Abgeordnetenhaus von Berlin - 11. Wahlperiode
18. Sitzung vom 16. November 1989
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Diepgen
(A) Ich halte es für einen politischen Skandal, wenn der Regie
rende Bürgermeister öffentlich erklärt, es sei jetzt nicht mehr so
wichtig, was mit der Mauer geschehe. Übrigens auch die Öff
nung des Brandenburger Tores hat der Regierende Bürgermei
ster gestern oder vorgestern
[Zuruf: Vorgestern!]
für nicht so interessant gehalten.
[Zuruf von der CDU: Unerhört!]
Ich stelle die Frage, Herr Regierender Bürgermeister: In welcher
Stadt leben Sie eigentlich?
[Beifall bei der CDU]
Ich halte es für schlimm, wenn der zweitwichtigste Mann der
SED, Herr Modrow, ausgerechnet den Regierenden Bürgermei
ster von Berlin zum Zeugen dazu aufrufen kann, daß die Mauer
nicht abgebrochen werden muß. Ich halte das für schlimm!
[Beifall bei der CDU]
Jedenfalls wir sagen; Die Mauer kann weg, die Mauer muß weg,
und die Mauer wird auch fallen! Sie wird als Bauwerk aus Beton
und Stacheldraht verschwinden - und zwar bald.
[Beifall bei der CDU]
Ich habe meine Kritik an dem Regierenden Bürgermeister hier
eben sehr vorsichtig formuliert.
[Unruhe bei der SPD und der AL]
Wenn sich die deutsche Nation trotz staatlicher Teilung auf den
Straßen vereint, dann dürfen die Politiker sich nicht wie die Kes
selflicker streiten. Mir liegt hier daran, Helmut Kohl und Willy
Brandt für ihre heutigen Reden im Deutschen Bundestag aus
drücklich zu danken.
[Beifall bei der CDU]
/gN Diese Reden waren deshalb so bedeutsam und so wertvoll, weil
sie den Menschen in Ost und West Mut macht, daß unsere
Demokratie über Persönlichkeiten verfügt, die einer solchen
historischen Situation gewachsen sind und sich in der Gemein
samkeit der Demokraten diesen ganz neuen und ganz außeror
dentlichen Aufgaben stellen.
[Beifall bei der CDU]
Ich finde, daß es für Berlin und für dieses Haus bedrückend
und beschämend ist, daß ausgerechnet der Regierende Bürger
meister von Berlin die Debatte im Deutschen Bundestag
- eine Debatte in einem Schicksalsmoment für das immer noch
geteilte Deutschland - zur Parteipolemik genutzt hat. Er hat das
getan in einem Augenblick, in dem es in erster Linie um Sorgen
und Chancen der von ihm vertretenen Stadt Berlin und der Bür
ger dieser Stadt ging.
[Beifall bei der CDU]
Herr Momper, Sie behaupten, die Debatte im Deutschen
Bundestag zum Bolzen und zum Treten nutzen zu müssen -
[Zuruf von der CDU]
und dieses übrigens vor erstarrten und eisigen Mienen in der
gesamten ersten Bank Ihrer eigenen Fraktion. Das war ein Stück
Hoffnung für mich.
[Beifall bei der CDU]
Ich habe den Eindruck, Willy Brandt hat sich nicht nur für das
Verhalten von vielen aus der heutigen Koalition in Berlin am ver
gangenen Freitag geschämt, sondern auch für Ihre heutige
Rede.
[Beifall bei der CDU]
Ich hoffe, daß Sie Ihren Fehltritt so langsam begriffen haben.
[Widerspruch bei der SPD - Zurufe - Unruhe]
- Die Unruhe, die bei der Sozialdemokratischen Fraktion in den
ersten Reihen festzustellen ist, ist vielleicht auch ein Stück Hoff
nung, daß Sie genauso empfinden wie ich und viele, viele Tau
sende Fernsehzuschauer, die diesen peinlichen Auftritt dieses (C)
Regierenden Bürgermeisters miterleben mußten.
[Beifall bei der CDU und den REP - Starke Unruhe bei
der SPD]
Sie werden mir zustimmen, daß ich mich um sehr zurückhaltende
Formulierungen bemühe, denn nach meiner festen Überzeugung
[Erhebliche Unruhe - Glocke des Präsidenten]
geht es mehr um Gemeinsamkeiten. Gemeinsamkeit ist das
Gebot der Stunde!
[Dr. Niklas (SPD): Und Herrn Gero Pfennig kennen Sie
wohl gar nicht...? - Erhebliche Unruhe bei der SPD]
Trotz dieses Regierenden Bürgermeisters steht dem Senat
diese Gemeinsamkeit zur Lösung der vor uns liegenden großen
Aufgaben ausdrücklich an.
[Beifall bei der CDU]
Die Gemeinsamkeit, die wir anstreben, findet aber ihre Gren
zen, und zwar in wenigstens drei Punkten:
[Erhebliche Unruhe - Zurufe]
Erstens; Die CDU hält fest an dem Ziel der Selbstbestim
mung. In der Koalitionsvereinbarung von SPD und AL steht das
Bekenntnis zur fortdauernden Zweistaatlichkeit Deutschlands
- übrigens einschließlich der Mauer. Das ist bisher nie wider
rufen worden - im Gegenteil. Noch vor ein paar Wochen hat der
Regierende Bürgermeister es als Chance für Europa bezeichnet,
wenn es zwei deutsche Staaten gibt! Wir allerdings sagen: An
der Zweistaatlichkeit auf Dauer festzuhalten, ist nichts anderes
als die Absage an die Selbstbestimmung!
[Beifall bei der CDU]
Die Freiheit zur Selbstbestimmung schreibt ein Ergebnis bei
der Ausübung dieses Rechts nicht vor. Niemand darf das Ergeb
nis des Selbstbestimmungsrechts vorab festlegen! ^
[Beifall bei der CDU - Demonstrativer Beifall bei der
SPD und der AL]
Wir wollen die Einheit Deutschlands, und wir werben für diese
Einheit Deutschlands!
[Beifall bei der CDU]
Und wir sind davon überzeugt, daß die Deutschen für die Einheit
stimmen werden, wenn sie dies können, wenn die Voraussetzun
gen dafür gegeben sind.
[Kern (SPD): Das überlassen Sie mal den Deutschen!]
Und übrigens, wenn Sie mal ein bißchen nachlesen und etwas zu
differenziertem Überlegen bereit sind, dann werden Sie feststel
len, daß beispielsweise die Vertreter der Sozialdemokratischen
Partei in der DDR zu den Fragen der Einheit eine ganz andere
Position einnehmen, als die ideologisch vorbestimmten Formu
lierungen von Ihnen das überhaupt nur zulassen.
[Beifall bei der CDU - Dr. Staffelt (SPD); Stimmt doch
gar nicht! - Frau Korthaase (SPD): Diepgen-Märchen!]
Wir schreiben dies niemand vor. Ich halte aber fest: Die Absage
an die deutsche Einheit ist der eigentliche Akt der Bevormun
dung der Deutschen in der DDR.
[Beifall bei der CDU]
Denn die Formulierung und die Zielsetzung, daß man selbst
gegen den Willen der Deutschen in der DDR - so formuliert von
der Alternativen Liste - an der Zweistaatlichkeit festhalten will -
das ist Bevormundung der Menschen, und zwar in einer ganz
schlimmen Art und Weise.
[Beifall bei der CDU]
Und noch eines; Man kann nicht Berlin als ungeteilte Stadt
und gleichzeitig zwei deutsche Staaten wollen. Wer zwei deut
sche Staaten und ein Berlin will, der will entweder das ganze
Berlin in die DDR eingliedern,
[Widerspruch bei der SPD]
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