
Ausführungen war nicht so ganz klar zu ersehen, worauf 
Sie eigentlich hinaus wollen. Auch ich bebaute es sehr, 
daß tvir in dem Vertrage mit der Aerzteschaft dazu über 
gehen mußten, Konzessionen zu machen, die etwas weiter 
gehen, als ich es wünschte Es sollen im Laufe dieses 
Jahres nur zwei neue städtische Beratungsstellen einge 
richtet werden. Dieser Vertrag mit der Aerzteschaft ist 
aber nur auf ein Jahr geschlossen, und wir haben bereits 
in unsern Richtlinien einstimmig beschlossen, daß grund 
sätzlich an jede städtische Beratungsstelle eine Behandlnngs- 
stelle angeschlossen werden soll. Es unterliegt also gar 
keinem Zweifel, daß tvir tut nächsten Jahre dazu über 
gehen werden, unser Netz von städtischen Behandlungs 
stellen weiter auszubauen, und die Aerzteschaft hat sich 
dann ganz einfach zu entscheiden, ob sie unter diesen Be 
dingungen die freie Arztwahl weiterführen will oder ob 
sie es nicht will. Wen» sie es nicht will, bann werden 
allerdings die Mittel, die für die freie Arztwahl jetzt 
ausgeworfen werben, dazu verwendet, schleunigst unser 
Netz von städtischen Behandlnngsstellen so auszubauen, 
daß wir den Kranken alles bieten sönnen, was sie zu ver 
langen haben. Ich selber bin der Ansicht, daß wir den 
Kranken kein Unrecht tun, wenn wir sie in wirklich erst 
klassig eingerichteten städtischen Behandlnngsstellen: behan 
deln. Eines muß-man sagen, ich will ganz gönnst *— Sie 
werden mir das wahrscheinlich nicht bestreiten — das 
Beste für die Behandlung der Geschlechtskrankheiten, aber 
die 3i/ü Millionen anderen Steuerzahler liegen uns doch 
auch noch ein bißchen am Hetzen, und ich meine, daß 
vielleicht die freie Arztwahl so erhebliche Kosten machen 
wird, daß tvir uns nach Ablauf dieses Vertrages nach 
einem Jahr ernstlich überlegen werden, ob tvir sie weiter 
fortführen wollen oder nicht. 
(Stadtv. Gäbet: Sie rennen ja offene Türen ein. 
Warum polemisieren Sie gegen die freie Arztwahl?) 
— Sie haben doch hier dagegen polemisiert. — 
(Zuruf bei den Kommunisten: Sind das Standes- ■ 
interefsen, die Sie vertreten?) 
Ich glaube nicht, daß meine verehrten Kollegen das als 
Wahrnehmung Ihrer Interessen bezeichnen würden. Frau 
Kollegin Hoffmann-Gwinner hat ziemlich wörtlich ge 
sagt, sie würde cs wünschen, daß nicht den Leuten frei 
gestellt wirb, einen Arzt aufzusuchen, nachdem die Diagnose 
gestellt wird, sondern daß sie sofort zwangsweise in Be 
handlung genommen )verbetn 
Verehrte Frau' Kollegin Hofsntattn-Gwntner! Ich 
möchte hören, tvas Sie sage», wenn tvir das durchführen 
würden. Das würde zu einer netten Zwangsreglemen 
tiernng für jeden Menschen führen, der das Unglück ge 
habt hat, sich eine Geschlechtskrankheit zuzuziehen. Ich 
glaube, so weit dürfen wir wohl in unserm Bestreben, 
die Geschlechtskrankheiten zu bekämpfen, in gar keinem 
Falle gehen. 
Deut Antrage der Kommunistischen Partei, daraus 
hinzuwirken, daß eine neue Reglementierung nicht ein 
geführt wird, werden wir im Prinzip zustimmen müssen,
	        
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