Abgeordnetenhaus von Berlin - 11. Wahlperiode
39. Sitzung vom 30. August 1990
RBm Momper
(A) lung der ganzen Region um Berlin, also Brandenburgs. Die
Ansiedlung der Regierung in Berlin ist für uns keine Prestige
frage, sondern es ist eine zentrale soziale Frage.
Das Emnid-Institut in Bielefeld hat Mitte August herausgefun
den, wie wenig die Deutschen davon halten, die Regierung
außerhalb der Hauptstadt des Landes anzusiedeln. Fast zwei
Drittel der Befragten - 65 % - wollen Hauptstadt und Regie-
rungsssitz nicht trennen. Genau so wenig halten die Deutschen
davon, daß Parlament aus der Hauptstadt des Landes zu verban
nen. Genau zwei Drittel der Befragten - 66 °/o - verlangen, daß
das Parlament in der Hauptstadt tagt. Dafür, daß Bonn alles
behält, also Sitz des gesamtdeutschen Parlaments und der
Regierung wird, hat sich in der gleichen Umfrage genau ein Vier
tel der Befragten ausgesprochen - 26 %.
Solche Umfrageergebnisse sind seit dem 9. November immer
wieder gemeldet worden. Der Wille der Mehrheit der Deutschen
ist klar. Die Meinungsmacher in Bonn dürfen es nicht schaffen,
den Willen der überwältigenden Mehrheit der Deutschen zu miß
achten, um lokale Interessen durchzusetzen. - Über vierzig Jahre
hinweg gab es Versprechungen über Versprechungen; Berlin
war als Hauptstadt und Regierungssitz eines vereinigten
Deutschlands unumstritten. Vierzig Jahre lang ist kein Mensch
auf die Idee gekommen, Regierungssitz und Hauptstadt etwa zu
trennen! Und ich möchte auch daran erinnern, daß noch 1969
die Berliner massive Behinderungen auf den Transitwegen und
Schikanen durch Überschallflugzeuge über der Stadt auf sich
genommen haben, um das Recht der obersten Bundesorgane,
hier zu tagen, zu behaupten. Jetzt soll all das nicht mehr gelten?
- Damit wird die Glaubwürdigkeit von Politik und die politische
Moral in Frage gestellt!
[Beifall bei der SPD, der CDU und den REP]
Ich begrüße es, daß der Einigungsvertrag Berlin als Haupt
stadt Deutschlands bestätigt; unbefriedigend bleibt aber, daß
die Unterscheidung zwischen Hauptstadt einerseits und Paria-
(B) ments- und Regierungssitz andererseits Eingang in den Entwurf
gefunden hat. Eine Hauptstadt, in der weder eine Regierung
noch ein Parlament sitzt, wäre keine wirkliche Hauptstadt, son
dern eine Mogelpackung!
Berlin hat immer gesagt, daß es zu teilen verstehen wird. Wir
wollen keine weitere Polarisierung der Hauptstadtdiskussion,
aber Berlin und sein nicht gerade auf Rosen gebettetes Umland
können den totalen Verlust der Hauptstadtfunktion viel schwerer
verkraften als der in voller wirtschaftlicher Blüte stehende Köln -
Bonner Raum. Wir bleiben deshalb bei unserem Kompromißvor
schlag, daß Berlin Sitz des Parlaments und des politischen Teils
der Ministerien - also der eigentlichen Ministerialverwaltung -
sein soll und Bonn als Sitz von Bundesämtern eine wichtige Ver
waltungsstadt bleibt.
Die Kosten für einen solchen Teilumzug nach Berlin sind mit
maximal 5 Milliarden DM, verteilt auf fünf bis sieben Jahre, nach
einer Zeit der Planung für unser Land verkraftbar. Die von Nord
rhein-Westfalen erfundenen Kosten von 85 oder 100 Milliar
den DM sind eine üble Stimmungsmache.
[Vereinzelter Beifall - Wronski (CDU); Rudi Walther!]
- Es gibt Vertreter dieser Auffassung in allen Parteien, Herr Kol
lege Wronski; viel zu viele in meiner eigenen, das gestehe ich
Ihnen zu!
[Beifall bei der SPD, der CDU und den REP]
Ich möchte hier noch einmal festhalten, daß Berlin genügend
Regierungsgebäude und eine komplette Infrastruktur für die
Hauptstadtfunktion hat. Hier braucht nicht auf der grünen Wiese
neu gebaut zu werden, wie das andernorts der Fall ist. Ich rufe
alle Parteien und die Verbände und die Institutionen in Berlin auf;
Kämpfen Sie jetzt mit aller Kraft für Berlin als Hauptstadt und als
Regierungssitz; die Bezirke müssen mit ihren Partnerstädten
sprechen, die Parteien müssen mit ihren Gliederungen und bei
ihren Freunden in Westdeutschland Überzeugungsarbeit leisten
und auch die Verbänden in der gleichen Weise aktiv werden.
[Wronski (CDU): Der DGB muß nur nach Berlin kommenI]
Nur so können wir die Vorurteile ausräumen, die gegen Berlin in (C)
Umlauf gebracht werden.
Berlin lädt den vergößerten Deutschen Bundestag und den
Bundesrat herzlich ein, sich am 3. Oktober 1990 zur ersten
gesamtdeutschen Sitzung im Reichstag zusammenzufinden I
[Beifall bei der SPD und der CDU]
Dieser Tag sollte als Tag der deutschen Einheit zum Feiertag
erklärt werden und den 17. Juni als Tag schmerzlicher Erinnerun
gen ablösen. Das erste frei gewählte Parlament sollte sich nach
dem 2. Dezember 1990 ebenfalls im Reichstagsgebäude konsti
tuieren, und der Bundesrat sollte so bald wie möglich in Berlin
tagen. Wir werden dem Bundesrat im Zusammenarbeit mit der
noch amtierenden Regierung der DDR einen Vorschlag für ein
passendes Gebäude unterbreiten.
Berlin muß für die Übertragung des Regierungssitzes kämp
fen. Berlin muß auch dafür kämpfen, daß der Stadt für ihre wirt
schaftliche Zukunft faire Chancen eingeräumt werden. Ich beob
achte mit Sorge die Neigung im deutschen Westen, Berlin als
eine Art Sparschwein für die deutsche Einheit zu betrachten.
Dahinter steckt viel Uninformiertheit, aber auch die Illusion, wir
seien nach dem Fall der Mauer schon wieder eine ganz normal
lebensfähige Stadt. Diese wirtschaftliche Lebensfähigkeit müs
sen wir uns erst noch erarbeiten.
Gerade in dieser Umbruchszeit müssen die Rahmenbedin
gungen für die Berliner Wirtschaft und ihre Arbeitnehmer kal
kulierbar bleiben. Die Berlinförderung darf nicht schlagartig ent
fallen. Sie muß vielmehr für eine begrenzte Zeit erhalten bleiben.
Ab 1993 kann sie schrittweise abgebaut werden, und zwar in
dem Maße, in dem die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der
Stadt steigt. Die Lebensverhältnisse in der Region Berlin dürfen
nicht dadurch angeglichen werden, daß der Lebensstandard in
Berlin (West) abgesenkt wird. Dem Umland geht es nur gut,
wenn es Berlin gut geht und auch umgekehrt.
[Beifall bei der SPD]
(D)
Die Diskussion über bestimmte regionale Wirtschaftsförde
rungsinstrumente - wie die Berlin- und die Zonenrandförde
rung - ist angesichts der Kosten der deutschen Einheit verständ
lich. Wir Berliner wollen auch keineswegs von Bonner Hilfen
abhängig bleiben. Im Gegenteil: Wir würden viel darum geben,
unsere Standortnachteile endlich los zu sein und eine starke öko
nomische Struktur zu entwickeln. Aber dazu brauchen wir eine
faire Startchance. Allein durch den Fall der Mauer sind unsere
wirtschaftlichen Strukturprobleme ebensowenig verschwunden
wie z. B. ie Strukturprobleme bei der Kohle oder bei den Werf
ten. Wir verlangen Redlichkeit in der Diskussion. Der Abbau der
Strukturförderung erfolgt woanders auch erst dann, wenn die
wirtschaftlichen Voraussetzungen dafür gegeben sind.
Ich bin dem Bundeskanzler dankbar dafür, daß er sein Verspre
chen erneuert hat und die Berlinförderung erst langsam und
nach einer Übergangszeit abbauen will. Auf dieses gegebene
Wort bauen wir Berlinerinnen und Berliner.
[Beifall bei der SPD und der CDU]
Der Senat ist zuversichtlich, daß der Landeshaushalt für
1991 für den Westteil noch rechtzeitig vor den Gesamtberliner
Wahlen durch das Abgeordnetenhaus gebracht werden kann.
Gelingt dies nicht, entstehen für die Stadt Nachteile, denn die
Haushalte in beiden Stadthälften werden nach völlig verschiede
nen Systematiken aufgestellt; sie können deshalb nur schwer
zusammengeführt werden. Senat und Bezirksämter könnten vor
aussichtlich nur nach den Regeln der vorläufigen Haushaltswirt
schaft arbeiten. Dadurch werden zukunftsweisende Investitionen
auf längere Zeit blockiert. Das kann sich Berlin aber jetzt weniger
denn je leisten.
Mit dem West-Berliner Haushalt werden wir für die Über
gangszeit eine solide Grundlage für politische und planerische
Entscheidungen schaffen. Durch einen Nachtragshaushalt, den
wir zu Beginn des nächsten Jahres einbringen werden, kann
dann das neugewählte Abgeordnetenhaus die Weichen für Inve
stitionen im Ostteil der Stadt stellen. Nur so werden wir der
besonderen Lage in unserer Stadt gerecht.
1952