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Volume Nr. 44, 11. Oktober 1990

Full text: Plenarprotokoll (Public Domain) Issue1990, 11. Wahlperiode, 35.-47. Sitzung (Public Domain)

Abgeordnetenhaus von Berlin - 11. Wahlperiode 
44. Sitzung vom 11. Oktober 1990 
Dr. Statz 
(A) ohne diese kritischen Geister. Wir sind heute noch stolz darauf, 
daß die Linke, die Alternativen, die Grünen und viele andere kriti 
sche Kräfte in Berlin 
[Vetter (CDU): Drückeberger!] 
das Erbe dieser wunderbaren Drückeberger angetreten haben. 
[Beifall bei GRÜNE/AL - Bogen (REP): Aber Molotow- 
Cocktails können sie werfen?] 
Die Wiedereinführung der Wehrpflicht in Berlin ist eine Situa 
tion, die traurig und wütend zugleich macht. 
[Oh! bei der CDU] 
Damit bin ich bei den konkreten Umständen, mit denen die 
Wehrpflicht wieder in Berlin eingeführt wird. Ich denke an die 
Väter und Mütter, die es für selbstverständlich hielten - weil sie 
in Berlin lebten -, daß ihre Söhne nicht zum Militär mußten, und 
daran, daß die Familien ihre Lebensplanung auch genau darauf 
eingestellt hatten. Noch vor kurzem habe ich den Anruf von 
Eltern bekommen, die im Fernsehen gesehen haben, daß jetzt 
auch Wehrpflichtige auf den Schiffen zum Golf sind, und die 
gesagt haben: Für eine Benzinpreiserhöhung um 20 oder 50 
Pfennig oder gar eine Mark möchte ich nicht, daß mein Sohn als 
Wehrpflichtiger an den Golf geschickt wird! 
[Dr. Krähe (CDU): Was ist denn das für ein Quatsch?] 
Die besondere Situation in Berlin ist auch eine politische 
Chance; denn der Widerstand gegen das Militär wird sich in 
Berlin besonders regen, weil der Unterschied zwischen dem, 
was vorher war - den Nischen, die es hier gab -, und dem, was 
nun sein wird, besonders groß ist. 
[Vetter (CDU); Gleichberechtigung für alle!] 
Wir haben nicht umsonst den Vertrauensschutz eingeklagt im 
Senat, in der Öffentlichkeit, daß diejenigen, die von ihren 
Lebensumständen in Berlin her davon ausgegangen sind, daß es 
(B) keine Wehrpflicht geben wird, dieser Wehrpflicht auch nicht 
unterzogen werden. 
[Vetter (CDU): Dann müssen sie arbeiten!] 
Ich bin gespannt darauf, was die Bundesregierung auf die Inter 
vention des Senats von Berlin gesagt hat in bezug auf diesen 
Vertrauensschutz. Das ist eine der zentralen Fragen, die wir in 
dieser Großen Anfrage gestellt haben. 
Ich möchte noch einige allgemeine Bemerkungen zur Wehr 
pflicht machen, weil ich glaube, daß die Abschaffung - und 
zwar die bedingungslose Abschaffung - der Wehrpflicht und 
nicht nur ihre Reform auf der Tagesordnung steht und das Gebot 
der Stunde ist. Wir haben in der Vorlage des Senats und in der 
Intervention des Senats in Bonn darauf bestanden, daß es 
zumindest eine Zeitgleichheit zwischen Wehr- und Ersatzdienst 
und eine Wahlfreiheit zwischen beidem gibt. Das war für uns das 
Minimum. Da sind viele in der Stadt auf uns zugekommen und 
haben gesagt, dies sei zu wenig, und wir haben ihnen erklärt, daß 
wir zumindest für diejenigen, die davon betroffen sein können, 
einen Stand erreichen wollen, der sie nicht unmittelbar der Wehr 
pflicht aussetzt, daß nicht alle Jahrgänge eingezogen werden. 
Selbst dieses Minimum an Vertrauensschutz ist an den Konser 
vativen gescheitert. Wir haben den Senat nach einer grundsätzli 
chen Ablehnung der Wehrpflicht gefragt, weil wir glauben, daß 
diese Debatte in der Stadt geführt werden muß. Unsere Ableh 
nung hat eigentlich einen ganz einfachen Grund. Der Grund ist: 
Das Risiko, daß es mit einem Berufsheer eine Verselbständigung 
der Armee in unserer demokratischen Gesellschaft gibt - das ist 
ein zentrales Argument für die Wehrpflicht ist geringer einzu 
schätzen als der unendliche Schaden, der dadurch angerichtet 
wird, daß alle jungen Männer der Wehrpflicht unterliegen, zum 
Wehrdienst eingezogen werden können und sich damit der 
„Sozialisationsinstanz“ Militär - um es akademisch auszudrük- 
ken; ich würde konkret sagen; dem Drill, der Vemachlässigkeit 
ihrer Persönlichkeitsentwicklung - aussetzen müssen. Ich 
glaube, daß es viel besser wäre, wenn der überwiegende Teil der 
jungen Männer sich nicht dem Militär aussetzen müßten. Der 
Gewinn, der darin liegt, ist viel größer als die Gefahr, die sich aus (C) 
einer Berufsarmee - in einer Übergangszeit, wohlgemerkt; denn 
wir sind für die vollständige Entmilitarisierung - ergeben könn 
ten. 
[Dr. Krähe (CDU): Das ist dann der Staat 
im Staat, nicht?] 
Ich kann nur sagen: Wir haben bereits eine Berufsarmee, weil 50 
bis 60 % derjenigen, die bei der Bundeswehr sind, dort freiwillig 
oder sogar Berufssoldaten sind. Wir haben eine militärpolitische 
Entwicklung, die darauf hinausläuft, daß es eine zunehmende 
Kaderung gibt, daß es eine Professionalisierung des Militärs, ins 
besondere bei den schnellen Eingreifgruppen gibt. Damit wird 
sich auch für das etablierte militärische Denken früher oder spä 
ter die Frage stellen, ob die Wehrpflicht nicht insgesamt ge 
sehen abgeschafft werden muß. 
Diese Frage wird sich auch noch aus zwei anderen Gründen 
stellen. Der eine Grund ist der: Mit zunehmender Abrüstung und 
der Verringerung der Truppenstärken ist es gar nicht mehr mög 
lich - selbst militärisch immanent argumentiert -, die Wehrpflicht 
aufrechtzuerhalten: Man braucht einfach nicht mehr so viel Sol 
daten. Der zweite Grund hängt damit zusammen: Auch die soge 
nannte Wehrgerechtigkeit ist überhaupt nicht mehr aufrechtzu 
erhalten, weil heute bereits erhebliche Prozentsätze - 20, 30, 
40 % der Wehrpflichtigen - aufgrund irgendwelcher Ausnahme 
tatbestände nicht mehr eingezogen werden. Das wird sich ver 
stärken; weil es zuviel potentielle Soldaten gibt. Aus diesem 
Grund haben wir in der Großen Anfrage danach gefragt, ob es 
möglicherweise Ausnahmetatbestände gäbe, die zumindest 
noch ein bißchen von dem an Vertrauensschutz gewährleisten, 
den wir für West-Berlin einfordern. 
[Vetter (CDU): Neue Nischen suchen, was?] 
- Wir haben gar nichts gegen Nischen. 
[Dr. Krähe (CDU): Davon leben Sie jal] 
- Sie wissen, daß in den Nischen immer das Produktive, das (D) 
Grüne wächst, daß im Kleinen immer noch das vorweggenom 
men wird, was sich in der Zukunft als das Große entwickelt. 
Dafür stehen wir - und das ist gut so! - 
[Beifall bei GRÜNE/AL - 
Palm (CDU): In den Nischen sammelt sich auch der Unrat! - 
Dr. Krähe (CDU): Professor Unrat!] 
- Der „Unrat“ müßte eigentlich gerügt werden, aber ich bestehe 
nicht darauf. Das ist Nazi-Jargon I 
[Beifall bei GRÜNE/AL - Gelächter bei der CDU - 
Weitere Zurufe von der CDU] 
Wir wissen nun natürlich, daß eine isolierte Aufhebung der 
Wehrpflicht in West-Berlin allein ein Problem darstellt, weil wir 
ein einheitliches Rechtssystem haben. Wir trauern dem alliier 
ten Status nicht einfach nach, weil er ja mit einer Menge Pro 
bleme verbunden war; deshalb haben wir ihn auch immer kriti 
siert - was die Rechtssicherheit, was die militärische Präsenz 
angeht. Aber ich glaube, daß der alliierte Status von West-Berlin 
oder auch von Gesamtberlin - je nachdem, wie man die Lage 
sieht - dazu geführt hat, daß die historische Erinnerung an den 
zweiten Weltkrieg präsent geblieben ist. Was aber noch wichti 
ger ist als dieser Rückblick, ist der Blick nach vorne. Ich glaube, 
daß die Besonderheit der alliierten Vorbehaltsrechte für Berlin 
und für Deutschland als Ganzes eine historische Chance der 
deutschen Fragen geboten hätte - eine historische Chance für 
eine Europäisierung Berlins und auch für eine Entmilitarisie 
rung Deutschlands. Und ich glaube, daß von der konservativen 
Regierung, insbesondere in Bonn, diese historische Chance ver 
tan worden ist. 
[Bogen (REP): Sie können ja in die Fremdenlegion gehen!] 
Diese historische Chance hätte z. B. darin bestanden - der 
Regierende Bürgermeister hat das im November und im Dezem 
ber in die Debatte gebracht, ich war ihm dafür sehr dankbar -, 
daß für das Territorium der DDR und für Berlin so etwas wie ein 
militärischer Sonderstatus hätte gelten können, in dem Sinn, daß 
es vollkommen oder teilweise entmilitarisiert wird. Und es gab 
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