Abgeordnetenhaus von Berlin - 11. Wahlperiode
30. Sitzung vom 10. Mai 1990
1573
Diepgen
(A) und viel Geld und viele Arbeitsplätze. So darf es nicht weiterge
hen. Es darf nicht weiter der Weg begangen werden, der hier
verbal vorgetragen worden ist.
[Beifall bei der CDU - Dr. Niklas (SPD):
Ist denn nicht die Zahl der Arbeitsplätze gestiegen?
Ich möchte die wichtigsten Felder der Zusammenarbeit zur
Einheit der Stadt kurz skizzieren. Dabei gibt es sicherlich auch
Wiederholungen. Seit einem halben Jahr ist jetzt die Mauer
geöffnet, seit fünf Tagen hat Berlin in beiden Stadtparlamenten
und in allen seinen Bezirken demokratisch gewählte Volksvertre
ter. Ich bin sicher, daß es uns gelingen kann, innerhalb eines wei
teren halben Jahres auch die rechtliche Einheit unserer Stadt
herzustellen. Dazu braucht Berlin keine neue Verfassung. Es
geht darum, die Verfassung vom 1. September 1950 - für ganz
Berlin unter Beteiligung aller damaligen Parteien ausgearbeitet
— jetzt auch wieder für ganz Berlin in Kraft zu setzen, ln diesem
Zusammenhang beobachten wir übrigens eine merkwürdige
Position des Regierenden Bürgermeisters, ein merkwürdiges
Verfassungsverständnis. Er hat vor kurzem erklärt, er werde ge
meinsam mit dem künftigen Oberbürgermeister eine neue Ver
fassung vorbereiten, und dann will er Stadtverordnetenversamm
lung und Abgeordnetenhaus beteiligen.
[Gelächter bei der CDU]
Herr Momper, denken Sie an den Ruf der Demokraten, die
sagen: Wir sind das Volk, nicht die Verwaltung!
[Beifall bei der CDU]
Hier will ich Übereinstimmung feststellen.
Als erstes muß die Mauer in und um Berlin sofort und
ersatzlos fallen. Sofort und ersatzlos! Ich freue mich, daß diese
Position jetzt auch von Ihnen vertreten wird. Personenkontrollen
sind überflüssig und können abgeschafft werden. Spätestens
vom 1. Juli an, dem Tag, an dem eine Währung in der Stadt gege-
ben ist, ist Berlin eine Stadt, die für sich ungeahnte Möglichkei
ten und Perspektiven hat. Aber diese müssen erarbeitet werden.
Sie fallen uns nicht in den Schoß. Das heißt für mich, alle Politi
ker, Wirtschaftsverbände, Kammern, Gewerkschaften und Inter
essenvertretungen müssen Berlin als eine Stadt denken. Das
rot-grüne Konzept der Großdorfidylle muß dabei endgültig in den
Schubkästen verschwinden. Ab sofort darf es keine Planung und
Politik mehr geben, die nicht ganz Berlin und sein Umland einbe
ziehen. Manche scheinen das noch nicht ganz begriffen zu
haben. Ein Verkehrskonzept, das großflächige Tempo-30-Zonen
ohne Rücksicht auf Verbindungswege in der Stadt und im Um
land vorsieht, ist verfehlter denn je. Das steht für Großdorfidylle,
aber nicht für eine europäische Metropole!
[Beifall bei der CDU -
Vereinzelter Beifall bei den REP]
Das betrifft auch die Nord-Süd-Verbindung oder andere Fragen.
Zur Zusammenarbeit zwischen Ost und West fordere ich den
Senat auf, sich für ein Verwaltungsabkommen zwischen West-
und Ost-Berlin und den umliegenden Städten und Kreisen einzu
setzen, durch das gemeinsame Beratungs- und Abstimmungs
gremien der Parlamente und Verwaltungen eingerichtet werden.
Dieses Verwaltungsabkommen kann die Voraussetzungen für die
Errichtung eines leistungsfähigen Regionalverbands im Groß
raum Berlin werden. Die wichtigen Aufgaben sind:
— ein neuer Flächennutzungsplan,
— eine sinnvolle Planung für Straßen-, Schienen- und Flugver
kehr,
— der öffentliche Nahverkehr, der zwischen Ost und West
verbunden werden muß,
— Versorgungs- und Entsorgungsunternehmen müssen in
leistungsfähigen Eigenbetrieben zusammengeführt werden,
— der Mitarbeiteraustausch,
— berufsbegleitende Qualifizierungslehrgänge,
~ der gemeinsame Krankenhausplan. Die Universitätsklinika
müssen in ihrer Zusammenarbeit organisiert werden.
Wir sind eine Großstadt ohne Grenzen, und das schafft eine (C)
völlig neue Situation, eine neue Situation in den Chancen der
Stadtplanung, des Umweltschutzes der liebens- und lebenswer
ten Stadt Berlin. Aber es schafft auch, damit müssen wir uns
gerade in Berlin auseinandersetzen, eine neue Situation in der
Sicherheitspolitik. Die Kriminalitätsbekämpfung braucht neue
und zusätzliche Strategien.
Ich will noch einige Bemerkungen zu dem besonders großen
Problem des Wohnungsmarktes machen. Hier muß schneller
mehr geschehen, wenn wir eine wilde Zersiedelung des Um
lands verhindern wollen. Wir brauchen in den kommenden fünf
Jahren etwa 100 000 neue Wohnungen, und das ist mit den
gegenwärtigen Kapazitäten und Finanzmitteln natürlich nicht zu
schaffen. Es muß schneller geplant werden. Die Genehmigun
gen müssen schneller erteilt werden, und vor allen Dingen brau
chen wir einen Wettbewerb, der zu preiswerterem Bauen führt.
In diesem Wohnungsbau gibt es aus der Sicht meiner Frak
tion eine Hierarchie: Erstens, die Renovierung und Sanierung
vorhandener Altbauten, zweitens die Schließung von Baulük-
ken, drittens stadtverträgliche Verdichtung in der Innenstadt
und viertens den Wohnungsbau entlang der Verkehrswege in
das Umland. Wir wollen keine neuen gesichtslosen Trabanten
städte! Und wir müssen auch darauf achten, daß die Städte und
Gemeinden im Umland durch das Wachstum dieses Ballungs
gebiets insgesamt nicht zerstört werden.
[Beifall bei der CDU]
Der Wohnungsmangel darf nicht zu einem sozialen Verdrän
gungsprozeß in der Stadt führen, bei dem soziale Aufsteiger aus
dem Osten sozial Schwache aus dem Westen verdrängen.
Sozialer Mieterschutz und individuelle Mietbeihilfen in Berlin
im kommenden Jahr sind daher besonders notwendig.
Der Regierende Bürgermeister hat auf die Fragen des
Arbeitsmarktes abgestellt. Ich halte es für gefährlich, Herr
Momper, daß hier Zahlen über Arbeitslosigkeit genannt werden.
Wir wissen, daß es eine Umstrukturierung in der DDR geben ' '
wird. Aber parallel zum Verlust einer Vielzahl von Arbeitsplät
zen wird es den Neuaufbau von Arbeitsplätzen gerade im
Bereich von Dienstleistungen geben. Ich halte es für verkehrt
und gefährlich - Herr Regierender Bürgermeister, das meine ich
ganz ernst -, daß Sie die Angstkampagne, die die PDS startet,
auch noch von diesem Pult aus zusätzlich unterstützen.
[Beifall bei der CDU und den REP -
Dr. Niklas (SPD): Sie stecken den Kopf in den Sandl]
Dabei besteht Übereinstimmung, daß wir nicht nur die Wäh
rungsunion, sondern auch die Sozialunion brauchen und daß
ältere Arbeitnehmer, Behinderte und alleinerziehende Mütter den
besonderen Schutz des Staates brauchen.
[Dr. Niklas (SPD): Nehmen Sie doch mal die Realität
zur Kenntnis!]
Berlin wird mehr als jede andere Stadt zur Wiedervereini
gung Deutschlands beitragen können. Berlin hat dabei aber
auch die Schwierigkeiten schwerer und hautnaher zu ertragen.
Und deshalb braucht die Stadt auf absehbare Zeit die Hilfe und
die Solidarität des Bundes. Wer heute bereits die Berlinförde
rung oder auch den Zuschuß zum Haushalt des Landes Berlin
in Frage stellt, gefährdet die Aufgabe, die die Stadt in dem Eini
gungsprozeß unseres Landes leisten kann, leisten will und lei
sten wird!
[Beifall bei der CDU]
Eine letzte Anmerkung möchte ich noch zu den Vorstellungen
zur Hauptstadt Berlin machen. Es besteht Übereinstimmung
darüber: Berlin ist die deutsche Hauptstadt und muß Regie
rungssitz werden! Wir brauchen eine gemeinsame, alle Par
teien und Interessenverbände übergreifende Initiative zu
diesem Ziel. Wir müssen auch darauf hinweisen, daß mit der
Geschichte dieser Stadt Berlin eben nicht nur unselige zwölf
Jahre verbunden sind. Damit müssen wir uns auch auseinander
setzen. Die Geschichte dieser Stadt, das ist Mendelssohn, und
das ist in den letzten 40 Jahren der permanente, kontinuierliche