Abgeordnetenhaus von Berlin - 11. Wahlperiode
33. Sitzung vom 14. Juni 1990
1754
Frau Sen Dr. Schreyer
(A) Der Provisorische Regionalausschuß hat am 7. Juni beschlos
sen, diesen Bericht den Regierungsbevollmächtigten der
Bezirke Potsdam, Frankfurt/Oder, dem Magistrat und dem Senat
von Berlin zur Billigung vorzulegen. Der Senat und der Magistrat
haben in ihrer ersten gemeinsamen Sitzung am 12. Juni diesen
Bericht der Planungsgruppe Potsdam als wesentliche Grund
lage für regionalplanerische Entscheidungen zur Kenntnis
genommen. Er wird nun allen betroffenen Gemeinden im Um
land, den Landkreisen und den Berliner Bezirken zur Verfügung
gestellt, um diskutiert und weiterentwickelt zu werden. Daran
wird sich eine intensive Phase der öffentlichen Diskussion in der
Region anschließen.
[Beifall der Frau Abg. Weißler (AL)]
Mit verbindlichen Entscheidungen ist jedoch erst danach, das
heißt, erst mittelfristig zu rechnen.
Alle Überlegungen über die künftige Gestaltung der Beziehun
gen Berlins zu seinem Umland und zur Entwicklung in diesem
Umland können nicht von den noch zu treffenden Entscheidun
gen über die administrative Struktur dieses Raumes in einem
föderativen System losgelöst betrachtet werden, also nicht
unabhängig von der Frage beantwortet werden, ob ein Stadt
staat Berlin und ein Flächenstaat Brandenburg oder ein ge
meinsamer Flächenstaat Berlin-Brandenburg entstehen wird.
Diese Entscheidung bedarf natürlich eines ausführlichen Abwä
gungsprozesses, in dem neben historischen, föderalistischen,
finanz-, bevölkerungs-, wirtschaftspolischen Aspekten unter
anderem auch die Frage der Identifikation der Bevölkerung mit
ihrem Lebensraum eine sehr wichtige Rolle spielen wird. Für die
Zukunft Berlins, für seine Probleme und vor allen Dingen seine
Problembewältigungsmöglichkeiten wird diese Entscheidung
selbstverständlich von ausschlaggebender Bedeutung sein.
Unter dem Vorbehalt dieser noch offenen Entscheidungen und
berücksichtigend, daß Stadtentwicklung ein Prozeß ist, in dem
nicht heute die abschließenden Antworten für morgen gegeben
(B) werden können und sollen, beantworte ich die Große Anfrage im
einzelnen wie folgt;
[Giesel (CDU): Na, endlich!]
An der ersten Stelle des Fragenkatalogs steht die Frage nach
den Leitvorstellungen des Senats für einen umweit-, sozial- und
wirtschaftsverträglichen Umgang mit den Flächen im Groß-
raum Berlin. Diese Frage impliziert den Blick auf die Entwick
lungsperspektiven der Stadt und der Region. Gegenwärtig leben
in beiden Teilen Berlins auf einer Fläche von insgesamt 883 Qua
dratkilometern etwa 3,4 Millionen Menschen. Im Westteil der
Stadt liegt der Anteil der bebauten Flächen am gesamten Stadt
gebiet bei etwa 60 °/o, im Ostteil der Stadt bei etwa 50 °/o. Der
engere Verflechtungsraum Berlins - pragmatisch abgegrenzt
nach dem vorhandenen S-Bahntarifgebiet, mit einzelnen Ergän
zungen - mit vorhandenen oder zu erwartenden besonders
intensiven Wechselbeziehungen zwischen Wohnen, Arbeiten
und Erholung umfaßt - ohne die Fläche Berlins - noch einmal
eine Fläche von etwa 5 670 Quadratkilometern. Kennzeichnend
ist hier - trotz einer Bevölkerungszahl von fast 900 000 Perso
nen, die in diesem engeren Verflechtungsraum von Berlin leben -
eine sehr geringe Bevölkerungs- und Siedlungsdichte. Insge
samt liegen in dem engeren Umland Berlins immerhin 351 Städte
und Gemeinden, die jeweils nur eine durchschnittliche Bevölke
rungszahl von 1 500 Personen haben. Es ist also ein starker
Gegensatz zwischen der hochverdichteten Siedlungsfläche Ber
lins und dem Umland vorhanden.
Die Pendlerbeziehungen, die zwischen dem näheren Um
land und Berlin vorhanden sind, bezogen sich aufgrund der poli
tischen Situation bisher nur auf Berlin (Ost). Es pendelten aus
diesem Umland aus Gründen der Arbeitsstätte täglich ca.
200 000 Personen zwischen dem Umland und Ost-Berlin. Berlin
mit seinem engeren Umland zählt also bereits heute 4,3 Millionen
Einwohner und die etwas erweiterte und funktional verflochtene
Region - einschließlich Brandenburg und Frankfurt/Oder -
5 Millionen Menschen. Berlins insgesamt liegt also in einem
sonst dünn besiedelten Gebiet.
Größere Städte mit mehr als 100 000 Einwohnern sind, wenn (C)
man von Potsdam absieht, mehr als 100 km entfernt. Als mittlere
Zentren am Rande der Berliner Region sind also außer Potsdam
nur Brandenburg und Frankfurt/Oder mit einem gewissen Eigen
gewicht als Stadt ausgeprägt.
Ein dominantes Grundmuster der Raum- und Siedlungsstruk
tur in der Berliner Region sind die sternförmig von der Innenstadt
ins Umland gerichteten Siedlungsbänder, die sich entlang der
Achsen des Schienenverkehrs ausgeprägt haben. Die Regional
planung steht jetzt also vor der Fragestellung, inwieweit diese
Siedlungsstruktur auch künftig die Raumordnung in der Region
prägen soll, wie weit sich potentielles Wachstum in der Stadt
und in der Region als Verdichtung dieser bestehenden Sied
lungsräume niederschlagen soll, oder die bestehende Sied
lungsstruktur überlagert oder ergänzt werden sollte durch Tan
gential-, Punkt- oder Ringstrukturen?
Zum gegenwärtigen Zeitpunkt sprechen sehr viele Aspekte,
besonders die landschaftsplanerischen Aspekte dafür, daß die
künftige Entwicklung auf der Grundlage dieses Siedlungs
sterns erfolgen sollte. Die Arbeitsergebnisse der Potsdamer
Planungsgruppe gehen davon aus, daß im Rahmen dieses Sied
lungssterns durch Verdichtung der vorhandenen Baugebiete
und die bauliche Inanspruchnahme von derzeit unbebauten
Untersuchungsgebieten - wie wir sie genannt haben - Poten
tiale für bis zu 1,4 Millionen zusätzliche Einwohner vorhanden
sind. Dabei wurde berücksichtigt, daß es einen langfristigen
Nachhol-, Erweiterungs- und Ersatzbedarf der vorhandenen
Bevölkerung im Wohnungsbaubereich von etwa 400 000
Wohneinheiten gibt. Die Schätzung des langfristigen Woh
nungsbedarfs der schon vorhandenen Bevölkerung auf der
Basis von 1990 - hier geschätzt mit 400 000 Wohneinheiten -
steht natürlich unter sehr vielen Imponderabilien. Dazu gehört
zum Beispiel die Frage: Wie wird sich die Wohlstandssituation
insgesamt im Großraum Berlin entwickeln?
Für die gewerblichen Nutzungen wurden in diesem engeren (p)
Verflechtungsraum Berlin - also Berlin plus Umlandgemeinden -
überschlägig Flächenpotentiale von ca. 3 500 ha ermittelt, die
sich aus potentiellen Recyclingflächen, der Aktivierung innerer
Flächenreserven und natürlich einer Wachstumsreserve zusam
mensetzen. Im Großraum Berlin ist nach der Grenzöffnung auch
ohne ein weiteres Anwachsen der Bevölkerung eine große
Anzahl von Aufgaben für die räumliche Planung vorhanden.
Schon jetzt gibt es erhebliche Engpässe bei der Wohnraumver
sorgung und der Versorgung mit Grünflächen in der Stadt - vor
allem in der dicht bebauten Innenstadt. Probleme bereiten die
Belastungen der natürlichen Lebensgrundlagen sowie der
Abwasser- und der Müllentsorgung. Verantwortliche Stadt- und
Regionalplanung sollte sich allerdings schon jetzt, schon heute
auf möglichen Bevölkerungszuwachs vorbereiten, weil eine
Reihe von Faktoren auf ein solches Bevölkerungswachstum hin-
weisen.
Es ist nicht der erklärte Wille des Senats, eine aktive Bevölke
rungszuzugspolitik zu betreiben. Aber es ist Aufgabe einer ver
antwortlichen Regionalplanung, sich planerisch darauf vorzube
reiten, daß Berlin einen Bevölkerungszuwachs erfahren wird.
[Giesel (CDU); Gilt das auch für die Verkehrspolitik?]
Ich will hier nur einzelne Gründe nennen: Zum Beispiel der
Wegfall bzw. der Bedeutungsverlust trennender Grenzen zwi
schen Mittel- und Osteuropa. Damit ist die Voraussetzung dafür
geschaffen, daß - wie es eben auch gesagt wurde - sich Berlin
zu einem Kreuzungspunkt der europäischen Linien Paris-War-
schau-Moskau einerseits und Stockholm-Prag-Wien anderer
seits entwickeln wird und seine Lagevorteile nutzen will.
Als weiterer Auslöser für einen Bevölkerungszuzug ist die
Hauptstadtfrage zu nennen. Dies wird nicht nur eine Verlegung
der unmittelbaren Parlaments- und Regierungsfunktionen, son
dern weiterer Bevölkerungskreise nach sich ziehen. Nach den
Erfahrungen haben auch Großereignisse wie eine Olympiade
jeweils einen Bevölkerungszuwachs zur Folge gehabt.