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Volume No. 32, 2. November 1911

Full text: Stenographische Berichte über die öffentlichen Sitzungen der Stadtverordnetenversammlung der Haupt- und Residenzstadt Berlin (Public Domain) Issue38.1911 (Public Domain)

nicht erreicht werden, weil wir die wohlhabenden Eltern nicht hin 
dern können, die Kinder in Privatschulen hineinzuschicken, um ein 
volles Jahr zu sparen. Herr Dr. Arons nickt mir verständnisvoll 
zu;'ich habe auch nicht daran gezweifelt, daß er das einsieht. Dann 
sollte er aber auch die Konsequenz ziehen: bloß um das „Prinzip" 
aufrecht zu erhalten, daß ich ein Gegner der Vorschule bin, will ich 
nicht alle Eltern zwingen, ihre Kinder 1 bis 1% Jahre verlieren zu 
lassen. Das kann nicht das Ziel des Antrages von Ernst gewesen 
sein. 
Der Schulrat Michaelis war es, der sich gegen die Behauptung 
gewandt hat, es sei die Vorschule eine Standesschule. Den Umstand, 
daß in der Vorschule keine Freistellen vorhanden sind, kann ach als 
einen Beweis für den Charakter einer Standesschule nicht anerkennen; 
denn die Freistelle ivird doch nur den befähigten Schülern gewährt, 
und die Schüler müssen doch Zeit haben, ihre Befähigung nachzu 
weisen. 
Indessen — und so weit kann ich nur persönlich sprechen -, 
ich bin nicht von der Auffassung des Herrn Kollegen 
Dr. Arons sehr entfernt. Ich will nicht sagen, daß die Vor 
schule eine Standesschule sei, die alle Erfordernisse erfüllt, 
die man an eine solche stellt; aber daß die Vorschule 
sich darstellt als ein Privileg der etwas Bemittelten, nicht 
der Reichen, gegenüber den Unbemittelten, das wird kein Mensch 
in diesem Saale bestreiten wollen. Diejenigen Eltern, die nicht das 
Geld haben, Schulgeld aufzuwenden, können die Kinder nicht in 
die Vorschule schicken, und das ist für uns ein wesentlicher Grund, 
weshalb wir prinzipiell Gegner der Vorschule sind. Wir können aber 
nicht das Kind mit dem Bade ausschütten, sondern wir können 
uns nur an die zuständigen Instanzen wenden, an das Ministerium, 
und wir dürfen die Frage, lver für den jetzigen Zustand verantwortlich 
ist, nicht verwischen lassen. Herr Dr. Arons darf deshalb nicht hier 
auftreten und sagen, auf die Prinzipienerklärungen der Freisinnigen 
könnte er nicht mehr Wert legen, falls hier eine Vorschule begründet 
werde. Er müßte vielmehr sagen, wie es der Wahrheit entspricht, daß 
wir mit Bedauern die Vorschule für ein Uebel, aber, so lange das 
Ministerium cs nicht anders zuläßt, für ein notwendiges Uebel halten. 
Dieser Notwendigkeit kann sich nur derjenige entziehen, der ent 
weder weltfremd ist — und das kann ich von Herrn Dr. Arons nicht 
gut annehmen —, oder der sich freut, eine Gelegenheit zu finden, um 
mie Erklärung freisinniger Männer für unberechtigt zu bezeichnen. 
Niemals hat Herr Cassel im Abgeordnetenhause den Standpunkt 
verleugnet, daß wir die Vorschule im gegenwärtigen Stadium als 
ein Uebel, aber als ein notwendiges gelten lassen wollen; niemals 
hat er den Standpunkt verleugnet, daß er mit Freude gegen hie 
Vorschule stimmen würde in demselben Augenblick, wo die Möglichkeit 
für eine organische Angliederung der Volksschule an die höheren 
Schulen gegeben ist. Sollen wir wegen "dieser Fragen einen Ausschuß 
wählen? Das scheint mir auch vom Uebel. Denn ich kann mir nicht 
vorstellen, daß jemand unter uns sitzt, der nicht zu dieser Frage 
entschiedene Stellung genommen hat Ich glaube nicht, daß wir 
im Ausschuß, huch wenn wir noch so beredte Vertreter unserer Auf 
fassung entsenden, imstande wären, Herrn Dr. Arons von seiner 
Meinung zu bekehren; dann aber soll auch Herr Dr. Arons nicht das 
Vertrauen zu der Kraft seiner Gründe haben, daß er es übernimmt, 
uns zu beweisen, daß wir unsern Standpunkt verleugnet hätten. 
Ich glaube, wir tun gut daran, wenn wir die Vorlage des Magistrats 
ohne Allsschußberatung annehmen. 
(Bravo!) 
Stadtverordneter Dr. Glatzel: Einige Bemerkungen der 
.Herren Vorredner zwingen mich zu einer kurzen Erwiderung. Herr 
Dr. Arons hat vorhin ausgesprochen, daß die liberalen Mitglieder 
dieser Versammlung bei früheren Beratungen die Vorschule verurteilt 
hätten, und er könne sich nicht genug wundern, daß dieselben Mit 
glieder nunmehr bei der vielleicht letzten Gelegenheit, wo eine höhere 
Lehranstalt errichtet wird, doch für die Errichtung einer Vorschule 
sprechen. Wenn das in dein Sinne gemeint ist, daß die Vorschule 
verurteilt wird, weil sie nach der Ansicht des Kollegen Dr. Arons 
eine Standesschule ist, so würde ich das verstehen können. Ich habe 
mich früher auch auf denselben Standpunkt gestellt, indem ich die An 
sicht vertrat: es ist besser, wenn alle Kreise ihre erste Ausbildung in 
der Gemeindeschule erhalten. Ich habe diesen Standpunkt früher viel 
leicht noch etwas schärfer ausgesprochen. Jetzt, wo ich jedes halbe 
Jahr Gelegenheit habe, 50 oder noch mehr Schüler aus den Gemeinde- 
schulen prüfen lassen zu müssen — das ist Vorschrift, die ich nicht 
außer Acht lassen kann —, muß ich doch erklären, daß, während die 
Schüler von den Vorschulen fast insgesamt die Prüfung für die Auf 
nahme in die Sexta bestehen, ein großer Bruchteil der Gemeinde- 
schüler, die vier Jahre die Gemeindeschule besucht haben, diese Prüfung 
leider nicht bestehen. 
(Hört!) 
Das ist eine Tatsache, die nicht wegzuleugnen ist, und ich habe seiner 
zeit das Resultat, weil es mich selbst erschreckt hat, Herrn Stadtschul 
rat Dr. Fischer mitgeteilt und ihm die Arbeiten zukommen lassen. 
Woran das liegt, das werden wir nicht herausbekommen. Ich glaube, 
bei der einen Anstalt.ist der Anschluß da, bei der andern ist der An 
schluß an die Sexta nicht vorhanden; vielleicht ist auch der achtklassige 
Lehrplan daran schuld. Sonst kann ich mir die Sache nicht erklären. 
Der Umstand, daß häufig genug W/2 Jahre mehr verbraucht 
werden, um die Schüler für die Sexta reif zu machen, veranlaßt mich, 
zu sagen: solange die Gemeindeschule soviel Zeit erfordert, wie es 
jetzt der Fall ist, kann ich mich nicht auf den Standpunkt stellen, daß 
wir die Vorschulen abschaffen. 
Dann hat Herr Kollege "Dr. Kuhlmann gesagt, wir hätten aus 
gesprochen, die Realgymnasien wären durch die Schulkonferenz aner 
kannt worden und hätten nur dadurch ihre Existenzberechtigung. Das 
ist ganz falsch; gerade das Realgymnasium ist auf der Schulkonferenz 
von 1891 gestrichen worden, und kurz darauf erst hat die Regierung 
doch wohl gesehen, daß sie das Realgymnasium nicht so ohne weiteres 
wegstreichen kann, und hat es bestehen lassen. Es hat seitdem eine 
Bedeutung gewonnen, die eine Streichung absolut unmöglich macht. 
Nun möchte Herr Dr. Kuhlmann über den neuen Typ, das 
Reformrealgymnasium, im Ausschuß etwas hören. Ja, dazu einen 
Ausschuß einzusetzen, um stundenlang darüber zu sprechen, daß dieser 
neue Typ darin besteht, daß die Sexten, Quinten und Quarten des 
Reformrealgymnasiums identisch sind mit denen in der Oberrealschule, 
daß in der Untertertia an der Oberrealschule das Englische anfängt, wäh 
rend auf dem Resormrealgymnasinm das Lateinische beginnt, und daß 
dann in der Sekunda an diesem das Englische einsetzt — weiter kann 
Ihnen in dem Ausschuß auch nichts geboten werden —, das wäre 
doch ivohl zu viel des Guten. Daß das Reformrealgymnasium sich 
bewährt hat, das kann Ihnen noch nachgewiesen werden; es kann 
Ihnen aber wieder nur gesagt werden: dort und dort ist eine solche 
Schule vorhanden, und sie ist eine anerkannt nützliche Schule. Ich 
halte die Beratung -in einem Ausschuß über ein Resormrealgymnasinm 
für vollständig überflüssig, und ich bitte Sie deshalb, den Antrag des 
Magistrats ohne weiteres anzunehmen. 
(Bravo!) 
Stadtschulrat Dr. Michaelis: Meine Herren, ich will nur die 
eine Tatsache feststellen, daß ich bereits am 9. April 1904 in einem 
Ausschuß der Stadtverordnetenversammlung und des Magistrats einen 
längeren Vortrag gehalten habe, in dem ich die Prinzipien des Reform- 
realgymnasiums ausführlich auseinandergesetzt habe; ich habe also dieser 
Pflicht, Ihnen den Typus des Resormrealgynmasiums klarzulegen, bereits 
vor 7 Jahren genügt, und ich habe damals bereits empfohlen, ein 
Reformrealgymnasium einzurichten. Von neuem ist Ihnen der Plan 
des Reformrealgymnasiums bei der Errichtung der ersten Studienanstalt 
vorgelegt worden. Jetzt existieren die amtlich gedruckten Lehrpläne, in 
denen die Darlegung des Lehrplans bis in die einzelnsten Punkte 
gegeben ist. Ich könnte in einem Ausschusse wirklich nichts weiter 
machen als diesen Lehrplan vornehmen und Ihnen sagen: bitte, das 
steht da gedruckt. Ich glaube, die Lektüre solcher Schrift zu Hause ist 
angenehmer als die Erörterung in einem Ausschuß. Ich kaun Sie also 
nur nochmals bitten: stellen Sie die Eröffnung der ganzen Schule nicht 
dadurch in Frage, daß Sie jetzt noch die Sache verzögern! Sie wird 
auch so, da sie viele Instanzen passieren muß, gerade und eben recht 
zeitig zustande kommen. 
Stadtverordneten Ladewig: Zu meinem Bedauern bin ich 
jetzt erst in der Lage, mich an der Debatte zu beteiligen. Ich weiß 
daher nicht, was hier vorgebracht ist; 
(große Heiterkeit) 
aber ich für meine Person muß sagen, daß ich dem Antrage der 
Kollegen Arons und Genossen zustimmen muß. Ich hatte mich schon 
das vorige Mal als Redner gemeldet, wußte also nichts von der 
Petition der Lehrer, die wir inzwischen bekommen haben, sodass also 
diese für meine An- und Absicht nicht in Betracht kommen kann. Ich 
bin der Ansicht, daß eins der besten Argumente gegen die Vorschule 
das ist, das der Kollege Sökeland in der vorigen Sitzung gegeben hat. 
Ich weiß nicht, ob der Kollege Sökeland, der tüchtige, sozialpolitisch 
gerecht denkende Mann, als den wir alle ihn kennen, geworden wäre, 
wenn er nicht, wie er uns mitteilte, in seiner Jugend die Volksschule 
besucht hätte. So wie dem Kollegen Sökeland geht es noch vielen 
anderen. 
(Zuruf.) 
— Mir auch. Die Lehrer gestehen selber ein, daß die Kinder, die 
ihnen aus der Gemeindeschule zukommen, im allgemeinen tüchtiger 
und besser vorgebildet sind als die Vorschäler. 
(Lebhafter Widerspruch.) 
— Mir ist das von Schnllenten versichert worden. Für mich ist in 
dessen das Wesentliche das sozial bildende Element, welches darin 
liegt, daß die Kinder der verschiedenen Bevölkerungsklassen in den 
ersten Jugendjahren, in denen die Eindrücke am meisten haften bleiben, 
zusammen unterrichtet werden sollen. Da wird eine Grundlage gelegt, 
die den Kindern für ihr ganzes Leben gut tut. Von diesem Gesichts 
punkt ausgehend, hat ja auch die Stadt selber früher beschlossen, 
soviel mir bekannt ist, bei neuen Anstalten, die wir errichten, keine
	        
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