Abgeordnetenhaus von Berlin - 11. Wahlperiode
23. Sitzung vom 18. Januar 1990
1185
Haberkorn
(A) Es gibt eindeutig Möglichkeiten, über das Wohnungsbin
dungsgesetz sich mit dem Problem ganz anders zu beschäfti
gen. Wir können davon ausgehen - so, wie es in München schon
lange passiert ist Berlin ist ein Gebiet, in dem es Wohnungs
notstand gibt. Wenn wir diesen Wohnungsnotstand erkennen -
und alle beschreiben ihn -, dann können wir auch entsprechend
gesetzliche Vorschriften in Angriff nehmen, um dann konsequen
ter mit sozialem Wohnungsbau, mit öffentlich geförderten Woh
nungen umzugehen und diese auch verstärkt für den Personen
kreis nutzen, der ohne Wohnung ist. ln diese Richtung werden
wir als AL zusammen mit der SPD gehen - hoffe ich und ich bin
guten Mutes, daß die auch mitziehen werden. Der Bausenator
mag sich damit beschäftigen, aber nicht in der Konsequenz, wie
wir diese Vorschläge jetzt auch noch einmal intensivieren wer
den. Das heißt, wir wollen, daß der gesamte soziale Wohnungs
baubestand, das sind rund 400 000 Wohnungen in dieser Stadt,
so weit eingebunden wird, daß entsprechend daraus auch die
Belegungsrechte für Personen mit Wohnungsberechtigungs
schein und Dringlichkeiten zu ziehen sind. Machen wir es so, daß
wir eine Überlassungsverordnung in dieser Stadt verfügen,
[Frau Fluhr (SPD): Niemals!]
eine Überlassungsverordnung, die entsprechend dann auch die
Bezirksämter in die Situation versetzt, ganz klar über Wohnungs
bestand einen Überblick zu haben und auch entsprechend
Zuweisungen zu verfügen, wo Wohnungen leerstehen. Wir kön
nen es nicht mehr der Verfügungsgewalt der Vermieter überlas
sen, wen sie in ihre Wohnung herein nehmen wollen oder wen
nicht. Es gibt keine anderen Lösungsvorschläge. Der beste
hende Kooperationsvertrag, der mit den gemeinnützigen
Wohnungsbaugesellschaften abgeschlossen ist, besagt ledig
lich, daß 3 500 Wohnungsnotfälle, was nicht alles Wohnungs
lose sind, sondern auch andere Personen mit Dringlichkeit, pro
Jahr untergebracht werden sollen. Wir haben aber einen
Bestand von 35 000 Wohnungslosen. Wo sind die Vorschläge,
was mit diesen Personen passieren soll? Wer will eigentlich
diesen Bestand an Wohnungslosigkeit abbauen? - Keiner
macht uns Vorschläge, da konsequent heranzugehen. Von da her
spitzt sich die ganze Diskussion zu: Wer will welche soziale Stra
tegie in dieser Stadt fahren? Was soll die nächsten Jahre hier
passieren? Ist es ein Bekenntnis dazu, den Ausbau von Heim
plätzen zu intensivieren oder vorrangig sozialpolitisch die Unter
bringung von Wohnungslosen im sozialen Wohnungsbau zu ver
anlassen und zu forcieren?
Wir sind für den zweiten Schritt, denken aber, daß das allein
nicht ausreichen wird. Nur noch einmal eine Zahl, damit klar wird,
daß darüber eine Chance besteht, daß mehr Wohnungslose aus
der Wohnungslosigkeit herauskommen: Bei 400 000 Wohnun
gen im sozialen Wohnungsbaubestand besteht schon eine Fluk
tuationsrate von 18 000 bis 20 000 pro Jahr. Da kann man
schon mehr Wohnungslose unterbringen, als wenn man sie auf
3 500 - und nur auf diese - beschränkt, wobei wir nicht davon
ausgehen,
[Edel (SPD): Herr Haberkorn, es gibt noch andere Leute,
die Wohnungen suchen!]
- wobei wir nicht davon ausgehen, Herr Edel, daß es nur um
Wohnungslose gehen kann, die untergebracht werden, sondern
um den Personenkreis derer, die WBS-Berechtigung - mit
Dringlichkeit - haben. Dort muß ein entsprechendes Quotie
rungsverfahren vorhanden sein, das alle Personengruppen
- bevorzugt jedoch Wohnungslose - berücksichtigt.
[Beifall bei der AL -
Vereinzelter Beifall bei der SPD]
Wir sind nicht so weit, daß wir sagen: Nur um die Wohnungslo
sen geht es. - So blind sind wir auch nicht, denn wir wissen auch
um den Begriff der sozialen Verträglichkeit und können uns nicht
auf einen Personenkreis beschränken.
Das wird aber allein auch nioht ausreichen - Frau Stahmer hat
es selbst angesprochen -, wenn wir in dieser Stadt viele
Reform-, Sozialisierungs- und Integrationsprojekte - gerade rot-
grüne Projekte - vorantreiben oder umsetzen wollen über die
Unterbringung von Haftentlassenen in therapeutischen Wohnge
meinschaften bis über Schwerbehinderte oder auch HlV-lnfi- (C)
zierte, Alleinerziehende, die aus der Wohnung rauswollen, Asyl
bewerber, Aussiedler, Frauenhausbewohnerinnen. Wenn wir alle
diese Leute integrativ aus ihren Notsituation herausbringen,
dann heißt dies, daß wir für sie eine andere Art von Vorsorge tref
fen müssen. Der Senat muß sich für die nächsten Haushaltsbera
tungen einen Finanzpool überlegen, aus dem entsprechende
Wohnungen sowohl prophylaktisch angemietet - Großraum
wohnungen -, notfalls auch Häuser angemietet und angekauft
werden, meinetwegen auch Eigentumswohnungen. Alles das
wird billiger sein, als in drei, vier oder fünf Jahren auch nur eine
Fünf- oder Sechszimmerwohnung für Projekte übernehmen zu
wollen bzw. anzumieten. Hier muß also ein bißchen weiter als nur
über den Haushalt 1991 gedacht werden. Hier muß ein Verfü
gungstopf her, der für solche Projekte rechtzeitig eine Bestands
sicherung vornimmt. Hier gibt es großen Nachholbedarf.
Wenn wir davon wegkommen wollen, Notunterkünfte zu
bauen, und rot-grünen Vereinbarungen näherkommen wollen,
Notunterkünfte zu reduzieren, dann muß das auch als eine - das
ist zumindest angesprochen worden - konkretere, intensivere
Nutzung bzw. Zwischennutzung von Wohnungsleerstand ver
standen werden. Es bieten sich freie, gemeinnützige Träger an,
die dort aktiv tätig werden sollen; auch hier habe ich das Gefühl,
daß seitens des Senats damit zu defensiv umgegangen wird.
Natürlich funktioniert die Zwischennutzung von Leerstand nur,
wenn man anschließend auch weiß, wie man die Leute dann wie
der unterbringt. Die Angst, damit defensiv umzugehen - nicht zu
wissen, wohin, und daß dann evtl, mit diesen hin- und herfungiert
wird -, ist begründet. Das kann aber schon funktionieren, wenn
mehr Belegungsbefugnisse für Wohnraum da sind. Wir werden
um die Anwendung des § 5 a Wohnungsbindungsgesetz nicht
herumkommen, es sei denn, es gibt noch irgendwelche überzeu
genden Argumente, wie mit 35 000 und mehr Obdachlosen in
dieser Stadt umgegangen werden soll, wie diese aus ihren Not
unterkünften raus sollen.
Allein die Beschreibung ist mir mittlerweile zu wenig. Die (pj
Ungeduld bei den Gruppen wird stärker. Nicht umsonst ist die
Große Anfrage jetzt eingebracht worden, um noch einmal nach
außen deutlich zu machen, daß das Problem erkannt ist. Aber
allein das Problem zu erkennen, ohne dabei eine Lösung anzu
bieten, kann wohl nicht alles ein. Wozu schließen wir Koalitions
vereinbarungen, in denen wir Abbau von Obdachlosigkeit und
nicht Verwaltung von Obdachlosigkeit erreichen wollen? Da ist
noch eine Lücke, ein Handlungsbedarf, der von uns - von der
Koalitionsregierung - nicht inhaltlich gefüllt ist. Hier ist mir auch
die Haltung vom Bausenat zu defensiv. Selbst die Dringlichkeit
für alleinstehende Wohnungslose anzuerkennen, scheint dort
noch nicht in die Köpfe eingedrungen zu sein,
[Sen Nagel: Das haben wir Gott sei Dank
abgeschafft!]
- Genau das Beispiel, das Herr Nagel da bringt; Gott sei Dank
abgeschafft. - Er teilt also die Vorstellung, daß alleinstehende
Wohnungslose auch einmal länger in ihrer Wohnungsnot verhar
ren können. Gerade die alleinstehenden Wohnungslosen sind
die, die zu Dauerobdachlosen in dieser Stadt geworden sind und
die dann in der Tat - wie Herr Wischner sagt - sehr schwer über
haupt noch in Wohnraum zu integrieren sind. Hier wird am völlig
falschen Ende eine Hilfeleistung reduziert.
Ein zweiter Punkt, der mir auch zu defensiv aus dem Hause
Nagel angegangen wird, ist, wie mit dem Kooperationsvertrag
mit den Wohnungsbaugesellschaften umgegangen wird.
Natürlich will man es sich mit diesen nicht verderben und will für
die nächsten Jahre auch, daß die Wohnungsbaugesellschaften
viel bauen. Man will möglichst an einem runden oder eckigen
Tisch sitzen. Das kann ich alles verstehen! Aber mir leuchtet
trotzdem nicht ein, wenn die Wohnungsbaugesellschaften
sagen, daß sie nicht mehr als 3 500 Leute unterbringen können.
Dies hieße dann, daß die Wohnungsbaugesellschaften das Ver
fügungsrecht über den öffentlich geförderten Wohnungsbau
haben, und wir ziehen wir uns dann zurück, weil wir einmal
irgendeinen Kooperationsvertrag geschlossen haben, einen
Kooperationsvertrag, der von vielen SPDIem zum Zeitpunkt des