Sitzung am 31. Mai 1927. 431
Ststbtu. Koch (DN.): Meine Damen und Herren!
Seit geraumer Zeit werden die Berliner Haushaltungen
mit Literaturerzeugnissen überflutet, von denen bis jetzt
5 Hefte vorliegen. Sie zeichnen sich dadurch aus, daß
sie sich schon drucktechnisch auf einem gewissen Tief
stand befinden. Aber das ist das wenigste. Inhaltlich
sind die Hefte derartig, das; man von ihnen sagen
muss, sie stellen an die Anffassungsfähigkeit der Berliner
die denkbar niedrigsten Anforderungen. Inhaltlich be
wegen sie sich ungefähr auf dem Höhepunkte der Kol-
portageliteratur einer verflossenen Zeit.
Ich muß Sie um die Erlaubnis bitten. Ihnen
einige Proben aus diesen Erzeugnissen hier vorführen
zu dürfen.
In Nr. 1 dieser Quittungsbücher, als die sic sich
kennzeichnen, befindet sich eine unglaubliche Art von
Novelle. Welchen literarischen Wert diese Erzeugnisse
haben, mögen Sie aus dem Anfange dieser kleinen
Novelle ersehen:
„Tilla, das Talent."
(zum Vorsteher gewendet): Sie gestatten doch, daß ich
vorlese?
(Zustimmung des Vorstehers.)
„Tilla Schwebebanm stand im wallenden Nacht
hemd hochaufgerichtet mitten im Schlafzimmer. Die
Bademütze aufgestülpt, in der Rechten einen Regen
schirm, in der Linken einen Toilettenspiegel als blinken
den Schild, memorierte sic die Jungfrau von Orleans.
Anneliese, die Schwester, sah von ihrem Bette aus
mißvergnügt zu.
„Jetzt Fackeln her! Werft Feua in die Zelte!
Der Flammö Wut vamöhre das Entsetzen."
(Heiterkeit.)
— Sv ist es gedruckt. —
„Mit dramatischem Schwung flog die Waffe der
Johanna gegen Annelieses Brust.
„Au! Bist Du meschugge!" schrie die Getroffene.
„Willst Du mich umbringen mit Deiner klassischen
Mußspritze?"
(Große Heiterkeit.)
Das ist der Anfang dieser Ergüsse im Quittungsbuch.
In Nr. 2 haben Sie gleich auf der ersten Seite
Unter dem wunderbar schönen bunten Titelblatt einen
Vers. Ich will Ihnen nicht alle 4 Reihen vorlesen,
sondern nur die letzte:
„Gas-Badeöfen können Narren selbst erlösen."
I (Große Heiterkeit.)
Es gibt immer noch Dichter in Berlin!
In Nr. 3 dieser Hefte befindet sich ein unglaublich
törichtes sogenanntes Märchen: „Beethovens Heimkehr."
I» diesem Blatte befinden sich auch wiederum Verse
von einem Dichter, der seinen Namen wohlweislich ver
schweigt. Die beiden letzten Strophen lauten:
„Sonne, Regen, Schnee und Wärme,
Hagel bald, bald Mückenschwärme —
selbst der Laubfrosch ist verwirrt
und die Wetterkarte irrt."
(Heiterkeit.)
„Jeder Gang ein Abenteuer.
Nur bei Muttern ist's geheuer,
Ivo die milden Lüfte zieh'n,
temperiert vom Gaskamin."
. (Große Heiterkeit.)
So, meine Damen und Herren, geht das nun schon
5 Hefte lang weiter, und das, um das Reklamebedürfnis
der Gas-Betriebs-Gcsellschaft — so glaube ich, nennt sie
sich — zu befriedigen. Man glaubt damit einem Kultur-
bedürfnis nahezukommen, den Berlinern das Kochen mit
Gas nahezulegen und den Gaskonsum zu steigern.
Meine Freunde haben sich gefragt, ob denn für
wie solche Reklame die Gelder wirklich am Platze sind
und ob es nicht vielleicht angebrachter wäre, die Gelder
für diese Literatur zu sparen und statt der schlechten
Literatur lieber besseres Gas zu liefern. Darum richten
wir an den Magistrat die Anfrage, wie er sich zu dem
Werte dieser Literaturprodukte, die den Berlinern angeb
lich unentgeltlich, aber für ihr Geld, ins Haus geliefert
werden, stellt.
Dann eine andere Anfrage, ob es nicht angebracht
wäre, diese Hefte auf einem andern Wege den Berliner
Haushaltungen zuzustellen als durch die armen Ein
ziehungsbeamten der städtischen Gaswerke, die mit ge
waltigen Ballen von diesem bedruckten Papier durch
die Straßen ziehen müssen.
Und drittens die Aufrage, ob denn dieses ganze
Unternehmen überhaupt eines städtischen Betriebes wür
dig ist. Meine Freunde haben die stille Hoffnung, daß
der Magistrat uns sagen wird, daß demnächst, und zwar
baldigst, diese Art von Gasreklame in Berlin aufhört.
Vorst. Haß: Zur Beantwortung der Anfrage Herr
Stadtrat Schlichting.
Stabtrat Schlichting: Meine Damen und Herren!
Ich denke natürlich nicht daran, die Entgleisungen, die
der Herr Kollege Koch vorgetragen hat, hier im Hause
zu verteidigen. Wir werden uns in der nächsten Auf
sichtsratssitzung mit dieser Sache beschäftigen und wer
den dann für Abhilfe sorgen.
Ich glaube, daß den Damen und Herren diese
Erklärung genügen wird.
Vorst. Haß: Eine Besprechung ist nicht beantragt.
Damit ist Punkt 3 der Tagesordnung erledigt.
Wir kommen zu Punkt 5 der Tagesordnung:
I. und II. Beratung der Vorlage, betr. vorzeitige
Freigabe der Baumittel der ordentlichen Verwal
tung des Kap. XX, Abt. 2 für 1927 — Druck
sache 383 —.
Keine Wortmeldungen.
(Stadw. Paeth meldet sich zum Wort.)
Bitte, Herr Kollege Paeth.
Stadtv. Paeth (DN.): Meine Freunde sind nicht
gegen die Vorlage an' sich. Es erscheint aber hier im
Hause nicht — wenigstens nicht den gesamten Mitglie
dern unserer Partei — genügend aufgeklärt, in welchem
Zusammenhange und in welchem Ausmaß gerade diese
Vorzugsarbeiten der Kanalisierung usw. zu den andern
Arbeiten, die ebenfalls vorgezogen werden, vorgenommen
werden sollen. Es ist in der Vorlage darauf hinge
wiesen, daß auch mit Rücksicht auf die Arbeits
losigkeit diese Arbeiten vorgezogen und die Mittel vor
weg verausgabt werden sollen. Bekanntlich werden bei
diesen Arbeiten verhältnismäßig wenige Arbeitslose be
schäftigt. Wir würden es daher begrüßen, wenn der
Herr Vertreter des Magistrats eine kurze Aufklärung
geben würde, in welchem Zusammenhange diese Arbeiten
mit den bewilligten Notstandsarbeiten und in welchem
■ Verhältnis sie zu den eigentlichen Hochbauarbeiten stehen,
um einen zusammenhängenden Ueberblick zu gewinnen,
wieweit allgemein die voraus verausgabten Mittel da
zu dienen, der Arbeitslosigkeit einerseits und dem Bau
bedürfnis der Stadt Berlin andererseits abzuhelfen.
Stabtbaurat Hahn: Meine Damen und Herren! Wie
bereits der Herr Vorredner sagte, handelt es sich um
Freigabe von Mitteln für Bauten der Kanalisationsver
waltung. Das sind alles Arbeiten, die, wenn sie in
diesem Jahre überhaupt noch ausgeführt werden sollen,
jetzt in Angriff genommen werden müssen, da wir bei
Tiefbauten weit mehr vom Wetter abhängig sind als bei