Sitzung am 26. November 1925. 757
liegen noch drei weitere Dringlichkeitsanträge vor, die
nach dem Beschluß der Parteiführer mit zur Verhand
lung kommen sollen. Ich verlese sie:
Zunächst ein Dringlichkeitsantrag Czeminski und
Gen.:
Wir, Unterzeichnete, beantragen:
Die Stadtverordnetenversammlung wolle be
schließen, den Magistrat zu beauftragen, der Stadt
verordnetenversammlung umgehend eine Vorlage zu
unterbreiten, worin für alle Bedürftigen ausreichende
Mittel zur Winterbeihilfe bereitgestellt werden.
Diese Beihilfen sind in Lebensmitteln, Brenn
stoffen, Bekleidungsgegenständen oder in bar zu ge
währen.
Die Versammlung ersucht den Magistrat, Mittel
ztir Verfügung zu stellen, die es ermöglichen, auch
die ausgesteuerten Erwerbslosen bei den im ver
stärkten Maße in Angriff zu nehmenden Notstands
arbeiten zu beschäftigen.
Darüber hinaus ersucht die Versammlung den
Magistrat, bei Reich und Staat dahin zu wirken, daß
1. die Sätze der Unterstützung erhöht werden,
2. die Bedürftigkeitsklausel beseitigt wird,
3. die Kurzarbeiter-Unterstützung wieder einge
führt wird,
4. bei Nvtstandsarbeiten Tariflöhne bezahlt werden.
Ferner ersucht die Versammlung den Magistrat,
bei Reich und Staat darauf zu drängen, daß zur Be
kämpfung der Arbeitslosigkeit alle geplanten Ar
beiten unverzüglich in Angriff genommen und be
gonnene Arbeiten weitergeführt werden.
Der zweite Dringlichkeitsantrag Dethleffsen und
Parteifreunde lautet:
Die Stadtverordnetenversammlung ersucht den
Magistrat, bei der Reichsregierung vorstellig zu
werden, daß sie für die schleunige Beratung des Ge
setzentwurfs über die Arbeitslosenversicherung ein
tritt.
Ein weiterer Dringlichkeitsantrag Czeminski und
Gen.:
Die Stadtverordnetenversammlung möge be
schließen, die in Berlin vorhandenen Arbeitsnachweise
in einen solchen Zustand zu versetzen, daß sich die
Arbeitslosen ohne Gefahr für ihre Gesundheit dort
aufhalten können.
Dringend notwendig ist, daß in den Arbeitsnach
weisen gute Lüftung, Heizung und Reinlichkeit ge
schaffen werden.
Ferner ist zu empfehlen, daß man in den größeren
Arbeitsnachweisen Erfrischungshallcu einrichtet.
Zunächst einmal diese drei Anträge. Der Dring
lichkeit ist nicht widersprochen worden. Auch hier er
folgt kein Widerspruch. Dann werden diese drei An
träge mit Punkt 37 behandelt.
Es wird mir eben noch ein Antrag Kunze, Pein,
Danicke usw. überreicht:
Die Stadtverordnetenversammlung wolle be
schließen, den Magistrat zu ersuchen, Mittel zur Ver
fügung zu stellen, um allen Unterstützungsempfängern
einschließlich der Erwerbslosen eine einmalige Teue
rungszulage von 50 cM, zu gewähren und vor Weih
nachten auszuzahlen.
(Zuruf bei den Kommunisten: Anschluß verpaßt!)
Ich frage, ob der Dringlichkeit und der Verhand
lung in Verbindung mit Punkt 37 widersprochen wird.
Das ist nicht der Fall. Dann steht auch dieser An
trag mit zur Debatte.
Nun bitte, wer begründet den Antrag Gäbe! und
Gen.?
Das Wort hat Frau Stadtv. Rosenthal.
Stadtv. Frau Nosenthal: Es ist bedauerlich — man
muß das auch heute noch einmal feststellen —, daß die
neu gewählte Stadtverordnetenversammlung am ver
gangenen Donnerstag nicht die Zeit- aufgebracht hat,
über diese Dringlichkeitsanträge, die hier zur Erörte
rung stehen, zu sprechen. Man muß von dieser Stelle
aus erklären, daß es den Anschein hat, als ob einem
Teil der gewählten Mitglieder dieses Hauses der par
lamentarische Gang des Büros usw. wichtiger ist als
der Hunger derjenigen, die draußen vor der Türe stehen.
(Bei den Kommunisten: Sehr richtig!)
(Zuruf von der Tribüne.)
Es wäre bereits Aufgabe des M a g i -
strats gewesen, in diesen Dingen, die
jetzt mit brennender Not vor der Türe
stehe n, Vorarbeiten z u l e i st c it. Es wäre not
wendig gewesen, daß der Magistrat einer Viermillivnen-
stadt Vorlagen gebracht hätte, in denen er gesagt hätte,
wie er der Erwerbslosennot steuern will und wie er
die Dinge, die sich jetzt steigern, mildern will.
(Zuruf links: Heilsarmee!)
Wir sind momentan in einer wirtschaftlichen Krise,
die selbst von den Politikern, die rechts stehen, in letzter
Zeit als eine äußerst ernste bezeichnet wird. Seit Mo
naten wird sowohl im Reichstag wie auch im Landtag
und sonstigen Parlamenten viel darüber trompetet,
was der deutschen Wirtschaft alles droht. Aber Vor
sorge dafür zu treffen, was der deutschen Arbeiterschaft
droht, das ist nicht Aufgabe dieser Leute gewesen.
(Bei den Kommunisten: Sehr wahr!)
So haben wir jetzt den Zustand, daß, nachdem seit
Wochen die Erwerbslosenziffer in Groß-
Berlin w ö ch e n t l i ch um ca. 8000 steigt,
(Hört, hört!)
Sie jetzt erst, Ende November, dazu übergehen, zu über
legen, was Sie für diese Erwerbslosen tun wollen. Es
ist natürlich von vornherein klar, daß die Forderungen
nicht nur für die Erwerbslosen gestellt sein können,
sondern daß die Forderungen, die für die Erwerbslosen
gestellt sind, auch auf sämtliche Unterstützungsempfänger
ausgedehnt werden müssen.
(Bei den Kommunisten: Sehr wahr!)
Aber es ist doch das Brennendste, an diejenigen zu
denken, die dadurch, daß sie ohne Erwerbslosenunter
stützung herumlaufen müssen, sämtlicher Existenzmittel
bar sind. Für diese muß zuerst gesorgt werden.
(Bei den Kommunisten: Sehr wahr!)
Wir haben heute Zustände in der Erwerbslosen
fürsorge, durch die es vorkommt, daß jemand, der aus
der Arbeit entlassen wird oder der die Arbeit aus
zwingenden Gründen niederlegen muß, überhaupt keine
Unterstützung bekommt, sondern erst 14 Tage, mitunter
4 Wochen warten muß, ehe er unterstützungsberech-
tigt ist.
(Hört, hört!)
Wir haben Zustände, bei denen Angestellte, d i e
ein Monatsgehalt von 225 Jt gehabt
haben, überhaupt keine E r w e r b s l o s e n -
unter st ützung b e k o m m e u,
(Hört, hört!)
weil ihr Gehalt nicht mehr krankenversicherungspflichtig
war, weil die Angestellten in einer anderen Versiche
rungspflicht stehen als die Arbeiter. Ich weiß nicht,
ob man sich vorstellt, daß ein Angestellter bei diesem
Gehalt solche Ersparnisse machen kann, daß er nachher
% Jahre als Erwerbsloser leben kann. Das sind Zu
stände, die einer Viermillionenstadt unwürdig sind.
(Bei den Kommunisten: Sehr wahr!)
Der Not der Erwerbslosen kann nicht gesteuert
werden, indem hier Anträge gestellt werden, wie sie
Herr Kunze stellen will, ihnen einmal 50 dH zu geben.
Ich will überhaupt von vornherein sagen: Die Er
werbslosen pfeifen auf die Unterstützungen, sie wollen
Arbeit haben. Vor allem wehren sich die Erwerbs
losen dagegen, daß sie bei der Erwerbslosenfürsorge,
daß sie bei den Unterstützungsämtern als Bettler be
handelt werden, daß sie behandelt werden als Menschen
zweiten Grades.
(Bei den Kommunisten: Sehr richtig!)
Es i st tatsächlich notwendig, daß in
d i e Erwerbslosenämter und in d i e
Unter st ützungsämter einmal ein ande
rer Geist einzieht,
(Bei den Kommunisten: Sehr wahr!)