Abgeordnetenhaus von Berlin - 11. Wahlperiode
21. Sitzung vom 8. Dezember 1989
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Voss
(A) - Das muß nicht Ihre Sorge sein! - Sie sind möglicherweise aber
auch eine Voraussetzung, um noch ruhigeren Gewissens die
Behinderten ihrer eigenen Welt zu überlassen; denn wir wissen
sie ja gut versorgt.
[Teige (AL); Können Sie noch einmal von vorn anfangen,
das habe ich wieder nicht verstanden!]
- Dann werde ich es Ihnen noch einmal sagen: Sie sind mög
licherweise aber auch eine Voraussetzung, um noch ruhigeren
Gewissens die Behinderten ihrer eigenen Welt zu überlassen;
denn wir wissen sie ja gut versorgt, und wir wissen sie sogar
mobil. Not tut auch hier ein sozialpolitisches Umwelt- und Wei
terdenken: Mobilität ja, aber eingebettet in eine fehlende
Gesamtkonzeption der vom Bürger bejahten und auch persön
lich angenommenen Integration von Behinderten in die Normali
tät unserer Alltags in allen Bereichen!
[Teige (AL); Das ist ja fundierte Sozialkritik,
was Sie da vortragen! Woher haben Sie das?]
Die noch wenigen Modelle zur Behindertenintegration müssen
zum Normalfall unseres Stadtlebens werden und aus der Exklusi
vität des Projektbetriebs in die Alltagswelt überführt werden. Erst
dann gilt im Umgang mit Behinderten eine Normalität, die die
Voraussetzungen für die echte Integration schafft und die Mobili
tätsprogrammen neuen Sinn gibt. - Ich danke!
[Teige (AL); Das ist so gut, daß Ihre Fraktion
gar nicht klatschen mag! -
Heiterkeit - Beifall bei den REP]
Stellv. Präsidentin Brinckmeier: Sehen Sie, auf ein Stich
wort hin funktioniert alles! - Für die Alternative Liste hat jetzt die
Kollegin Wirths das Wort.
Frau Wirths (AL): Ich möchte zu Ihrer Information vorweg
schicken, daß ich mich auf den gesundheitspolitischen Teil
dieses Etats beschränke. Obwohl weite Bevölkerungskreise auf
(B) Fragen, was den einzelnen Menschen am wichtigsten sei, noch
vor Frieden und Wohlstand die Gesundheit für am wichtigsten
hielten, habe ich immer wieder den Eindruck, daß die Politiker
aller Fraktionen den Stellenwert dessen noch immer nicht
erkannt haben oder nicht erkennen wollen und sich dann wun
dern, wenn sie die Quittung dafür erhalten. War doch das von
Herrn Blüm durchgepeitschte deutlich unsoziale Gesundheits-
Reformgesetz einer der Hauptgründe für die massiven Stimmen
verluste der CDU in Berlin und anderswo! Wir sind unter
anderem auch angetreten, um das zu ändern, was sich von Berlin
aus gesehen aber sehr schwierig gestaltet. Diese Suppe, Herr
Braun, hat uns schließlich die CDU eingebrockt.
Aber ich will jetzt nicht über das Gesundheits-Reformgesetz
reden, sondern meine Einleitung sollte dazu dienen, die Bedeu
tung dieses Themas hervorzuheben. Ich hatte diese Rede im
wesentlichen schon vorher geschrieben, und die Beiträge in der
gestrigen Generaldebatte haben gezeigt, wie richtig ich damit
lag. Ganze zwei Sätze etwa war den Rednern aller Fraktionen
dieses Thema wert. Herrn Diepgen fiel zur Gesundheit außer
knappen Hinweisen auf das Herz- und Transplantationszentrum
nichts ein, was nennenswert gewesen wäre. Wen wundert es?
Weiß man doch aus den letzten Jahren des CDU-Senats, wie die
ohnehin zu engen Spielräume des Gesundheitsetats genutzt
wurden, nämlich absolut einseitig und zugunsten einer teuren
Hochleistungsmedizin.
[Diepgen (CDU): Ist Naturheilkunde eingeführt worden?]
- Lassen Sie mich, bitte, ausreden!
Niemand, auch nicht wir von der AL, bestreitet die Notwendig
keit der Hochleistungsmedizin und deren Nutzen, obwohl uns
das ständig unterstellt wird. Aber wie steht es mit der Verhältnis-
mäßigkeit, wenn nicht einmal die ganz normale Gesundheitsver
sorgung der Alten und Kranken, sowohl im stationären als auch
im ambulanten und psychiatrischen Bereich auf einem halbweg
angemessenen Niveau sichergestellt ist?
[Dr. Franz (CDU): Liebe Frau, die ist weltweit
vorbildlich! Darum beneidet uns die halbe Welt!]
Tagtäglich konnte ich das in meiner Tätigkeit als Krankenschwe- (C)
ster hautnah erleben. Der so oft bekämpfte Krankenhausplan
1986 hat die von der CDU betriebene falsche Schwerpunkt
setzung noch deutlich verstärkt. Zwar sollte er die Versorgungs
pyramide vom Kopf auf die Basis stellen, also eine bessere
Grundversorgung bieten, jedoch hat er diesen Zweck bisher
völlig verfehlt.
[Beifall bei der AL und der SPD]
Im Gegenteil: Kleine gemeindenahe Krankenhäuser der Grund
versorgung wurden reihenweise geschlossen.
[Dr. Franz (CDU); Ja, bei der SPD! Wir haben sie
erhalten I]
Unpersönliche Mammutkliniken wurden geplant und gebaut,
deren Bau- und Folgekosten Unsummen verschlingen. Laut
Koalitionsvereinbarung sollte das unter Rot-Grün alles anders
werden, doch der Einstieg in eine neue Gesundheitspolitik ist
durch die Entscheidung, das Universitätsklinikum Rudolf
Virchow - Kernstück des Krankenhausplans 1986 - doch zu
verlagern, zumindest eingeschränkt. Das Universitätsklinikum
bindet ungeheure Haushaltsmittel, die für den Aufbau notwendi
ger und dezentraler Gesundheitseinrichtungen dann nicht mehr
zur Verfügung stehen. Erklärtermaßen steht für die Klinika der
Universität auch nicht die Gesundheitsversorgung der Bevölke
rung im Vordergrund, sondern Forschung und Lehre. Unsere
Aufgabe wird es jetzt sein, auch an den Universitätskliniken dafür
zu sorgen, daß der Aspekt der Sicherstellung der gesundheitli
chen Versorgung das notwendige Gewicht bekommt.
[Beifall bei der AL und der SPD]
Im Sinne grün-alternativer gesundheitspolitischer Vorstellun
gen ist schon zu Beginn der Ara Rot-Grün der Zug in Richtung
grundsätzlicher Neuorientierungen im Gesundheitswesen abge
fahren. Seitdem haben wir trotzdem dafür gesorgt, daß die
Signale einige wenige Male auf grün standen, um zumindest
noch mögliche Kurskorrekturen des abgefahrenen Zuges durch- (D)
zusetzen. Die erstmalige Sicherstellung der Finanzierung eines
Weglaufhauses hat Herr Köppl in seinem gestrigen Redebeitrag
bereits dargestellt.
[Beifall bei der AL und der SPD]
Ich wiederhole dazu aber noch eines: Wir sind sehr stolz darauf,
das durchgesetzt zu haben.
[Beifall bei der AL]
Im ersten Haushaltsentwurf waren andere Hoffnungsträger für
Veränderungen in der Psychiatrie erschreckend gering, ja bis an
die untere Grenze ihrer Existenzfähigkeit bedacht. Hier konnten
wir durch Umschichtungen von über 1 Million DM immerhin das
Nötigste durchsetzen.
Die Alternative Liste hat schon lange die unkoordinierte, nicht
umfassende Gesundheitsplanung dieser Stadt kritisiert. Der
stark korrekturbedürftige Krankenhausplan '86 kann selbstver
ständlich nur ein Teil von Gesundheitsplanung sein. Aufeinander
bezogene Planungen schließen ambulante Dienste, Psychiatrie
und insbesondere vielfältige integrierte Einrichtungen für alte
Menschen und auch Kinder mit ein. Nach anfangs erschrecken
der Phantasielosigkeit, auch bei der SPD, hat jetzt - dazu haben
sicher nicht unwesentlich kräftige Anschübe durch die AL beige
tragen - ein Umdenkprozeß eingesetzt.
[Beifall bei der AL]
Gesundheitsplanung soll stattfinden und bis 1991 abgeschlos
sen sein! Bezirkliche Gesundheitskonferenzen und die noch ein-
zuberufene Landesgesundheitskonferenz können einen wichti
gen Beitrag dazu leisten.
[Dr. Franz (CDU): Sand im Getriebe!]
Eine neue Qualität von Demokratisierung im Gesundheitswe
sen zeigt sich in bezug auf das Gesundheitshaus Britz. An der
Konzeption sind maßgeblich die Beschäftigten beteiligt. Es lohnt
sich wieder, Ideen und Initiativen zu entwickeln. Sie werden,
wenn auch noch nicht genug, berücksichtigt!
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