Abgeordnetenhaus von Berlin - 11. Wahlperiode
26. Sitzung vom 8. März 1990
1319
RBm Momper
Die soziale Marktwirtschaft ist für die DDR-Bevölkerung
heute noch ein Buch mit sieben Siegeln; sie schlagen erst die
erste Seite auf. Auch die tragenden Elemente des demokrati
schen Rechtsstaates sind ihnen noch nicht vertraut. Den Men
schen in der DDR muß die Angst genommen werden, die auf
einer Unkenntnis demokralisch-rechtstaatlicher Institutionen und
Regeln beruht. Sie müssen erfahren, was Rechtssicherheit
bedeutet, welche Schutzrechte ihnen unser Rechtssystem bie
ten wird und daß sie ihre sozialen Interessen selbst vertreten,
damit ihre Bedürfnisse nicht unter die Räder kommen. Deshalb
muß die Sozialunion in einem Atemzug mit der Währungs- und
Wirtschaftsunion genannt werden. Wir dürfen nicht nur mit
unserer starken Währung winken, wir müssen genauso beharr
lich darauf Wert legen, daß die Einführung des Systems der
sozialen Sicherheit die Einführung der Marktwirtschaft in der
DDR begleitet.
[Beifall bei der SPD]
Die soziale Marktwirtschaft ist ein effektives und zu Recht
bewundertes System, doch das Etikett „sozial“ geht nicht
zwangsläufig mit der Wirtschaftsordnung einher. Auch das
System der sozialen Sicherheit fiel uns nicht in den Schoß - trotz
des Sozialstaatsgebots im Grundgesetz. Die Sozialpolitik mußte
oft in einem harten Kampf gegen konservative Interessen durch
gesetzt werden. Heute rühmen sich alle dieser Leistungen,
[Zurufe von der CDU]
doch sie standen nicht am Anfang, sondern sie waren das
Ergebnis politischer Auseinandersetzungen, besonders mit Ihrer
Seite.
[Beifall bei der SPD und der AL - Zurufe von der CDU]
Gegenwärtig fragen viele, welche Verfassung das vereinigte
Deutschland am Ende haben wird. Ich meine, daß wir dringen
dere Probleme zu lösen haben, als eine polarisierende Verfas
sungsdebatte zu führen. Die Menschen in der DDR haben zur
Zeit ganz andere Sorgen. Ich bin der Auffassung, daß ein Beitritt
der DDR zur Bundesrepublik nach Artikel 23 eine Veränderung
und Ergänzung des Grundgesetzes nach Artikel 146 nicht aus-
schließt. Unser Grundgesetz hat sich bewährt Dennoch kön
nen wir es weiterhin verbessern. Umweltschutz kann durchaus
als Staatsziel eingefügt werden.
[Beifall bei der SPD]
Es geht weiter: Das Gleichstellungsgebot für Frauen kann ver
bessert werden.
[Beifall bei der SPD]
Ein Grundrecht auf angemessenen Wohnraum wäre sinnvoll,
und die Aussperrung als Mittel des Arbeitskampfes könnte in der
Verfassung endlich verboten werden.
[Beifall bei der SPD und der AL]
Das alles wären aus meiner Sicht wesentliche Verbesserun
gen des Grundgesetzes. Auch eine Stärkung der Länder in der
Finanzverfassung ist geboten. Der Vollzug eines Beitritts nach
Artikel 23, über den nach dem Grundgesetz die gewählte Volks
vertretung der DDR zu entscheiden hat, setzt eine vorherige Ver
ständigung voraus. Dazu brauchen wir eine vorherige Absprache
über die sicherheitspolitische Einbettung des Bundesstaates,
wir brauchen dazu die vorherige Absprache über das konkrete
Einigungskonzept und über die Verfassung des neuen Bundes
staates. Schließlich benötigen wir auch die konkreten Über-
gangsregelungen.
Die neue gemeinsame Verfassung sollte vom Grundgesetz
ausgehen; sie sollte das Grundgesetz ändern und ergänzen, und
zwar dort, wo die besonderen Gegebenheiten der DDR dies
gebieten, und dort, wo die Bildung des deutschen Bundesstaa
tes dies erfordert. Die so erarbeitete Verfassung soll das deut
sche Volk, sobald die vertragliche Vereinbarung vorliegt, in freier
Entscheidung beschließen. Mit dem Inkrafttreten der neuen Ver
fassung wird nach Artikel 146 Grundgesetz die bundesstaatli
che Einheit hergestellt. Der Vorteil dieses von den Müttern und
Vätern des Grundgesetzes für die Einheit vorgesehenen Weges
ist, daß das Volk die Einheit selbst begründet.
Die Menschen in der DDR müssen keine Angst vor der (C)
Zukunft haben. Ich weise auf Artikel 72 des Grundgesetzes hin.
Dieser verpflichtet den Bund, über die Ländergrenzen hinweg
die Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse zu wahren. Das gilt
auch in Zukunft. Wir müssen in der DDR die Errungenschaften
des Grundgesetzes deutlich machen. Das Grundgesetz, einst
als Provisorium erdacht, hat entscheidend dazu beigetragen, die
Bundesrepublik zu einem blühenden Gemeinwesen zu machen.
[Beifall bei der SPD und des Abg. Dr. Wruck (CDU)]
Die Berliner müssen gerade im Prozeß der deutschen Eini
gung ihre Stimme mit in die Waagschale legen können. Berlin
als eine Schlüsselregion der Einigung darf bei Bundestagswah
len nicht länger im Abseits stehen. Die West-Berlinerinnen und
West-Berliner müssen am 2. Dezember 1990 ihre Abgeord
neten in den Deutschen Bundestag endlich direkt wählen kön
nen. Das berührt den Vier-Mächte-Status von Berlin erkennbar
nicht. Ich erwarte dazu sehr bald eine klare Aussage unserer drei
Schutzmächte, damit das Gesetzgebungsverfahren noch im
März von der Bundesregierung in Gang gesetzt werden kann.
[Beifall bei der SPD]
Die deutsche Frage ist kein Problem der Deutschen allein. Das
deutsche Problem hat in diesem Jahrhundert das Schicksal und
das Leben aller Völker in Europa bestimmt. Die Übermacht eines
großen Deutschen Reiches im Herzen des Kontinents war zwei
mal in diesem Jahrhundert die Ursache verheerender Kriege. Wir
wollen nicht an den Grenzen in Europa rütteln. Wir wollen die
Westgrenze Polens eindeutig und endgültig garantieren.
[Beifall bei der SPD und der AL]
Die Bonner Verunsicherung in der Grenzfrage hat dem Ruf
unseres Landes geschadet und die Akzeptanz der deutschen
Einigung weltweit verringert. Grenzen sind Grenzen, Reparatio
nen sind Reparationen, und Minderheitsfragen sind Minderheits
fragen. Es ist falsch, und es ist politisch schädlich, ein Junktim
zwischen diesen Themen herzustellen.
[Beifall bei der SPD und der AL]
Die Sicherheitsordnung, die seit dem Krieg Frieden und Sta
bilität in Europa garantiert hat, basierte auf gegenseitiger Bedro
hung und Hochrüstung. Sie funktionierte nur auf der Basis der
Spaltung Europas. Mit dem Zusammenbruch des bürokratischen
Sozialismus bricht die Basis für diese auf Konfrontation beru
hende Ordnung zusammen. Wir müssen nunmehr ein System
der Sicherheit in Europa finden, das auf freier Zustimmung freier
Völker beruht und das Selbstbestimmungsrecht aller Völker,
auch der Deutschen, mit einschließt. Ein solches System kann
nur kollektiv sein, es muß alle europäischen Völker und die Sie
germächte des Zweiten Weltkrieges einschließen.
Der Warschauer Vertrag verliert seine Bedeutung als Militär
bündnis. Sein Ende ist absehbar. In dieser Situation muß die
NATO umgestaltet werden. Ein westliches Militärbündnis ohne
einen östlichen Gegner verliert seine Funktion. Die NATO muß
sich vom militärischen zu einem politischen Bündnis wandeln.
Sie jnuß sich für neue Mitglieder öffnen. Es wird Zeit, mit Artikel
10 des Nordatlantik-Vertrages Ernst zu machen, in dem es heißt:
Die Parteien können durch einstimmigen Beschluß jeden
anderen europäischen Staat, der in der Lage ist, die Grund
sätze dieses Vertrages zu fördern und zur Sicherheit des
nordatlantischen Gebiets beizutragen, zum Beitritt einladen.
Wohlgemerkt: Es geht mir keineswegs darum, das alte Militär
bündnis NATO weiter nach Osten vorzuschieben. Das Vorschie
ben des Militärbündnisses NATO bis an die Westgrenze Polens
würde die Sicherheitsinteressen der Sowjetunion empfindlich
berühren. Das würde Michail Gorbatschows Politik des Umbaus
gefährden. Das liegt nicht in unserem Interesse. Es geht vielmehr
darum, die NATO als gewandeltes, politisches Bündnis, als
Keimzelle für ein europäisch-atlantisches kollektives Sicherheits
system zu nutzen. In diesem System würden dann die USA
ebenso wie alle europäischen Mächte ihren Platz haben. Die eine
Großmacht, die Sowjetunion, ist eine europäische Macht. Die