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Volume No. 9, 2. März 1911

Full text: Stenographische Berichte über die öffentlichen Sitzungen der Stadtverordnetenversammlung der Haupt- und Residenzstadt Berlin (Public Domain) Issue38.1911 (Public Domain)

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strenge Praxis geübt wird, so koinnren viele dorthin, und dann ist 
ans einmal ganz unerwartet die Station überfüllt. Wir werden es 
mts angelegen sein lassen, Abhilfe zu schaffen. Ich habe mit dem 
Dezernenten gestern und heute konferiert, und es wird wahrscheinlich 
in der morgigen Magistratssitzung Beschluß gefaßt werden, daß wir 
schleunige Abhilfe schaffen, so daß schon in wenigen Tagen Vorsorge 
getroffen ist. 
Wenn von Herrn Stadtverordneten Bruns mit einer gewissen 
sittlichen Entrüstung gesagt ist, daß in diese Geschlechtskrankenstation 
auch Fürsorgezöglinge gebracht werden, so kann ich das nicht in Ab 
rede stellen. Es sollen sich gegenwärtig vier solcher Zöglinge dort 
befinden; aber die sind nicht von uns dorthin gebracht, das sind 
nicht Berliner Zöglinge, sondern das sind Mädchen, die auswärts 
unter Fürsorge gestellt sind, die hier die Polizei aufgreift und in 
diese Station schafft. Denen können wir nicht ansehen, daß sie Für 
sorgezöglinge sind, und wir haben auch nicht .die Verpflichtung, sie 
anderweitig in der Fürsorge unterzubringen. Also das sind Tat 
sachen, denen gegenüber wir einen Einfluß überhaupt nicht haben. 
Wir können nur darauf dringen, daß sie wieder fortgeschafft werden; 
aber sie werden uns gebracht, ohne daß wir sie als Fürsorgezöglinge 
selbst kenne». 
Der Herr Stadtverordnete Bruns hat eine ganze Reihe von 
Ausgabe» in Aussicht gestellt, die ivir noch übernehmen sollen. Ob 
das für unsern Etat günstig sein würde, lasse ich dahingestellt. Es 
ist li. a. gewünscht worden, daß wir dir Wohnungsfrage lösen, ein 
Wohnungsamt errichten. Ich bin mit dem Herrn Vorredner ein 
verstanden, daß die Wohnungsfrage in Berlin dringend einer Lösung 
bedarf: aber ich mache Sie auf eins aufmerksam. Solange wir nicht 
die Wohnungspolizei haben, ist die wirkliche Lösung der Wohnungs 
frage für die Gemeinden kaum möglich. 
(Sehr richtig!) 
Man hat gesagt, das müsse durch Baubeschränkungen erreicht 
werden. Ja, welchen Einfluß haben wir auf die Baubeschränkungen? 
Wir könnten vielleicht eine Anregung geben, aber ob der Anregung 
stattgegeben wird, müssen wir abwarten. Ich meine, es ist eine 
nicht recht würdige Stellung für uns, wenn wir jetzt ein großes 
Wohnungsamt einführten, das eigentlich nichts anderes tun kann, 
als in denjenigen Fällen, wo cs glaubt, es müsse etwas geschehen, 
zur Polizei zu gehen und zu sagen: sei so gut und hilf hier ab! 
Ob man es trotzdem tun will, obwohl es eine halbe Maßregel bleiben 
muß, kann später erwogen werden. Aber etwas Durchgreifendes 
können wir aus diesem Gebiet zur Zeit nicht schaffen. 
Endlich sind hier eine ganze Reihe von politischen Fragen er 
örtert worden, und es liegt ja nahe, daß man bei der Etatberatnng 
an diesen Sachen nicht vorübergeht. Ich möchte zunächst eine Spe 
zialfrage ausschalten, das ist die Erwerbung des Opernhauses. Ich 
stimmte mit Herrn Geheimrat Cassel vollständig überein, daß wir 
vom rein kommunalen Interesse ans das Opernhaus zu erwerben 
kein Bedürfnis empfinden können. Ich glaube, wir werden einmal 
über diese Frage zu einer andern Zeit diskutieren. Darauf aber 
möchte ich schon heute hinweisen, daß wir ein gewisses Interesse 
haben, daß dieses Gebäude an der Stelle, in der Schönheit, die cs 
früher hatte, und zu der es wieder hergestellt werden soll, erhalten 
bleibe, und daß wir auch ein gewisses Interesse daran haben, daß 
ein neues Opernhaus in schöner Weise an anderer Stelle entstehe. 
(Sehr richtig!) 
Ich glaube, man muß da den Standpunkt einnehmen, daß wir 
men» wir hier entgegenkommen, auch ein Entgegenkommen bei andern 
Stellen erwarten können. 
(Sehr richtig!) 
Ich hoffe, daß sich eine Form finden wird, um das zu erreichen. 
Dann ist sehr viel über den Zweckverband und über die Ent 
wicklung vvil Groß-Berlin gesprochen worden. Ich glaube, Sie können 
von Ihrem Oberbürgermeister verlangen, daß er seine Meinung zu 
dieser Sache ansspricht. Da kann ich nur sagen: die beiden Zweck- 
vcrbandsgesetze, sowohl das für Groß-Berlin als auch das allgemeine 
Gesetz, sind in der Fassung, wir sie eingebracht worden sind und jetzt 
Gegenstand der Beratung sind, für mich unannehmbar. 
(Bravo!) 
Sie enthalten eine sehr große Gefahr nicht nur für Berlin, son 
dern für du Entwicklung der Städte überhaupt. Insbesondere möchte 
ich betonen, daß mich das allgemeine Zweckverbandsgesetz für Berlin 
eine ernste Gefahr in sich schließt; denn es ist gar nicht änsgeschtossen, 
auch wenn das Zweckverbandsgesetz für Groß-Berlin Gesetz werden 
sollte, dann daneben noch ans Grund des allgemeinen Zweck 
verbandsgesetzes besondere Zweckverbände für dieses und jenes Ge 
biet zu schaffen. Daß das eine vollständige Zersplitterung des Ge 
meindewesens würde, und daß es kaum möglich wäre, dann den Ge 
meinsinn und das Interesse an der Gemeinde so, wie es die Städte- 
vrdnung gewollt hat, und auch den Bürgersinn für das Vaterland zu 
entwickeln, das brauche ich Ihnen nicht näher darzulegen. Jedenfalls 
also müßten erhebliche Aenderungen kommen, wenn man diese Ge 
setze als zweckmäßig anerkennen wollte. 
Nichtsdestoweniger bekenne, ich offen: ich habe eine gewisse Freude 
darüber, daß man endlich überhaupt an diese Materie herangegangen ist. 
(Sehr richtig!) 
Ich habe weit länger als 10 Jahre nie verabsäumt, auch an 
dieser Stelle immer und immer wieder zu erklären, daß die Lösung 
der Frage von Groß-Berlin das Allerdringendste ist, und daß die 
Rückständigkeit ans 'diesem Gebiete der schwerste Schaden .ist, der 
Berlin trifft. Ich habe immer betont, daß nach meiner Auffassung 
eine richtige Lösung nur sein kann eine Eingemeindung in großem 
Umfange. 
(Lebhafte Zustimmung.) 
Ich bin mir aber manchmal wie der Prediger in der Wüste 
vorgekommen. Ich habe auch in Kreisen, tvo ich das eigentlich er-, 
warten zu können glaubte, sehr wenig Widerhall gefunden. Jetzt 
kommen die Verhältnisse mit zwingender Gewalt, und ich bin der 
Ueberzeugung, daß die Lösung mit dem Zweckverband, etwa nach 
Art des Londoner County Council, nicht eine endgültige sein wird. 
Ich bemerke, daß bei uns Pie Verhältnisse iganz anders liegen. 
In London sind die Gemeinden ziemlich von derselben Größe, und 
das (Verhältnis, daß eine der Gemeinden an Einwohnerzahl und 
Bedeutung so überragt, wie das hier der Fall ist, waltet dort 
nicht ob. Ich bin überzeugt, daß die Bewegung, an deren Anfang 
wir jetzt stehen, schließlich nicht anders enden kann als mit der 
Schaffung eines Groß-Berlin durch eine angemessene Eingemeindung. 
(Lebhafter Beifall.) 
Stadtverordneter Rosenow: Meine Herren, die späte Stunde 
wird es mir ermöglichen, sehr kurz zu sein. Ich werde mich mit 
dem Etat selbst wenig beschäftigen, weil ich mir sage, daß, wenn 
wir an dem Etat Aenderungen vornehmen wollen, um womöglich 
die Belastung unserer Steuerzahler zu verringern, zuvor ein eifriges 
Studium im Etatausschuß notwendig ist. 
Auch ich möchte zunächst einmal Herrn Kollegen Dyhrenfurth 
gegenüber sagen: was läßt er denn eigentlich noch an unserer städtischen 
Verwaltung gelten? 
(Sehr richtig!) 
Er hat die sämtlichen Kapitel des Etats vom ersten bis zum letzten 
durchgenommen und überall die erheblichsten Bemängelungen gezogen. 
Ueber die Rieselgüter haben wir durch den Mund des Kollegen Mommsen, 
seines Fraktionsfreundes, -gehört, wie sehr er den Leiter unserer Ka 
nalisationsverwaltung und der Rieselfelder gelobt hat, wie er dessen 
Grundsätzen zugestimmt hat. Jetzt nun, nachdem wir Herrn Stadtrat 
Marggraff wegen seiner erheblichen Verdienste um diese Verwaltung 
zum Ehrenbürger gemacht haben, tritt der Herr Kollege Dyhrenfurth 
in der Versammlung aus und reißt alles herunter. 
(Sehr richtig! und Widerspruch.) 
Dann werden wir vielleicht ein Mitglied einer Landwirtschastskammer 
oder sonst einen Agrarier herbeiholen müssen, um die Güter zu ver 
walten. Ich glaube, wir werden vielmehr nach sorgsamer Abwägung 
der Verhältnisse vorwärts gehen und weitersteigende Erträge von 
den Gütern haben. Wir werden uns nicht dadurch beirren lassen, 
daß uns jemand sagt, es sei dort zu teuer gebaut, oder der elektrische 
Auszug sei überflüssig. 
Dann wird geklagt über das Anwachsen unseres Beamtenheeres. 
Ja, diese Klagen hören wir häufig, und wir setzen bei jeder Vorlage 
des Magistrats, durch die neue Beamte verlangt werden, einen Aus 
schuß ein. der hochnotpeinlich untersucht, ob die Beamten nötig sind, 
und wir kommen dann aus dem Ausschuß heraus, ohne nur einen 
Sekretär gestrichen zu haben. 
(Sehr richtig!) 
In einer bürokratischen Verwaltung, wie die einer Stadtgemeinde 
nun einmal nur sein kann, müssen eben auch Beamte sein, um die 
Arbeiten zu erledigen. Wenn wir die Summe unserer Verwaltnngs- 
kosten der Gesamtsumme des Etats gegenüberstellen, so ist eine be 
sondere Klage nicht zu erheben, daß der Prozentsatz zu hoch sei. 
(Zuruf.) 
— Herr Kollege Bamberg ruft mir das Wort Handelskammer zu. 
Ganz richtig! 
Auch sch habe die schmerzliche Empfindung gehabt, daß ein 
Kaufmann hier auftritt und Vorwürfe gegen die Häsen erhebt. Häfen 
kann -man dock nicht unter dem Gesichtswinkel werbender Anlagen 
betrachten. Wenn sie etwas bringen, um so besser. 
Was dann die, Wahl- und Pslichtsortbildungsschnlen betrifft 
ja, wenn Herr Kollege Dyhrenfurth eine Ahnung hätte, nehmen Sie 
mir das nicht übel —, 
(Heiterkeit) 
wie man den Wahlfortbildungsschulen ihr Ende voraussagte, als die 
Pflichtfortbildungsschulen eingeführt würden, während sie jetzt erst 
recht ihre Blüte erreicht haben! Es ist eine Freude, zu sehen, wie 
alte und junge Leute sich nicht scheuen, ans derselben Bank zu sitzen, 
wie sie weite Wege machen, um nur zu ihren Lehrern hin zu kommen, 
wie alle Berufsklassen der Bevölkerung dorthin strömen. Wir haben
	        
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