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Volume Nr. 23, 19. Januar 1990

Full text: Plenarprotokoll (Public Domain) Issue1989/90, 11. Wahlperiode, 17.-34. Sitzung (Public Domain)

Abgeordnetenhaus von Berlin - 11. Wahlperiode 
23. Sitzung vom 18. Januar 1990 
1159 
Frau Künast 
(A) auch sofort getan wird. Nötig ist, daß jetzt ein breiter politischer 
Diskussionsprozeß beginnt. Das aber hat die CDU mit ihren 
Anträgen unterlassen. Das heißt für uns, nicht nur in die eine 
Richtung zu sehen und zu sagen, Demokratisierung, das 
Bundesverfassungsgericht muß die Kompetenz haben, sich mit 
Berliner Sachen zu befassen, wir müssen direkt wählen können 
zum Deutschen Bundestag, sondern bitte auch in die andere 
Richtung zu sehen, das heißt Osten und das heißt Europa. Das 
heißt auch, sich zu vergegenwärtigen, daß West-Berlin die ein 
zige Stadt auf der ganzen Welt ist, bei der rundherum Osten ist, 
und daß diese Stadt aufgrund dieser besonderen geopolitischen 
Lage und ihres Status besondere politische Aufgaben hat. Für 
uns heißt es also, nicht nur zu diskutieren über das Stimmrecht in 
Bonn und das Bundesverfassungsgericht, sondern auch positive 
Seiten unseres bisherigen Status zu nutzen. Dann müssen wir 
anfangen zu überlegen, wo die politischen Aufgaben West-Ber 
lins in der nächsten Zeit liegen. Dann fällt das Stichwort Entmili 
tarisierung. 
[Beifall bei der AL] 
Das wollen wir! Das wollen wir im Zusammenhang mit dieser 
nach Bonn gerichteten Diskussion auch mitdiskutieren, und das 
werden wir in den Ausschüssen auch entsprechend einbringen. 
Wir müssen darüber nachdenken, ob wir das, was an Entmilitari 
sierung bisher nur aufgrund des alliierten Status gesichert 
wurde, nicht auch selber aufgreifen, auch in diesen rasanten 
schnellen politischen Zeiten und sagen: 
Wir überlegen jetzt eine Initiative, den entmilitarisierten Status 
dieser Stadt, die Abwesenheit von Militär und damit einen frie 
denspolitischen Beitrag in die Berliner Verfassung aufzunehmen. 
Dann stelle ich mir allerdings auch vor, daß man nicht stehen 
bleibt, so wie die Alliierten es jetzt tun, auf der reduzierten Ebene, 
wie sichern wir unsere eigenen Rechte und diskutieren darüber, 
wer hier schweres Gerät trägt und wer nicht. Als einzige Stadt, 
die nur von Osten umgeben ist, sollten wir eine offensive politi 
sche Position beziehen und das in eine politische europäische 
(B) Offensive einbinden. Diese Stadt muß entmilitarisiert sein, nicht 
nur hinsichtlich der Abwesenheit von Militär, sondern bis hin zu 
dem Punkt, daß in dieser Stadt keinerlei Rüstungsproduktion 
stattfindet, was ja faktisch auch unter den Alliierten passiert, 
auch keine Zulieferung zu militärischem Gerät soll hier mehr 
stattfinden. Und es soll auch keine Zulieferung mehr geben von 
Totalverweigerern in die Bundesrepublik 
[Beifall bei der AL] 
mit dem Ergebnis, daß diese sich jederzeit einen neuen Einberu 
fungsbescheid einhandeln können und dann von dieser Stadt 
aus, die angeblich entmilitarisiert ist, in den Wehrdienst gezwun 
gen werden können. Der Fall Gerhard Scherer ist dafür nur ein 
aktuelles Beispiel. 
Ich denke, in dieser breiten Ebene müßten wir diskutieren und 
auch andere Punkte mit hineinnehmen. Wir müssen sehen, wo 
ist die europäische Verantwortung dieser Stadt. Wir müssen die 
gesamteuropäische Perspektive in dieser Diskussion weite 
rentwickeln und West-Berlin einbringen - nicht so wie die CDU 
es macht, bloße Agitation; vielleicht im Hinblick darauf, daß Ber 
lin eines Tages wieder Hauptstadt wird, aber noch hat aus der 
DDR niemand ein eindeutiges Zeichen gegeben. Wir müssen 
vielmehr überlegen, was unsere europäische Verantwortung ist, 
was wir dazu beitragen können. Wir müssen also über Entmilita 
risierung reden, wir müssen über die KSZE-Sonderkonferenz 
reden und müssen uns gemeinsam Gedanken darüber machen, 
ganz kreativ, welche Aufgaben noch auf Berlin zukommen. 
Der Prozeß, der dazu geführt hat, daß die CDU heute, ohne 
ausgelacht zu werden, diese beiden Anträge stellen konnte, war 
ein europäischer Prozeß, den wir auch Gorbatschow und seiner 
Politik in der Sowjetunion zu verdanken haben, Ungarn, Tsche 
choslowakei, DDR usw.l Wir sollten das, was wir heute diskutie 
ren, die Direktwahl für den Deutschen Bundestag, deshalb nicht 
nur einseitig mit Scheuklappen betreiben, sondern europäisch 
diskutieren, das heißt zum Beispiel Entmilitarisierung, KSZE- 
Konferenz und europäische Beiträge. Die Bundesrepublik und 
auch West-Berlin sollten nicht so borniert sein, in dieser heuti 
gen Diskussion nur daran zu denken, wie sie selber ihre recht- (C) 
liehe Position verändern können. Die Direktwahl ist etwas Positi 
ves, sie ist ein weiterer Schritt zur Demokratisierung. Sie ist aber 
ein politisches Armutszeugnis angesichts der Prozesse in 
Gesamteuropa, von denen wir profitieren. 
[Beifall bei der AL und der SPD] 
Präsident Wohlrabe: Das Wort hat jetzt der Abgeordnete 
Pagel. 
Pagel (REP): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich 
möchte zu Beginn auf meine beiden Vorredner eingehen. 
Zunächst zu Ihnen, Frau Künast; Auf den Weg der Entmilitari 
sierung werden wir uns von Ihnen so einfach nicht bringen las 
sen. In die Ecke lassen wir uns nicht ziehen, und zwar aus gutem 
Grund. ZurZeit sind alliierte Truppen in dieser Stadt; dies ist kein 
Normalzustand. Wir wollen, daß langfristig selbstverständlich die 
vollen Souveränitätsrechte Deutschlands auch in Berlin wieder 
hergestellt werden. Aber zunächst einmal wollen wir doch die 
Entwicklung der Weltsituation abwarten. Wer sagt uns denn, 
daß nicht in wenigen Wochen oder Monaten statt des Herrn 
Gorbatschow an der Spitze der UdSSR ein General der Roten 
Armee sitzt? - Wo steht diese Stadt - so frage ich Sie -, wenn 
dann Berlin entmilitarisiert ist? Was wird dann passieren? - Wir 
wollen nicht, daß Sie mit Ihrer typischen Amerikafeindlichkeit 
diese Stadt dann der Willkür einer gewandelten Sowjetunion 
ausliefern. Den Weg werden wir mit Ihnen nicht gehen. 
[Beifall des Abg. Bogen (REP)] 
Wenn es hier zu einer Stationierung von anderen Einheiten 
kommen sollte, so sind wir nach Abzug der Allierten selbstver 
ständlich für eine Stationierung der Bundeswehr zu einem 
späteren Zeitpunkt. Sie können aber, meine Damen und Herren 
von der AL, trotzdem zu mehr Friedlichkeit und Entmilitarisierung 
dieser Stadt beitragen, indem Sie Ihre Sturmtruppen auf der 
Straße, nämlich die Chaoten-Armee in Kreuzberg, entwaffnen (q) 
und nach Hause schicken. Das würde sicherlich zur Sicherheit in 
der Stadt einiges beitragen. 
[Beifall bei den REP] 
Herr Löffler, auch zu Ihrem Beitrag für die SPD möchte ich 
einige Worte sagen. Sie haben darauf hingewiesen, daß die SPD 
sich auf ihrem Bundesparteitag Ende Dezember zur deutschen 
Einheit bekannt hat. Das ist wunderbar, von uns wird es sehr 
unterstützt, daß Sie zu dieser Erkenntnis gekommen sind. Aber 
wir lesen doch nicht nur Ihre Grundsatzprogramme und Ihre Aus 
sagen von vor 14 Tagen, wir haben auch die Regierungserklä 
rung des Regierenden Bürgermeisters von Berlin, Herrn Mom- 
per, sehr sorgfältig gelesen. Und darin steht etwas ganz anderes. 
Darin ist nämlich die Rede von der Fortdauer der Zweistaatlich 
keit und davon, daß die SPD und die AL von der Fortdauer der 
Zweistaatlichkeit unseres Landes und dieser Stadt ausgehen. 
Das ist bis heute Grundlage der Regierungspolitik der Senatsko 
alition, und das ist bisher nicht revidiert, nicht verändert worden. 
Ich muß Ihnen ganz deutlich sagen, Herr Löffler, was Sie hier 
machen, ist politische Falschmünzerei. 
[Degen (REP): Wendehälse!] 
Sie sind auf den Zug zur deutschen Einheit aufgesprungen. Ich 
sage Ihnen: Dieser Zug fährt so schnell, von dem werden Sie 
wieder runterfliegen, denn die Bürger wissen noch ganz genau, 
daß die SPD eben nicht eine Partei der Einheit, sondern eine 
Partei der Spaltung war. Ein Parteitagsbeschluß vor 14 Tagen 
oder drei Wochen ist mir zu wenig zum Nachweis dazu, Herr 
Löffler, daß sich die SPD grundsätzlich geändert hat. Da sollten 
Sie zunächst einmal die Regierungspolitik in Berlin verändern. 
Zu den konkreten Anträgen: Auch die Republikaner sind für 
eine Vereinfachung der Übernahme von Bundesgesetzen. 
Dieses ist überhaupt keine Frage. Auch die Republikaner sind für 
eine Ausweitung der Überprüfungsmöglichkeiten des Bundes 
verfassungsgerichts. Dies könnte z. B. auch den Effekt haben, 
daß die Vorlage der Regierungskoalition zum Ausländerwahl 
recht an einer Entscheidung des Verfassungsgerichts scheitert.
	        
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