Abgeordnetenhaus von Berlin - 11. Wahlperiode
28. Sitzung vom 5. April 1990
1512
Dr. Haase
(A) Die Bestandsaufnahme der Berliner Anstrengungen für
Europa belegt, daß für die notwendigen Strukturanpassungen
die Weichen heute richtig gestellt werden müssen. Dazu ist es
notwendig, Berlin bei den europäischen Entscheidungsträgern
in Brüssel richtig zu positionieren. Die Stadt muß ihre Chancen
nutzen, die sich aus der Beseitigung ihrer Randlage ergeben. Die
Zukunft Berlins liegt im Herzen Deutschlands und damit auch im
Zentrum Europas.
Die Revitalisierung des ost- und mitteldeutschen Wirtschafts
raumes wie auch der mitteleuropäischen Wirtschaftsregion stellt
sich nicht allein als eine deutsche Herausforderung, sondern
vielmehr als eine europäische Herausforderung dar. Das ist eine
reizvolle unternehmerische Aufgabe, die sich für Berlin mit
seinen erfahrenen Beratungs- und Ausbildungskapazitäten als
Tor nach Mitteleuropa anbietet.
Einstellen sollten wir uns auch darauf, daß die DDR wohl nicht
als 13. Land Mitglied der EG wird, sondern daß die deutsche Ein
heit als Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion früher kommt
und sich noch vor dem Jahr 1993 vollenden wird. Deshalb wird
sich die mitteldeutsche Wirtschaft, etwa vergleichbar mit der
nordrhein-westfälischen Wirtschaft, als Bestandteil der deut
schen Wirtschaft in den europäischen Binnenmarkt einfügen.
Im einzelnen möchte ich kurz drei Punkte hervorheben: Einmal
zeigt das Projekt „EG 92“, daß es mit Sicherheit ein Erfolg wird -
nur keiner von uns weiß heute, wann dies der Fall sein wird. Die
Wirtschaft, die Arbeitnehmer wie auch die Arbeitgeber, müssen
sich gleichwohl darauf einstellen, denn hier geht es um zukunfts
orientierte Arbeitsplätze, und deshalb erscheint es uns wichtig,
heute danach zu fragen.
Zweitens hat der Senat eine Vielzahl von Papieren, unter
anderem ein wirtschaftspolitisches Arbeitsprogramm für Europa,
vorgelegt. Darin ist eine Vielzahl von Absichtserklärungen enthal
ten. Es wird ausgeführt, man werde informieren, man werde dar
auf hinweisen und man werde für den Wirtschaftsstandort Berlin
werben. Wir wollen, daß der Senat nicht nur Absichten verkün-
det. Deshalb fragen wir danach, welche Taten diesen Absichten
gefolgt sind.
Schließlich haben wir - drittens - die Befürchtung, daß der
Senat den Wettbewerb der Wirtschaftsregionen verschläft. In
diesen Tagen wurde eine Untersuchung über Bayern veröffent
licht, in der darauf hingewiesen wurde, daß Bayern vom EG-Bin-
nenmarkt überdurchschnittlich profitieren wird. Wir fragen nach:
Wie sieht das eigentlich für die Berliner Wirtschaft aus? Und wir
wollen wissen, was der Senat getan hat und was der Senat tut,
um Berlins Chancen zu nutzen - Chancen, die sich ergeben als
Tor nach Mitteleuropa.
Schließlich wollen wir in diesem Zusammenhang auch daran
erinnern, daß es noch nicht sehr lange her ist, daß man von Euro-
Sklerose und davon gesprochen hat, Europa habe seine Zukunft
bereits hinter sich. All das gehört heute der Vergangenheit an.
Das ist sicher auch eine Verbindung zu der anderen Großen
Anfrage, die heute mitbehandelt wird.
Heute erkennen wir, daß Europa d i e Wachstumsregion der
Welt ist. Im Bericht der Industrie- und Handelskammer, im DIW-
Wochenbericht wie aber auch in der Senatserklärung der ver
gangenen Woche lesen wir, daß Berlin sich erfreulicherweise im
Gleichklang entwickelt. Wichtig erscheint heute, die Chancen
von „EG 92“ zu nutzen, um Arbeitsplätze zu schaffen, um
zugleich eine Umweltgemeinschaft zu erringen und darüber hin
aus die Sozialcharta durchzusetzen. Wir haben die Aufgabe,
dafür politisch die Rahmenbedingungen zu setzen. - Vielen
Dank!
[Beifall bei der CDU]
Stellv. Präsidentin Frohnert: Zur Begründung hat für die
SPD Herr Böger das Wort.
Böger (SPD); Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren!
Die Wirtschaftspolitik in Berlin - das zeigen zutreffend die
beiden Großen Anfragen - steht vor einer doppe11en Her
ausforderung, nämlich - erstens - vor der der Integration
in den Europäischen Binnenmarkt zum 1. Januar 1993 und - (C)
zweitens - der Integration des anderen Teils der Stadt und des
Umlandes zu einem einheitlichen Wirtschaftsgebiet. Diese
beiden wirtschaftlichen Integrationsprozesse sind die Vorläu
fer zu einer politischen Integration. Dabei besteht kein Zwei
fel, daß die deutsche Integration, das heißt der deutsche Eini-
gungs- und Einheits-Prozeß, schneller gehen wird. Ich darf hier
sagen: Wir wollen dabei keine deutschen Alleingänge, wir wol
len vor allen Dingen keine deutsche Hegemonie in Europa -
weder wirtschaftlich noch politisch sondern wir wollen ein
europäisches Deutschland.
[Beifall bei der SPD und der AL]
Dabei muß nach unserer Auffassung aus dem raschen deut
schen Tempo die Tugend eines beschleunigten europäischen
Aufbruchs werden.
Zur wirtschaftlichen Entwicklung in unserer Stadt ist heute
schon viel gesprochen worden. Ich möchte eine Dreiteilung
machen und zunächst aut die gegenwärtige Lage einge-
hen, danach auf die langfristigen Perspektiven und
dann gewissermaßen auf die Zwischenzeit.
Zur gegenwärtigen Lage kann man sagen, daß die derzeitige
konjunkturelle Lage in Berlin - sieht man vom Arbeitsmarkt ab -
glänzend ist. Weil der Kollege Dr. Haase gerade so nett zuhört:
Nach seinen Ausführungen vorhin sollte die Sozialdemokratie
sofort Wahlen ausschreiben. Wenn richtig ist, daß gute Wirt-
schaftskonjunktur der Sozialdemokratie zugute kommt, sollten
wir sogleich wählen. Leider ist die Erfahrung ja nicht ganz so!
[Landowsky (CDU): War das ein Angebot?]
- Das war kein Angebot, sondern nur die Verfolgung einer fal
schen Prämisse des Kollegen Dr. Haase! - Der jüngste DIW-
Bericht zeigt das sehr deutlich. Ich lese Ihnen nur die Überschrif
ten vor: „Anhaltender Aufschwung in der Industrie“, „Belebung
des privaten Konsums“, „Anstieg der Ausrüstungsinvestitionen“,
„Belebung der Bautätigkeit“ - hört, hört! „Geringes Wachs- (q)
tum des öffentlichen Verbrauchs“ - hier wird uns auch Sparsam
keit attestiert - und schließlich - das wurde mehrfach angespro
chen - nach wie vor eine hohe, zu hohe Arbeitslosigkeit. Dieses
ist die gegenwärtige konjunkturelle Lage.
Die langfristigen Perspektiven - auch das kann
man relativ schnell machen - bieten in der Tat faszinierende Aus
sichten. Es ist für unsere Stadt möglich, daß nun endlich die
Visionen, an denen viele hier in diesem Lande, auch in diesem
Haus, gedacht haben, in der Perspektive zur Realität werden
können. Das heißt, Berlin kann nach Jahren der Bedrohung und
nach Jahren einer Randlage tatsächlich zu einem Zentrum, zu
einer Metropole werden, mit einem Umland von etwa fünf Millio
nen Menschen, zur Hauptstadt eines demokratischen, föderali
stischen Deutschlands und schließlich zu einem Bindeglied zwi
schen EG und Osteuropa.
Nun komme ich zu dem eigentlichen Problemfeld - und darauf
zielt auch unsere Anfrage -, dem Prozeß der Umstrukturierung,
der Umstellungsprobleme, die zweifellos in der nahen Zukunft
auftauchen. Hier ist häufig gesagt worden - auch von einigen
Kollegen von mir -, daß Berlin nunmehr keine Insellage mehr
habe. Dies ist politisch richtig, aber ökono
misch falsch. Ökonomisch ist Berlin nach wie vor eine
Insel, und zwar mit einem relativ hohen Wohlstand und mit relativ
hohen Einkommen, wenn man es mit dem Umland vergleicht.
Durch diese ökonomische Insellage werden nach meiner Vermu
tung und auch Befürchtung in der nahen Zukunft erhebliche
Sogwirkungen von der DDR ausgehen, und zwar in zweierlei
Richtungen: Einmal könnte es - auch das ist hier mehrfach the
matisiert worden - aufgrund der vermutlich niedrigeren Löhne
und Gehälter in der DDR - auch auf D-Mark-Basis - sein, daß
viele Arbeitssuchende - eventuell auch gut ausgebildele
Kräfte - auf den West-Berliner Markt drängen. Es gibt darüber
hinaus bei dem Umstellungsprozeß zur Marktwirtschaft zweifel
los auch Arbeitslosigkeit in der DDR; das ist der eine Vorgang.
Der andere ist, daß der notwendige Strukturwandel in der Stadt
sich dermaßen beschleunigt, daß relativ rasch ganze Industrie
bereiche aus der Stadt in das Umland gehen, so daß wir hier in