Abgeordnetenhaus von Berlin - 11. Wahlperiode
19. Sitzung vom 30. November 1989
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Diepgen
(A) , Es wird nun oftmals davor gewarnt, eine Entwicklung hin zur
Einheit Deutschlands dürfe nicht zu schnell verlaufen. Das ist
gleichermaßen richtig und falsch. Einerseits wollen und dürfen
wir niemand überfordern - das gilt für die Menschen in der DDR
gleichermaßen wie für unsere Nachbarn aber andererseits
stelle ich fest: Je schwerfälliger sich der Prozeß des Zusammen
wachsens vollzieht, desto größer werden die sozialen Probleme
in diesem Teil Berlins sein.
Freizügigkeit in einer Stadt wie Berlin unter dem Gesichts
punkt einer fortgesetzten Teilung ist auf Dauer nicht machbar. Es
wird dadurch immer soziale Probleme zu Lasten der Schwäch
sten in der Gesellschaft geben, bei der Schwarzarbeit angefan
gen bis hin zu dem Problem der Rentner, die wir heute schon so
schmerzhaft feststellen können.
[Dr. Statz (AL) meldet sich zu einer Zwischenfrage. -
Landowsky (CDU): Bleiben Sie ruhig sitzenI]
Stellv. Präsidentin Brinckmeier: Herr Dr. Statz, Herr Diep
gen hat gesagt, daß er keine Zwischenfragen zulasse.
Diepgen (CDU): Nein, Herr Statz! - Eine letzte Bemerkung
wird mir die Frau Präsidentin noch zulassen. Seit gestern errich
tet dieser Senat mitten durch unsere Stadt erneut eine Mauer,
[Zuruf von der CDU: Pfui!]
und zwar mit der Anweisung, Herr Momper, daß Berliner aus
dem anderen Teil der Stadt hier keine Aufnahme finden
sollen. Ich halte dieses für unmöglich.
[Starker Beifall bei der CDU - Zurufe von der SPD]
Herr Staffelt hat auf einige Probleme hingewiesen. Aber; Die
Politik dieses Senats ist darauf ausgerichtet, einerseits Flücht
linge aus aller Herren Länder hier mit offenen Armen zu empfan
gen - -
® [Landowsky (CDU); Genau! -
Dr. Wruck (CDU): So ist es! -
Zurufe von der SPD und der AL]
Ich sage Ihnen die Zahl: Nach der letzten Statistik sind es
28 805 Ausländer, die hierher gekommen sind. Es geht nicht,
daß diese Anweisung von Herrn Pätzold in Kraft ist und auf der
anderen Seite Berliner aus Pankow und Treptow aus dieser
Stadt vertrieben werden sollen.
[Starker anhaltender Beifall und Bravo-Rufe
bei der CDU -
Beifall bei den REP]
Stellv. Präsidentin Brinckmeier: Herr Diepgen, jetzt muß
wirklich Schluß sein I Sie haben die Redezeit von Herrn Dr. Staf
felt eingeholt. Ich bitte Sie deshalb, das Schlußwort zu sprechen.
Diepgen (CDU): Der letzte Satz! - Herr Bürgermeister, ich
sage Ihnen: Das ist unhistorisch! Ich fordere Sie auf, kommen
Sie an das Rednerpult und stellen Sie klar, daß es eine solche
Politik nicht geben darf, und erinnern Sie sich an Ihren Amtseid,
der ein Amtseid eines Regierenden Bürgermeisters von Berlin
ist!
[Anhaltender Beifall bei der CDU -
Dr. Statz (AL); Sie Ausländerhasser! -
Zuruf des Abg. Edel (SPD)]
Stellv. Präsidentin Brinckmeier: Ich erteile nunmehr dem
Kollegen Berger das Wort.
Berger (AL): Herr Diepgen, so moderat Sie angefangen
haben, so sehr hören Sie mit den schrillen Tönen eines künftigen
Nationalismus auf, den wir befürchten.
[Beifall bei der AL - Ohl bei der CDU -
Dr. Wruck (CDU): Reaktionärer Separatist!]
Ich distanziere mich für meine Fraktion in jeder Form davon, (C)
daß wir die Rechte von Minderheiten gegen das gleichzeitig
unbestreitbare Recht von Leuten aus der DDR ausspielen, hier
ihren Wohnort zu wählen.
[Beifall bei der AL und der SPD - Zurufe von der CDU]
Zweitens möchte ich auf zwei bemerkenswerte Inkonsequen
zen in Ihrer Rede hinweisen. Die erste Inkonsequenz ist auf klei
nerem Niveau, sie betrifft Ihre Vorstellungen von Stadtplanung.
Sie sagten, daß die Stadtplanung nicht auf Fußgänger und Fahr
räder ausgerichtet werden sollte. Herr Diepgen, ich wußte noch
nicht, daß Sie sich ständig auf Rädern bewegen; denn immerhin
sind noch jede und jeder in dieser Stadt Fußgänger, und die Pla
nung der Stadt sollte tatsächlich in erster Linie darauf ausgerich
tet sein, daß sich die Menschen zu Fuß bewegen.
[Beifall bei der AL]
Stellv. Präsidentin Brinckmeier: Herr Berger, gestatten
Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Barthel?
Berger (AL): Nein! Dann müßte Herr Diepgen auch Zwi
schenfragen gestatten. - Zu der weiteren Inkonsequenz möchte
ich bemerken, daß ich mit Freude zur Kenntnis genommen habe,
daß Sie sich für die Demokratisierungsbewegung in der DDR
einsetzen.
[Dr. Wruck (CDU): Das ist richtig . . .!]
Aber wenn Sie sich für eine Demokratisierungsbewegung ein
setzen, dann sollten Sie das auch bedingungslos tun und sollten
der DDR nicht ein Ziel oktroyieren, von dem noch sehr die Frage
ist, ob sie es verfolgt: nämlich eine neue deutsche Einheit Das
haben Sie aber ausdrücklich getan, indem Sie davon ausgegan
gen sind, daß sich Berlin als Metropole nur zu einer deutsch
deutschen Hauptstadt hin entwickeln kann. Sie machen hier
historische Prozesse in eine Richtung - das macht Ihre Partei
immer - und wenden sich damit gegen die Rechte des Volkes (D)
der DDR, seinen zukünftigen Weg tatsächlich selbst zu bestim
men und ihn sich nicht von einer Bonner oder westdeutschen
oder West-Berliner CDU vorschreiben zu lassen.
[Beifall bei der AL - Dr. Wruck (CDU):
Sie schreiben es doch vor!
Sie schreiben denen die Teilung vor!]
Ich möchte jetzt aber zu dem Thema dieser Aktuellen Stunde
kommen. Mein Vorredner von der Fraktion der SPD, Herr Dr.
Staffelt, hat schon in sehr eindringlicher Weise auf die finanziel
len Forderungen hingewiesen, die Berlin angesichts der neuen
Aufgaben hat und haben muß. Ich werde mir das deshalb an
dieser Stelle ersparen, möchte aber hinzufügen, daß die sechs
Senatorinnen, die Senatoren und der Regierende Bürgermeister
morgen nicht nur und vielleicht auch nicht in erster Linie als Bitt
steller für dringend notwendige Finanzhilfe nach Bonn fahren
werden,
[Dr. Wruck (CDU): Er kommt als konzeptionsloser
Politiker dorthin!]
sondern daß sie auch die Möglichkeit haben, Angebote für Ein
sparungen an sinnlosen und überflüssigen Projekten in Berlin
machen zu können. Ein beispielhaftes Vorbild für eine solche Ein
sparung ist hier bereits praktiziert worden, nämlich mit dem
Stopp der Autobahnplanungen, die uns der alte Senat von
Berlin hinterlassen hatte. Der Senat kann und sollte in Bonn dar
an erinnern, daß Rot-Grün mit den Plänen einer autogerechten
Stadtzerstörung auch hohe finanzielle Belastungen in dieser
Stadt vom Tisch gefegt hat; denn allein der Bau der Autobahn in
Neukölln, der jetzt - leider - wieder in die Diskussion gekommen
ist, hätte Bonn 500 Millionen DM gekostet.
[Wronski (CDU): Nein! 350 Millionen!
500 Arbeitsplätze auf fünf Jahre!]
Wir warten nun darauf, daß diese Entscheidung des „Berliner
Frühlings“ in Bonn auch als ein Signal für bessere und klügere
finanzpolitische Priorität verstanden wird. In Bonn finden
gerade die Haushaltsberatungen statt, und deshalb ist vielleicht