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Volume Nr. 43, 5. Oktober 1990

Full text: Plenarprotokoll (Public Domain) Issue1990, 11. Wahlperiode, 35.-47. Sitzung (Public Domain)

Abgeordnetenhaus von Berlin - 11. Wahlperiode 
43. Sitzung vom 5. Oktober 1990 
Dr. Finkelnburg 
Da wir am 2. Dezember zeitgleich mit den Bundestagswahlen 
die Wahlen zum Abgeordnetenhaus durchführen wollen und da 
das Berliner Wahlrecht diese beiden Regelungen auch enthält, 
haben heute vormittag sowohl der Einheitsausschuß als auch - 
anschließend - der Rechtsausschuß getagt und darüber bera 
ten, ob die Grundsätze des Bundesverfassungsgerichts Auswir 
kungen auf das Berliner Landesrecht haben, das heißt, ob wir 
unsere Fünf-Prozent-Klausel - die sich in Berlin in der Landes 
verfassung befindet und die seit der Vereinigung der Stadt auf 
das ganze Stadtgebiet bezogen ist - in dieser Form aufrechter 
halten können und ob wir die für diese ersten Gesamtberliner 
Wahlen in Anlehnung an das Bundeswahlgesetz geschaffenen 
Listenverbindungen aufrechterhalten können. Um diese Frage 
entscheiden zu können, müssen wir überlegen, welches die 
Gründe sind, die das Bundesverfassungsgericht zu seiner Ent 
scheidung veranlaßt hat, und wo die Grenzen liegen. 
Ich spreche zunächst zur Fünf-Prozent-Klausel, weil sie 
sicher das größere Problem darstellt. Das Bundesverfassungs 
gericht hat ausdrücklich erklärt - ich hebe das hervor -, daß 
auch in Zukunft Fünf-Prozent-Klauseln zulässig sein werden. Das 
Bundesverfassungsgericht hat von den ersten Jahren der 
Bundesrepublik an wiederholt Gelegenheit gehabt, sowohl im 
Bundeswahlrecht wie im Landeswahlrecht Fünf-Prozent-Klau- 
seln zu überprüfen. Es hat sie immer - außer in Schleswig-Hol 
stein wegen der dänischen Minderheit - für zulässig gehalten, 
und es hat auch in seiner neuen Entscheidung gesagt, daß es für 
künftige Wahlen im Bund - und das gilt dann auch für uns in Ber 
lin - die Fünf-Prozent-Klausel nicht in Frage stellt - mit Aus 
nahme der Wahlen des Jahres 1990. 
Das bedeutet - und damit haben Sie das erste, was die Aus 
schüsse Ihnen vorschlagen -, daß die Regelungen, die wir jetzt 
treffen, auf die Wahlen 1990 beschränkt sind und daß es in 
Zukunft auch in Berlin bei der Fünf-Prozent-Klausel der Berliner 
Verfassung bleiben kann. Wir tasten diese mit den heutigen 
Anträgen nicht an. 
Der Grund, weshalb das Bundesverfassungsgericht die Fünf- 
Prozent-Klausel für die Wahlen zum ersten gesamtdeutschen 
Parlament für nichtig erklärt hat, ist folgender; Es kann histori 
sche Situationen geben, die so besonders gelagert sind, daß die 
Fünf-Prozent-Klausel wegen dieser einmaligen Situation den 
Grundsatz der Chancengleichheit bei der Wahl verletzt. Das 
heißt; das Prinzip der freien, gleichen und geheimen Wahlen ist 
das übergeordnete Prinzip, das höher steht als die Fünf-Prozent- 
Klausel. 
Angesichts der Tatsache, daß sich am 3. Oktober - zwei 
Monate vor den Wahlen - das Wahlgebiet der Bundesrepublik 
Deutschland erweitert hat, nämlich um die fünf Länder der ehe 
maligen DDR und um das bisherige Ost-Berlin, daß es dort 
kleine Parteien gibt, die in dem Gebiet der bisherigen Bundesre 
publik nicht vertreten sind und infolgedessen keine Möglichkeit 
haben, in diesem Gebiet auf fünf Prozent der Stimmen zu kom 
men, diese historisch einmalige Situation gebietet es, für diese 
Bundestagswahl von einer auf das gesamte Wahlgebiet bezoge 
nen Fünf-Prozent-Klausel Abstand zu nehmen. 
Übertragen auf Berlin bedeutet das; In Berlin ist die Fünf-Pro 
zent-Klausel nach bisherigem Recht auf beide Stadthälften 
erstreckt. Die Frage ist nun: Ist es für Parteien, die nur im Ostteil 
der Stadt vertreten sind, wirklich - ich mache da ein Fragezei 
chen - eine Verletzung der Chancengleichheit, wenn sie eine 
Fünf-Prozent-Klausel für die ganze Stadt überwinden müssen? 
Da meine ich, daß es in der Tat gravierende Unterschiede gibt, 
ob man ein Land wie die Bundesrepublik wiedervereinigt oder ob 
es nur eine Stadt ist, zwei Stadthälften in einem überschaubaren 
Gebiet. Man kann in der Tat der Meinung sein - und Herr Kollege 
Körting von der SPD-Fraktion, mein verfassungsrechtlicher 
Widerpart oder Kollege aus der anderen großen Partei, sieht es 
ähnlich -, daß ein Verzicht auf die Fünf-Prozent-Klausel wahr 
scheinlich in Berlin nicht notwendig wäre. Trotzdem haben wir 
uns einvernehmlich entschlossen, auch für die Berliner Wahlen 
auf eine einheitliche Fünf-Prozent-Klausel zu verzichten. Wir wol 
len uns gewissermaßen auf die sichere Seite begeben, denn nie 
mand weiß, wie ein Gericht entscheidet. Sie kennen den Satz: 
Vor Gericht und auf See stehen wir alle in Gottes Hand. Es könn- (C) 
te uns ein zweites derartiges Urteil beschert werden. Außerdem 
haben wir uns bei der Gestaltung des Berliner Wahlrechts sehr 
eng an das Bundeswahlrecht angelehnt, und wir wollen bei 
dieser engen Anlehnung bleiben. 
Deshalb schlagen wir Ihnen vor, für diese Wahl - und nicht für 
weitere Wahlen - die Fünf-Prozent-Klausel auf die beiden Stadt 
hälften aufzuteilen, mit der Folge, daß eine Partei, die in einer der 
beiden Stadthälften die Fünf-Prozent-Klausel überspringt, damit 
auch die Stimmen, die sie in der anderen Stadthälfte errungen 
hat, in Anspruch nehmen kann, selbst dann, wenn sie in der 
anderen Stadthälfte weniger als fünf Prozent errungen hat. Das 
heißt, die kleineren Parteien, die Bürgerbewegungen im Ostteil 
der Stadt kommen bereits dann in das erste Gesamtberliner 
Abgeordnetenhaus, wenn sie im Ostteil der Stadt fünf Prozent 
erreichen, im Westteil der Stadt aber nicht. Also: Aufrechterhal 
tung der Fünf-Prozent-Klausel, aber bezogen auf die beiden 
Stadthälften. 
Zweiter Punkt: Listenverbindungen. Das Bundesverfas 
sungsgericht hat die Listenverbindungen deswegen für verfas 
sungswidrig erklärt - und ich kann das als Verfassungsrechtler 
sehr gut nachvollziehen -, weil sie im Grunde nichts anderes als 
eine Zählgemeinschaft waren. Die Parteien blieben selbständig, 
sie stellten eigene Listen auf, und lediglich bei der Abrechnung 
wurden ihre Stimmen zusammengezählt. Huckepackverfahren ist 
der Ausdruck, der sich dafür eingebürgert hat. Wenn die zwei 
Parteien dann zusammen fünf Prozent hatten, dann ging eben 
auch die kleinere Partei im Gefolge der großen ins Parlament. 
Das ist eigentlich eine Umgehung dessen, was das Wahlrecht 
beherrscht. Eine Partei, die allein antritt, soll sich auch allein um 
die Stimmen bemühen. Deshalb hat das Bundesverfassungsge 
richt in der Listenverbindung ebenfalls eine Verletzung der 
Chancengleichheit gesehen. 
Wir heben jetzt - dieser Teil der Entscheidung ist eindeutig auf 
Berlin übertragbar - auch in Berlin die Listenverbindungen auf 
und lassen wiederum in enger Anlehnung an das, was das (D) 
Bundesverfassungsgericht gewissermaßen richtungweisend für 
die Zukunft zugelassen hat und was der Bundesgesetzgeber 
heute auch beschließen will, Listenvereinigungen zu. 
Ein Wort zum Unterscheid zwischen Listenverbindung und 
Listenvereinigung: Bei einer Listenvereinigung müssen die 
zwei, drei oder mehr Parteien, die sich vereinigen, eine gemein 
same Liste aufstellen. Wir alle wissen, was das bedeutet, näm 
lich einen gemeinsamen Nominierungsparteitag. Und es bedeu 
tet ein großes Stück an Gemeinsamkeit im Wahlkampf, in der 
Vorbereitung der Wahl und sicher auch in der Programmatik. Das 
sind keine reinen Zählgemeinschaften mehr, in denen sich Par 
teien theoretisch unterschiedlichster Ausrichtung zu einer Art 
Zweckverband zusammenschließen, sondern Zusammen 
schlüsse von Parteien, die einen erheblichen Gleichklang bei der 
Wahl feststellen und die deshalb die Aufstellung einer gemein 
samen Liste beschließen. Das wird in Berlin nach unseren ge 
meinsamen Vorschlägen künftig zulässig sein - allerdings nur für 
die Parteien aus dem bisherigen Ostteil der Stadt. Es wird 
Listenvereinigungen der Parteien geben können, die sich nach 
dem 9. November oder um den 9. November herum neu in Ost- 
Berlin gebildet haben. 
Mein letztes: Diese Listenvereinigungen sind ein Mittel, um die 
Schwierigkeiten der kleinen Parteien bei der Überwindung der 
Fünf-Prozent-Klausel zu beheben. Das heißt: Eine Partei, die aus 
eigener Kraft auch diese regionalisierte, auf die Stadthälften 
bezogene Fünf-Prozent-Klausel nicht erreicht, kann immer noch 
versuchen, mit gleichgesinnten kleineren Parteien - und es gibt 
eine ganze Reihe kleiner Parteien im Ostteil der Stadt, die sehr 
gleichgerichtet sind - eine Listenvereinigung zu bilden. Auch 
das ist ein Tribut an die Schwierigkeiten eines zusammenwach 
senden Wahlgebiets in einer historisch einmaligen Situation. 
Lassen Sie mich zusammenfassen, was wir heute einmütig, 
wenn ich die Ausschußberatungen zugrunde lege, beschließen 
wollen: Die Fünf-Prozent-Klausel bleibt, aber sie wird für diese 
Wahl regionaiisiert auf die beiden Stadthälften; später bleibt sie 
unverändert. Die Listenvereinigung kommt aber ;. i nur für 
2235
	        
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