GitzUng am 14. Juni li)27, 468
Die Summen, die für die Jugendwohlfahrt an
gesetzt sind, sind auch zu niedrig. Im Wedding, einem
proletarischen Bezirk, hat man über 7000 Jl bei der
Wochenfürsorge gestrichen. Man muh die Zahlen nur
einmal sprechen lassen. In dem ganzen halben Jahre
1926 sind für Wochenfürsorge nicht mehr als 252 925 M
ausgegeben. Das sind pro Wöchnerin 11 M. So wird
die Heiligkeit der Mutterschaft, die von Ihnen so ge
predigt wird, mit 2 M pro Tag abgegolten. Diese
Frauen bringen ein verkümmertes Geschlecht zur Welt,
sie müssen es zur Welt bringen, weil sie bis zur
letzten Minute vor der Geburt arbeiten müssen. Wir
haben zwar ein Svzialgesetz, das da sagt, sie dürfen
nicht länger als 6 Wochen vor der Geburt arbeiten,
sie dürfen nicht eher als 6 Wochen nach der Geburt
wieder anfangen. Ja, wer bezahlt ihnen denn diese
6 Wochen? Sollen sie etwa mit den 2 M, die sie pro
Tag bekommen, leben und Kinder ernähren? Sie müssen
sich bis zum letzten Moment ausbeuten lassen, um nach
her ein verkümmertes Geschlecht zu gebären.
Meine Damen und Herren, Ihnen (nach rechts)
ist das ja gleichgültig, Sie wollen weiter nichts, als
Kinder des Proletariats am Leben erhalten, die zähe
genug sind, trojtzi der Ausbellte noch am Leben zu
bleiben. Nun, wenn Sie das nicht wollten, so brauchten
Sie nur einen Jugendwohlfahrtsetat aufzustellen, der tat
sächlich jeder Mutter und jedem Kind 'den Schutz gibt,
den sie notwendig haben, um überhaupt leben zu können.
Wir haben ungeheuer viel Kongresse, wir haben Ta
gungen und Konferenzen. Auf ihnen lvird das Elend
geschildert. Nirgends aber wird die Ursache dieses Elends
'klargelegt. Die Damen und Herren von. den Deutsch
nationalen erklärten uns sogar noch im Ausschuß, daß
nur ja mit unsern Anträgen den Eltern die Verant
wortung abnähmen, daß es nicht angängig sei, daß
man den Eltern die Verantwortung ganz und gar
nähme. Meine Damen und Herren, wir vertreteil den
Staildpllnkt, daß die öffentliche Hand zuerst zu helfen
hat und daß dann erst versucht Werden muß, die
Kosten von denen zu holen, die dazu verpflichtet sind.
Wir stehen sogar auf dem Standpunkt, daß die Kosten
für Jugeudwohlfahrt und für Wochenschutz nicht von
irgend jemand eingezogen werden dürfen. Die Kom
mune muß diese Kosten tragen. Allerdings sind wir
der Meinung, daß die Kosten auch vom Reich ange
fordert werden müssen. Das Reich hat den Kom
munen die Aufgabe des Wochenschutzes auferlegt, aber
das Reich hält seine Mittel zurück. 380 Millionen
für die Polizei, 550 Millionen für die Hohenzollern,
hohe Pensionen für die Offiziere und nichts für den
Mutterschutz, nichts für Wochenfürsorge. Das ist der
soziale Staat, mit dem sich die Deutschen nach außen
hin immer brüsten. 3 Millionen Ersparnisse beim .He
bammenwesen!
Nun, meine Damen und Herren, wenn man das
sieht, so muß ich offen gestehen, daß mich ein Ekel
vor der Scheinheiligkeit packt, mit der hier von der
Jugendwohlfahrt überhaupt geredet lvird.
(Rechts: Sehr richtig! — Lauter!)
(Lachen rechts.)
Meine Damen und Herren, wenn Sie bei solchen Dingen
lachen, so kennzeichneil Sie Ihre christliche, soziale Ein
stellung selber. Dazu braucht man nichts mehr zu sagen.
(Zurufe rechts und bei den Kommunisten.)
(Glocke.)
(Vorsteher macht die Rednerin auf den Ablauf der
Redezeit aufmerksam.)
— Ja, ich bin sofort fertig. —
Einen Schandfleck unseres gesamten sozialen Staates
stellt noch die Fürsorgeerziehung dar. Wir vertreten
den Standpunkt, daß diese Art der Fürsorgeerziehung
überhaupt aufgehoben werden muh.
. Wir vertreten den Standpunkt, daß eine andere Er
ziehung der Jugend einsetzen muß. Man nehme ein
einziges Mal diese Jugend aus den kirchlichen Händen
heraus. Man schaffe soziale Zustände, damit die Jugend
wirklich gesund und geistig sich bildend heranwachsen
kann. Dann braucht man keine Fürsorgeanstalten mehr.
Denn diese jungen Menschen sind nicht minderwertig,
sie sind nicht schlechter als die Bourgeoisiesöhne und
-Töchter, sie sind nur infolge der sozialen Verhält
nisse in die Kriminalität hineingetrieben.
Meine Damen und Herren! Es ließe sich zu diesem
Etat noch sehr viel sagen, aber meine Redezeit ist
abgelaufen. Eins jedoch müssen wir ganz klar und
offen aussprechen: Dieser Jugendwohlfahrtsetat, wie ihn
uns der Magistrat vorlegt, zeigt die volle Verant
wortungslosigkeit dieses Magistrats der Berliner Jugend
gegenüber, und die Abstimmungen, die im Etatsaus
schuß erfolgt sind, zeigten uns, daß die bürgerlichen
Parteien und zum Teil auch die Sozialdemokratische
Partei ebensowenig Verantwortlichkeitsgesühl unserer
Berliner Jugend und unseren Berliner Kindern gegen
über haben wie der Magistrat.
(Bei den Kommunisten: Bravo!)
Vorst. Haß: Ich höre, daß die Parteien auf diese
Haushaltsberatung heute noch nicht eingerichtet sind und
möchte Ihnen deshalb vorschlagen, daß wir jetzt die Haus-
haltsberatnngen abbrechen und jetzt die drei Punkte der
nichtöffentlichen Sitzung erledigen. Wir haben darunter
zwei Sachen, die im Ausschuß gewesen sind. Die Par
teien können sich dann darauf einstellen, daß wir am
Freitag die übrigen Punkte der Haushaltsberatung vor
nehmen. Kann ich Ihr Einverständnis damit feststellen?
(Zuruf: Ist dieses Kapitel erledigt?)
Wortmeldungen liegen zu Kapitel XIII nicht mehr
vor. Die Beratung darüber ist geschlossen. Die Ab
stimmung der eingebrachten Anträge werden wir in der
nächsten Sitzung vornehmen.
Ich stelle also Ihr Einverständnis fest. Ich schließe
die öffentliche Sitzung und bitte, die Tribüne zu räumen.
Wir werden nun in nichtöffentlicher Sitzung die
Punkte 38—40 behandeln.
(Schluß der öffentlichen Sitzung 8 Uhr 3 Min. abends.)
Druck von W & S. L o e >v c n t h a l, Berlin C 19