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Volume No 30, 23. Oktober 1913

Full text: Stenographische Berichte über die öffentlichen Sitzungen der Stadtverordnetenversammlung der Haupt- und Residenzstadt Berlin (Public Domain) Issue40.1913 (Public Domain)

Stadtv.-Vers. Sitzung 
iie Invalidenversicherung auszubauen, damit man den 
Angestellten gerecht werden würde. Wenn die Verhältnisse 
o liegen, kann mail nicht kurzerhand sagen, daß die Ange 
legten dieses Gesetz wollten, und daß sie auch die Folgen 
ragen müssen. Man sagt weiter: die Bedingungen waren 
m Anfang auch noch nicht vollständig bekannt. Wer geglaubt 
iat, daß die Gewährung eines Rechts genügen würde, daß 
imtt nicht auch die Küudigungsmöglichkeit auf bestimmte 
fälle beschränken müsse, hat die Sachlage nicht genügend 
rkannt. Es wäre ein Unsinn gewesen, wenn man sich damit 
icgnügt haben würde, den Angestellten das Rächt zu geben 
ms Ruhegehaltszahlung, ohne auf die Kündigung einen 
Einfluß zu üben, so daß man die Angestellten entlassen und 
im das Ruhegeld bringen könnte. Es ist eine notwendige 
folge des Gesetzes, daß solche Bestimmungen aufgenommen 
ind. Mit ihnen hat man schon rechnen müssen und mich 
^rechnet. 
Nun sagt der Magistrat, es kämen 3300 Personen in 
frage, für die 397 000 M Beiträge zu zahlen wären. Wenn 
iic das umrechnen, meine .Herren, so kommt im Durchschnitt 
iuf jeden Angestellten und aus sein Teil ungefähr 60 M. 
Sun-frage ich Sie: sind wirklich die Gehälter der Privat» 
ingestellten so hoch, daß sie ohne weiteres einen Abzug von 
>0 M int Jahre ertragen können? Der Herr Vorr.edner 
agte, das sei gewissermaßen eine Sparkasse, in die man 
Md einzahlt, um es nachher wieder herauszubekommen, 
iamt muß man aber erst prüfen, ob die Möglichkeit, zu 
ipnreu, diesen Angestellten sonst auch gegeben wäre, oder 
ib man hier nicht ein Zwangssparsystem einführt auf Kosten 
>er Lebenshaltung der Angestellten. Ich meine, daß man 
«s hier tut, wenn man den Angestellten bei der Zahlung 
>er Beiträge nicht förderlich ist. 
Man hat die Angelegenheit nach verschiedenen Seiten 
erwogen. Ich gebe ja zu, daß die Materie ziemlich schwierig 
ist. Darüber sind wir auch in der Deputation einig gewesen. 
516er wo ein Wille ist, hätte sich auch ein Weg gefunden. 
Zer Magistrat hat erwogen, inwieweit man denjenigen, die 
10 Jahre beschäftigt sind, ein solches Recht einräumen könne, 
irr hat davon Abstand genommen, weil es nach seiner 
Meinung nicht anginge, einen Unterschied zu machen. Man 
Me dann allen Angestellten den Rechtsanspruch gewähren 
müssen, und das könnte einen Einfluß aus die Invaliden 
versicherung haben, indem alle diese Personen aus der 
Invalidenversicherung herausfallen würden. Der Magistrat 
iagt, das könne er nicht anstreben; bettn erfahrungsgemäß 
würden alle diese Personen um ihre erworbenen Rechte bei 
Der Invalidenversicherung kommen, weil die Erfahrung lehre. 
Daß sie selbst nicht weiter zahlen. Wir können aber sonst 
zute Einrichtungen nicht von dem Unverstand der Betreffenden 
abhängig machen, die, nachdem die Gesetze schon so lange be 
stehen, noch nicht gelernt haben, ihre Rechte wahrzunehmen. 
Man mag versuchen, die Betreffenden zu belehren, soll sich 
iber nicht abhalten lassen, Einrichtungen zu treffen, die zum 
Kohle der Betreffenden notwendig sind. 
Dann die Kündigungsbeschränkung! Der Magistrat sagt, 
!s würden Wege gesucht werden, die Betreffenden, die an 
nner Stelle überflüssig werden, nach einer andern hinüber» 
zuschieben; das würde aber ganz gewaltige Schwierigkeiten 
Ergeben. Ich meine, diese Schwierigkeiten würden ganz ge 
ringer Natur sein, wenn eine gute Organisation geschaffen 
würde. Bei Tausenden und aber Tausenden von Angestellten 
muß man die Arbeitsmöglichkeit so regeln können, daß man 
Die Betreffenden an die richtige Stelle dirigieren kann, wenn 
m einem Platz die Arbeit aufhört. 
Nun ist aus die großen Segnungen des Heilverfahrens 
hingewiesen worden. Niemand von uns wird das Gute eines 
beizeiten eingeleiteten Heilverfahrens und seinen Segen be 
streiten wollen. Aber ob diese eine Tatsache uns verleiten 
Erntn, so vorzugehen, wie der Magistrat es will, das möchte 
ich billigerweife doch bezweifeln. Hier sind es immer nur 
Einzelne, denen das Heilverfahren zuteil wird, während die 
zroße Masse durch die Summen, die ihnen hier entzogen 
werden, der Erkrankungsgesahr noch viel eher ausgesetzt wird 
lls früher. Wenn 60 bis 100 M dem Haushalt auf einmal 
cntzogen werden — es handelt sich um Leute, die zwar nicht 
lehr gut versorgt sind, aber ihrer Stellung entsprechend auf 
treten müssen —, dann würde man auf der einen Seite ein 
Heilverfahren in Aussicht stellen und ans der andern Seite 
Die Lebenshaltung der Betreffenden so verschlechtern, daß sie 
rin Heilverfahren bald brauchen werden. Das ist gewiß 
nicht die Absicht des Magistrats gewesen; man könnte es 
nber als den Erfolg ansehen. 
am 23. Oktober 1913. 
Dann ist die Frage der Beitragsubernahme auch im 
Magistrat erörtert worden. Das ethische Moment ist gewaltig 
in den Vordergrund gedrängt worden. Wir machen so 
ungeheuer viel in Ethik, daß einem bald bange davor wird. 
Die Ethik hört da auf, wo der Geldbeutel leer ist; und sie 
sängt da etwa an, wo im Geldbeutel noch etwas drin ist. 
Wenn Sie sich über die Stimmung der Angestellten informieren 
wollen, dieselben fangen schon au, sich zu melden und Ihnen 
zu zeigen, wie hocherfreut sie über Ihre Fürsorge und die 
mögliche Gehaltserhöhung sind. Da hat eine Versammlung 
von Architekten und Technikern stattgefunden, die sich ein 
gehend mit dieser Frage beschäftigt haben und nicht zufrieden 
sind, sondern aus sich heraus wünschen, daß die Beiträge 
zum mindesten von der Stadt übernommen werden. 
Es ist vorhin noch ein Moment eingeworfen worden, 
die Freizügigkeit der Angestellten. Dieses Moment unter 
schätzen wir durchaus nicht. Aber wenn wir von der Be 
freiung absehen sollen, weil die Materie schwierig ist, so 
verlangen wir aus der andern Seite, daß Sie den Angestellten 
genügend entgegenkommen und nicht etwas nur in Aussicht 
stellen, was eigentlich lauge hätte gegeben werdxn müssen. 
Vor uns liegt eine Petition, in der die städtischen 
Architekten, Ingenieure und Techniker die Stadtverordneten 
versammlung ersuchen, zu beschließen, daß die Stadt die 
andere Hälfte der Beiträge auch übernimmt. Diese Herren 
fragen weniger nach den ethischen Momenten: aber sie be 
stätigen in ihren Ausführungen, indem sie aus die Petition 
verweisen, die sie schon im vorigen Jahre an Magistrat und 
Stadtverordnetenversammlung gesandt haben, daß von Ethik 
keine Spur vorhanden ist, wo die Mittel knapp sind. Sic 
weisen nach, daß der .Haushalt aus das Gröblichste ein 
geschränkt werden muß, wenn die Angestellten zur Zahlung 
der Beiträge verpflichtet sind. 
Nun kommt ein weiteres Moment. Mau kann sich des 
Gedankens nicht erwehren, daß dieses die Hauptsache bei den 
Beschlüssen des Magistrats gewesen ist. Wir wissen, daß der 
Magistrat bei allen Beschlüssen, die er, soweit sie die Arbeiter 
und Angestelltenlöhne betreffen, saßt, immer ängstlich bemüht 
ist, sich mit der Industrie dort draußen zu vergleichen und 
aufzupassen, ob nicht etwa von der Stadt ein Pfennig mehr 
gezahlt wird als draußen. Man bemüht sich stets, noch etwas 
hinter den Löhnen zurückzubleiben, die draußen gezahlt werden. 
Das halten wir durchaus für einen verkehrten Standpunkt. 
Wir verlangen von einer Kommune wie Berlin, daß sie auch 
in der Behandlung der Arbeiter und Angestellten absolut 
vorbildlich ist und sich nicht nach Beispielen draußen richtet. 
Aber wenn man das schon will, mag man sich auch in 
formieren über all die Firmen, die schon im Privatdienst 
vertrag die Beiträge mit übernommen haben und die nicht 
so selten sind, als es nach den Ausführungen des Magistrats 
den Anschein hat. Eine ganze Reihe von Firmen hat sich 
ohne weiteres gesagt: wenn wir die Beiträge nicht selbst 
zahlen, wird mau höhere Löhne, höhere Besoldung verlangen, 
und so gleicht sich das wieder aus. Die Industrie muß das 
eben auf die Herstellungskosten aufschlagen, weil sic weiß, 
daß die Angestellten, wenn sie ihr Gehalt berechnen, die Ver 
sicherungskosten abziehen und sich fragen: was bleibt für die 
Lebenshaltung übrig? 
Andererseits kann man sich des Gedankens nicht er 
wehren, daß auch in dem Rat der Städte Berlin an erster 
Stelle stehen müßte. Wir wissen, daß eine ganze Reihe von 
Städten, die in ihrer Wohlhabenheit lange nicht an die große 
Kommune Berlin heranreichen, diese Frage behandelt und in 
unserm Sinn gelöst hat. Diese Städte, die ich eventuell 
namhaft machen kann, haben beschlossen, die Beitrüge zu 
übernehmen. Sie haben auch andere Beschlüsse gefaßt, die 
diese Materie regeln. Wenn es bei de» kleinen und kleineren 
Kommunen möglich war, muß es auch bei der großen 
Kommune Berlin möglich sein. Ich sage noch einmal, daß 
der Magistrat sich dem voll anschließen kaun, was aus der 
Deputation herausgekommen ist. Wenn er gesagt hat, es 
bieten sich so ungeheure Schwierigkeiten, so erkennen wir das 
an und verkennen keineswegs, daß die Freizügigkeit unter 
bunden wird, und betrachten das nicht als wünschenswert. 
Der Magistrat konnte sich aber auch dem Beschluß der 
Deputation voll anschließen, die Gehälter dieser Angestellten» 
gruppen so zu erhöhen, daß sie die Hälfte der Beiträge zahlen 
können. .Dieser Lösung hätten wir zugestimmt und uns 
damit befreundet. Wenn man aber eine Lösung bringt wie 
die vorliegende, die nur bedeutet: wasch' mir den Pelz und 
mach' ihn nicht naß! so ist das eine Verbeugung vor den 
Angestellten, die ihnen in Wirklichkeit nichts bringt, ein
	        
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