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Volume Sitzung 1, 13.01.1927

Full text: Stenographische Berichte über die öffentlichen Sitzungen der Stadtverordnetenversammlung der Haupt- und Residenzstadt Berlin (Public Domain) Issue1927 (Public Domain)

Sitzung ant 13. Januar 1927. 
des Magistrats herbeigeführt werden soll, damit die 
Mittel, die einzelne Bezirke noch zur Verfügung haben 
und nicht verbrauchen können, den notleidenden Bezirken 
überwiesen werben. .Dieser Antrag liegt Ihnen heute 
vom Ausschuß zur Beschlußfassung vor. 
Weiter, meine Damen und Herren, ist festgestellt 
worden, daß die jetzt eingetretenen Verhältnisse nur da 
durch möglich geworden sind, daß die durch den Etat zur 
Verfügung gestellten Mittel nach einer Schlüsselzahl auf 
die einzelnen Bezirke verteilt werden. Hierbei hat es 
sich herausgestellt, daß diese Schlüsselzahl eine unrichtige 
ist. Da ist z. B. der große Bezirk Wedding mit aus 
gesprochen proletarischen Bewohnern in diesem Punkt 
notleidend, während der Bezirk Steglitz noch 7600 M 
zur Verfügung hat. 
Diese Ungleichheit konnte festgestellt werden. Es 
liegt infolgedessen auch ein weiterer Antrag hier vor, 
den Ihnen der Ausschuß unterbreitet: diese Schlüsselzahl 
beim kommenden Etat von neuem festzustellen, und zwar 
aus den Erfahrungen heraus, wie sie sich in den letzten 
zwei Jahren gezeigt habe», diese Mittel zu verteilen und 
nicht nach dem bisherigen Schlüssel. 
Ich habe weiter noch zu berichte», meine Damen 
und Herren, daß diese beantragten 300000 M vom Aus 
schuß einstimmig beivilligt worden sind, aber mit der Ab 
änderung, daß sie nicht auch nach der Schlüsselzahl, wie 
es bei der Verteilung der andern Mittel der Fall war, 
wiederum vergeben werden. Es sollen die Bezirke, die 
schon an Uebersluß leiden, nicht noch etwas auf geschippt 
bekommen, sondern diese 300000 M sollen restlos dem 
Hauptgesundheitsamt zur Verfügung gestellt werden. Das 
Hauptgesundheitsamt soll die Mittel nach der Bedürftig 
keit der einzelnen Bezirke verteilen. 
Der Ausschuß empfiehlt Ihnen die Annahme einmal 
des Hauptantrages, die Bewilligung von 300 000 M, 
weiter die Aenderung des Schlüssels, drittens die Nebcr- 
gabe dieser 300000 M an das Hauptgesundheitsamt, 
sowie das Zusammenlegungsverfahrcn einzuleiten. 
Vorst.-Stellv. Dr. Caspari: Ich hätte jetzt eigentlich 
das Wort dem Vertreter des Magistrats zur Beant 
wortung der Anfrage zu geben. Ich möchte mal die 
anwesenden Magistratsvertreter fragen, ob jemand bereit 
ist, die Anfrage Nr. 8 zu beantworten. Es meldet sich 
niemand. 
Wir treten deshalb iu die Beratung des Antrages 
Nr. 12 ein. Ich erteile das Wort Frau Hoffmann- 
Gwinner. Ich werde das Wort zur Beantwortung der 
Anfrage nachträglich noch erteilen. Selbstverständlich 
haben dann die Stadtverordneten, die sich zu der Anfrage 
äußern wollen, das Recht, zu der Erklärung des Magi 
strats ihrerseits noch einmal das Wort z» nehmen. 
Anders läßt sich die Sache nicht durchführen. 
(Zuruf bei den Komm.) 
Stadtv. Frau Hoffmann-Gwinner (K.): Ich glaube, 
der Herr Kollege John wird jetzt anderer' Meinung sein, 
ob man in diesem Kreis hier noch über die Verschickung 
Tuberkulöser zu reden hat oder nicht, nachdem es der 
Magistrat nicht für nötig hält, anwesend zu sein, wenn 
ein solcher Antrag beraten tvird. 
(Zuruf: Er ist ja da!) 
Wir sprechen schon sehr lange über diese Frage. Der 
Dezernent des Hauptgesuudheitsanits hat es nicht für 
nötig gehalten, hier anwesend zu fein. Ich möchte Herrn 
Kollegen John sagen, es ist ja eigentlich ganz klar, daß 
dieses Interesse hier nicht vorhanden ist, denn die Tuber 
kulose ist eine rein proletarische Krankheit, 
(Stadtv. Dr. Faltz: Das ist nicht der Fall!) 
nicht eine Krankheit der bürgerlichen Klasse. — Herr 
Faltz, wenn Sie anderer Meinung sind, können Sie ja 
Ihre Meinung zum besten geben. Wir wissen ja, was 
wir von Ihrer Meiitung in dieser Beziehung halten. 
(Bei den Komm.: Sehr gut!) 
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Es ist nicht abzuleugnen, die Tuberkulose ist eine prole 
tarische Krankheit. Sie tritt vor allen Dingen da auf, 
wo die Wohnungen schlecht sind. Wir haben auch noch 
000 000 fehlende Wohnungen iu Berlin. Sie tritt auf, 
solange noch 6—12 Personen in einem Raum wohnen 
müssen. 
(Stadtv. Fritz Lange: Die Gehirngrippe ist aller 
dings nur bei den Besitzenden!) 
(Vorst.-Stellv. Dr. Caspari: Ich nehme an, Herr 
Kollege Lange, daß Sie nicht ein Mitglied des 
Hauses gemeint haben!) 
(Heiterkeit.) 
Wir werden das ja heute abend noch feststellen, denn 
solange noch 6—10 und 12 Personen in einem Raum 
wohnen müssen, wird grundsätzlich hinsichtlich der Be 
kämpfung der Tuberkulose nichts geschehen sein. 
Nach dem Bericht des Hauptgesundheitsamts hatten 
wir im Jahre 1924 17 287 Tuberkulosefälle. Wir haben 
im Jahre 1926, also im Vorjahre, 26 000 Fälle 
gehabt. Trotzdem wagen es die sogenannten Sachver 
ständigen mit der langjährigen Erfahrung, von denen 
wir ja der Meinung sind, daß sie lediglich im Interesse 
der Bourgeoisie und ihrer Kranken arbeiten, zu erklären, 
die Morbidität der Tuberkulose sei im Sinken begriffen. 
Ich glaube, die Zahlen geben einen erschreckenden Beweis, 
daß das nicht zutrifft. Es ist eben die Folge dieser 
Wirtschaftsführung, der Rationalisierung unter Herab- 
drückung der Lebenshaltung. Ehe Sie nicht auf diesem 
Gebiete ernsthaft etwas getan haben, um die Lebens 
haltung des Proletariats höher zu setzen, so lange wird 
auch der Kampf nicht im Ernst gegen die Tuberkulose 
geführt. Es ist ganz klar, jede Kuh, jedes Pferd, jeder 
Hund wird versorgt, tvird behütet, ivird gepflegt. Der 
Mensch gilt nur so lange, wie er seine Arbeitskraft an 
bietet und solange der Unternehmer die Arbeitskraft 
bezahlen kann. Wenn der Mensch keine Arbeitskraft mehr 
besitzt, dann kann er eben zugrunde gehen. 
Wir machen dem Hanptgesnndheitsamt den Vorwurf, 
daß es im letzten Nachtrag zum Etat die' Mittel für die 
Verschickung Tuberkulöser nicht angefordert hat. Im 
Ausschuß hatten wir eine große Ueberraschung. Es wurde 
uns vom Vertreter des Hauptgesundheitsamtes mitge 
teilt, daß bereits im September 1926 von dort aus 
100 000 M beim Magistrat für die Verschickung Tuber 
kulöser augefordert seien. Der Magistrat hat es nicht 
für nötig gehalten, diese 100 000 M zu bewilligen. Der 
Magistrat hat erst auf unsern Antrag hin die 100 000 M 
bereitgestellt. Wir kennzeichnen dieses Verhalten des 
Magistrats als unverantwortlich und als leichtfertig an 
gesichts der ungeheuren Zahl von Tuberkulosekranken, 
die wir hier in Berlin haben. 
Nun wurde uns -aber im Ausschuß erklärt, daß ja 
die Bezirke gar nichts angefordert haben. Ich erwähne 
das, weil ich befürchte, daß von der rechten Seite uns 
das vorgehalten wird. Es würde gesagt, daß die Bezirks 
ämter ja gar nicht mehr Mittel angefordert hätten. 
Nun, wir wissen ja doch darüber Bescheid. Wenn aus 
telephonischen Anruf vom Hauptgesundheitsamt erklärt 
wurde: mir haben keine Mittel, so tvird das Bezirksamt 
nie wieder, weil es ja auch nicht dieses Verantwortungs 
gefühl hat, anfragen oder mit Anforderungen kommen. 
Es ist bezeichnend, daß z. B. im Wedding in diesem 
Fonds für Tuberkuloseverschickung nur noch 1700 M 
vorhanden sind, jedoch in Zehlendorf noch 76.00 M. 
Diese Tatsache beweist das, was ich jetzt ausgeführt habe. 
Diese Tatsache zeigt uns aber auch etwas anderes. Sie 
zeigt uns, daß der Schlüssel, nach dem die Mittel ver 
teilt werden, ein völlig verkehrter ist. Wir haben im 
vorjährigen Etat und auch im diesjährigen Etat bereits 
beantragt, daß eine Revidierung dieser Schlüsselzahl 
durchgeführt wird. Jetzt werden die Mittel an die Be 
zirksämter nach Feststellung der gesamten gemeldeten 
offenen Tuberkulosefälle gegeben. Das ist verkehrt, denn 
in den westlichen Bezirken werden ja auch die Tuberkulose-
	        
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