Abgeordnetenhaus von Berlin - 11. Wahlperiode
23. Sitzung vom 18. Januar 1990
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Frau Künast
(A) auch sofort getan wird. Nötig ist, daß jetzt ein breiter politischer
Diskussionsprozeß beginnt. Das aber hat die CDU mit ihren
Anträgen unterlassen. Das heißt für uns, nicht nur in die eine
Richtung zu sehen und zu sagen, Demokratisierung, das
Bundesverfassungsgericht muß die Kompetenz haben, sich mit
Berliner Sachen zu befassen, wir müssen direkt wählen können
zum Deutschen Bundestag, sondern bitte auch in die andere
Richtung zu sehen, das heißt Osten und das heißt Europa. Das
heißt auch, sich zu vergegenwärtigen, daß West-Berlin die ein
zige Stadt auf der ganzen Welt ist, bei der rundherum Osten ist,
und daß diese Stadt aufgrund dieser besonderen geopolitischen
Lage und ihres Status besondere politische Aufgaben hat. Für
uns heißt es also, nicht nur zu diskutieren über das Stimmrecht in
Bonn und das Bundesverfassungsgericht, sondern auch positive
Seiten unseres bisherigen Status zu nutzen. Dann müssen wir
anfangen zu überlegen, wo die politischen Aufgaben West-Ber
lins in der nächsten Zeit liegen. Dann fällt das Stichwort Entmili
tarisierung.
[Beifall bei der AL]
Das wollen wir! Das wollen wir im Zusammenhang mit dieser
nach Bonn gerichteten Diskussion auch mitdiskutieren, und das
werden wir in den Ausschüssen auch entsprechend einbringen.
Wir müssen darüber nachdenken, ob wir das, was an Entmilitari
sierung bisher nur aufgrund des alliierten Status gesichert
wurde, nicht auch selber aufgreifen, auch in diesen rasanten
schnellen politischen Zeiten und sagen:
Wir überlegen jetzt eine Initiative, den entmilitarisierten Status
dieser Stadt, die Abwesenheit von Militär und damit einen frie
denspolitischen Beitrag in die Berliner Verfassung aufzunehmen.
Dann stelle ich mir allerdings auch vor, daß man nicht stehen
bleibt, so wie die Alliierten es jetzt tun, auf der reduzierten Ebene,
wie sichern wir unsere eigenen Rechte und diskutieren darüber,
wer hier schweres Gerät trägt und wer nicht. Als einzige Stadt,
die nur von Osten umgeben ist, sollten wir eine offensive politi
sche Position beziehen und das in eine politische europäische
(B) Offensive einbinden. Diese Stadt muß entmilitarisiert sein, nicht
nur hinsichtlich der Abwesenheit von Militär, sondern bis hin zu
dem Punkt, daß in dieser Stadt keinerlei Rüstungsproduktion
stattfindet, was ja faktisch auch unter den Alliierten passiert,
auch keine Zulieferung zu militärischem Gerät soll hier mehr
stattfinden. Und es soll auch keine Zulieferung mehr geben von
Totalverweigerern in die Bundesrepublik
[Beifall bei der AL]
mit dem Ergebnis, daß diese sich jederzeit einen neuen Einberu
fungsbescheid einhandeln können und dann von dieser Stadt
aus, die angeblich entmilitarisiert ist, in den Wehrdienst gezwun
gen werden können. Der Fall Gerhard Scherer ist dafür nur ein
aktuelles Beispiel.
Ich denke, in dieser breiten Ebene müßten wir diskutieren und
auch andere Punkte mit hineinnehmen. Wir müssen sehen, wo
ist die europäische Verantwortung dieser Stadt. Wir müssen die
gesamteuropäische Perspektive in dieser Diskussion weite
rentwickeln und West-Berlin einbringen - nicht so wie die CDU
es macht, bloße Agitation; vielleicht im Hinblick darauf, daß Ber
lin eines Tages wieder Hauptstadt wird, aber noch hat aus der
DDR niemand ein eindeutiges Zeichen gegeben. Wir müssen
vielmehr überlegen, was unsere europäische Verantwortung ist,
was wir dazu beitragen können. Wir müssen also über Entmilita
risierung reden, wir müssen über die KSZE-Sonderkonferenz
reden und müssen uns gemeinsam Gedanken darüber machen,
ganz kreativ, welche Aufgaben noch auf Berlin zukommen.
Der Prozeß, der dazu geführt hat, daß die CDU heute, ohne
ausgelacht zu werden, diese beiden Anträge stellen konnte, war
ein europäischer Prozeß, den wir auch Gorbatschow und seiner
Politik in der Sowjetunion zu verdanken haben, Ungarn, Tsche
choslowakei, DDR usw.l Wir sollten das, was wir heute diskutie
ren, die Direktwahl für den Deutschen Bundestag, deshalb nicht
nur einseitig mit Scheuklappen betreiben, sondern europäisch
diskutieren, das heißt zum Beispiel Entmilitarisierung, KSZE-
Konferenz und europäische Beiträge. Die Bundesrepublik und
auch West-Berlin sollten nicht so borniert sein, in dieser heuti
gen Diskussion nur daran zu denken, wie sie selber ihre recht- (C)
liehe Position verändern können. Die Direktwahl ist etwas Positi
ves, sie ist ein weiterer Schritt zur Demokratisierung. Sie ist aber
ein politisches Armutszeugnis angesichts der Prozesse in
Gesamteuropa, von denen wir profitieren.
[Beifall bei der AL und der SPD]
Präsident Wohlrabe: Das Wort hat jetzt der Abgeordnete
Pagel.
Pagel (REP): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich
möchte zu Beginn auf meine beiden Vorredner eingehen.
Zunächst zu Ihnen, Frau Künast; Auf den Weg der Entmilitari
sierung werden wir uns von Ihnen so einfach nicht bringen las
sen. In die Ecke lassen wir uns nicht ziehen, und zwar aus gutem
Grund. ZurZeit sind alliierte Truppen in dieser Stadt; dies ist kein
Normalzustand. Wir wollen, daß langfristig selbstverständlich die
vollen Souveränitätsrechte Deutschlands auch in Berlin wieder
hergestellt werden. Aber zunächst einmal wollen wir doch die
Entwicklung der Weltsituation abwarten. Wer sagt uns denn,
daß nicht in wenigen Wochen oder Monaten statt des Herrn
Gorbatschow an der Spitze der UdSSR ein General der Roten
Armee sitzt? - Wo steht diese Stadt - so frage ich Sie -, wenn
dann Berlin entmilitarisiert ist? Was wird dann passieren? - Wir
wollen nicht, daß Sie mit Ihrer typischen Amerikafeindlichkeit
diese Stadt dann der Willkür einer gewandelten Sowjetunion
ausliefern. Den Weg werden wir mit Ihnen nicht gehen.
[Beifall des Abg. Bogen (REP)]
Wenn es hier zu einer Stationierung von anderen Einheiten
kommen sollte, so sind wir nach Abzug der Allierten selbstver
ständlich für eine Stationierung der Bundeswehr zu einem
späteren Zeitpunkt. Sie können aber, meine Damen und Herren
von der AL, trotzdem zu mehr Friedlichkeit und Entmilitarisierung
dieser Stadt beitragen, indem Sie Ihre Sturmtruppen auf der
Straße, nämlich die Chaoten-Armee in Kreuzberg, entwaffnen (q)
und nach Hause schicken. Das würde sicherlich zur Sicherheit in
der Stadt einiges beitragen.
[Beifall bei den REP]
Herr Löffler, auch zu Ihrem Beitrag für die SPD möchte ich
einige Worte sagen. Sie haben darauf hingewiesen, daß die SPD
sich auf ihrem Bundesparteitag Ende Dezember zur deutschen
Einheit bekannt hat. Das ist wunderbar, von uns wird es sehr
unterstützt, daß Sie zu dieser Erkenntnis gekommen sind. Aber
wir lesen doch nicht nur Ihre Grundsatzprogramme und Ihre Aus
sagen von vor 14 Tagen, wir haben auch die Regierungserklä
rung des Regierenden Bürgermeisters von Berlin, Herrn Mom-
per, sehr sorgfältig gelesen. Und darin steht etwas ganz anderes.
Darin ist nämlich die Rede von der Fortdauer der Zweistaatlich
keit und davon, daß die SPD und die AL von der Fortdauer der
Zweistaatlichkeit unseres Landes und dieser Stadt ausgehen.
Das ist bis heute Grundlage der Regierungspolitik der Senatsko
alition, und das ist bisher nicht revidiert, nicht verändert worden.
Ich muß Ihnen ganz deutlich sagen, Herr Löffler, was Sie hier
machen, ist politische Falschmünzerei.
[Degen (REP): Wendehälse!]
Sie sind auf den Zug zur deutschen Einheit aufgesprungen. Ich
sage Ihnen: Dieser Zug fährt so schnell, von dem werden Sie
wieder runterfliegen, denn die Bürger wissen noch ganz genau,
daß die SPD eben nicht eine Partei der Einheit, sondern eine
Partei der Spaltung war. Ein Parteitagsbeschluß vor 14 Tagen
oder drei Wochen ist mir zu wenig zum Nachweis dazu, Herr
Löffler, daß sich die SPD grundsätzlich geändert hat. Da sollten
Sie zunächst einmal die Regierungspolitik in Berlin verändern.
Zu den konkreten Anträgen: Auch die Republikaner sind für
eine Vereinfachung der Übernahme von Bundesgesetzen.
Dieses ist überhaupt keine Frage. Auch die Republikaner sind für
eine Ausweitung der Überprüfungsmöglichkeiten des Bundes
verfassungsgerichts. Dies könnte z. B. auch den Effekt haben,
daß die Vorlage der Regierungskoalition zum Ausländerwahl
recht an einer Entscheidung des Verfassungsgerichts scheitert.