Abgeordnetenhaus von Berlin - 11. Wahlperiode
32. Sitzung vom 31. Mai 1990
1671
Dr. Statz
(A) Betrieben gibt, der möglicherweise nicht ohne weiteres privati
siert werden soll, der in genossenschaftliches Eigentum überge
führt werden soll, auch die Frage der kommunalen Eigenbe
triebe, all das wird durch die konservative Wirtschaftspolitik
überhaupt nicht mehr auf die politische Tagesordnung gesetzt.
Der zweite Punkt, weshalb meines Erachtens diese Strategie
wirklich Methode hat: Es sollen schlicht Marktbedingungen für
das westliche Kapital geschaffen werden. Es geht um die Bedin
gungen für den Aufkauf von Betrieben in der DDR. Das ist der
Sinn dieser Schocktherapie.
Das freie Feld für Investitionen aus dem Westen soll eröffnet
werden. Doch ich zweifle sehr daran, ob diese Investitionen mit
dieser Strategie so ohne weiteres kommen werden. Die DDR
wird zunächst ein Käufermarkt sein und nicht ein Investitions
markt, und nur eine sehr viel behutsamere Strategie, nur eine
Strategie der gezielten Strukturanpassung, hätte es ermöglicht,
daß dort auch unter definierten Bedingungen Investitionen aus
dem Westen kommen.
Ich glaube, daß der Kernpunkt der Kritik an diesem Staatsver
trag folgender sein muß:
[Wronski (CDU): Was ist denn Glaube?]
Die Art und Weise, wie die Marktwirtschaft in der DDR eingeführt
wird, setzt die Menschen einem sehr großen sozialen und wirt
schaftlichen Risiko aus - Arbeitslosigkeit etc., darauf wurde hin
gewiesen. Den Menschen wird aber gleichzeitig die Möglichkeit
genommen, sich gegen dieses Risiko auch zu wehren. Und
indem dieser Widerspruch, indem diese Schere in die DDR ein
geführt wird, ist dieses System scheinbar auch stabil. Den Men
schen wird nicht die Möglichkeit gegeben, sich zu wehren - aus
verschiedenen Gründen:
Erstens, es gibt keine wirklich schlagkräftigen Gewerkschaf
ten. Unser System beruht darauf, daß wir wirklich - im Engli
schen würde es heißen - ein System von „checks and balances“
, R . haben, daß wir organisierte Interessengruppen haben, daß wir
' ' Rechtssicherheit haben, daß wir Klagemöglichkeiten haben, dar
auf beruht auch die relative Stabilität unseres Systems. All das
muß in der DDR erst hergestellt werden. Die Weichen werden im
nächsten halben Jahr, im nächsten Jahr gestellt werden. Zu
diesem Zeitpunkt wird es diese Möglichkeiten, die bei uns da
sind, in der DDR noch nicht geben. Es wird die Gewerkschaften
nicht geben, es wird keine funktionsfähigen Mieterverbände
geben, es wird keine funktionsfähige Lobby in der Richtung
geben, daß auf Umweltschutz gepocht wird. All das bedeutet
letztendlich, daß die Menschen sich drüben gegen diese Politik
kaum wehren können.
Es kommt noch ein zweites hinzu: Es gibt keine funktionie
rende Rechtswegegarantie, es gibt kein funktionierendes
Rechtssystem, wo in unserem System jeder sagen kann:
[Landowsky (CDU); Sie sind ja noch schlimmer als Gysi!]
Paßt einmal auf, ich gehe jetzt vor Gericht. - Sondern das wird
erst im Lauf der Zeit eingeführt werden können. Die Menschen
werden sich also in diesem Bereich nicht wehren können.
Daß das eine gezielte, bewußte Strategie ist, zeigt sich an
einem Beispiel. Diese konservative Regierung in Bonn hat die
Unverschämtheit besessen, der DDR im ersten Entwurf des
Staatsvertrags vorzuschlagen, das Betriebsverfassungsge
setz zu übernehmen,
[Landowsky (CDU): Natürlich!]
aber nicht die Mitwirkung der Betriebsräte bei Massenentlassun
gen. Das ist es, was ich meine: Man versucht, das Rechtssystem
der Bundesrepublik da drüben nur so weit einzuführen - man hat
es zumindest versucht, Gott sei Dank gab es einen Widerstand,
weshalb das nicht durchgesetzt werden konnte -, daß die Men
schen sich eben nicht mehr dagegen wehren können. Ich denke,
das ist das Gegenteil von dem, was wir eigentlich damit verbun
den haben, wenn wir gesagt haben, in der DDR sollen demokrati
sche Verhältnisse herrschen.
[Wronski (CDU): Zum Glück gibt’s die ALI]
Die Menschen werden in der DDR einem System ohne diese (C)
Möglichkeiten ausgesetzt werden, und ich finde das zynisch.
[Landowsky (CDU): Zynisch ist das, was Sie sagen!]
Ihnen wird Demokratie versprochen, aber es ist eine amputierte
Demokratie. Sie beschränkt sich auf Wahlen und auf Parlamente,
sie bietet den Menschen nicht wirklich die Möglichkeiten, die wir
auch in unserem eigenen System noch erkämpfen müssen, näm
lich ihre Interessen wirklich wirksam durchzusetzen.
Aus diesem Grund brauchen wir eine Diskussion über eine
neue Verfassung, in der soziale Grundrechte - Wohnen, Arbeit
- festgelegt sind, in der das Aussperrungsverbot steht, wo die
Rolle der Menschen in diesem System wirklich über einen
Grundrechtskatalog gestärkt wird. Und wir brauchen eine demo
kratische Debatte über diese Verfassung.
Es werden nicht nur ökonomische und soziale Verwerfungen
auf die DDR zukommen, sondern es wird auch politische Verwer
fungen geben, von denen ich die Befürchtung habe, daß sie
auch die Demokratie drüben wieder gefährden können. Wenn
die teuflische Klemme zwischen dem Überstülpen unseres
Systems und der Ohnmacht der Betroffenen da drüben nicht zu
einer großen politischen Krise führen soll, dann gibt es nur einen
Weg: Dieser Staatsvertrag muß vom Tisch, und wir brauchen
mehr Demokratie, damit den Menschen die Möglichkeit gegeben
wird, sich gegen die Auswirkungen dieses Prozesses des Über-
stülpens unseres Systems auch zu wehren. - Ich danke Ihnen!
[Beifall bei der AL -
Landowsky (CDU); In der Volkskammer würden
Sie als Stalinist gelten! - Dr. Köppl (AL): Die CDU hat
Erklärungsbedarf!]
Präsident Wohlrabe: Meine Damen und Herren, ich darf
herzlich die vorderen Reihen bitten, die Gespräche einzustellen!
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Degen! - So, Herr Degen,
ich bitte zu beginnen! ' '
Degen (REP): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich
möchte hier feststellen, daß zu Beginn der zweiten Debatten
runde gerade durch Herrn Meisner eine Versachlichung stattge
funden hat, durch seine Ausführungen, die er hier dargelegt hat,
worin auch Fakten waren und nicht nur Polemik von seiten der
anderen Parteien.
Ich möchte hier erst einmal vorab sagen, für mich ist diese
Aktuelle Stunde am heutigen Tage nichts anderes als ein schein
heiliges, taktisches Zurückweichen der SPD, um hier die Forde
rungen von Herrn Lafontaine publik werden zu lassen. Man pro
biert hier, eine Situation herbeizuführen, um Herrn Lafontaine
nicht in der Öffentlichkeit zu demaskieren.
Zur Alternativen Liste möchte ich zu diesem Zeitpunkt sagen;
Daß Sie den Staatsvertrag ablehnen, das wissen wir. Was an
der Sache bemerkenswert ist und was Sie im Grunde genom
men für mich als Partei sehr sympathisch macht, ist, daß Sie hier
vorausberechenbar sind. Man kann wissen, wie Sie reagieren,
was im Gegensatz dazu bei Ihrem Koalitionspartner, der SPD,
nicht der Fall ist. Heute so, morgen so, je nachdem wie die Fahne
im Wind weht.
Zu Herrn Statz muß man sagen: Ich habe den Eindruck, als
wenn er hier im Hause der letzte übriggebliebene Stalinist ist, der
überhaupt noch etwas sagt,
[Beifall bei den REP]
als wenn es hier darum geht, daß — Unsere Gewerkschaften
werden durch ihn madig gemacht. Aber er stellt es so dar, als
wenn hier FDGB, Betriebskampfgruppen, GST oder Betriebs
parteigrundgruppen das Alleinseligmachende sind. Die Leute in
der DDR haben von solcher Staatsform absolut die Schnauze
voll, um es einmal so zu sagen. Sie wollen nicht das hören, was
Sie hier von sich geben.
[Beifall bei den REP]