Abgeordnetenhaus von Berlin - 11. Wahlperiode
17. Sitzung vom 10. November 1989
780
(A) Präsident Wohlrabe eröffnet die Sitzung um 13.01 Uhr.
Präsident Wohlrabe; Meine Damen und Herren! In dieser
historischen Stunde eröffne ich die 17. Sitzung des Abgeord
netenhauses von Berlin und bekunde unseren unbeugsamen
Willen, daß die Mauer endlich fallen möge und daß Deutsch
land mit seiner Hauptstadt Berlin in Frieden und Freiheit
wiedervereinigt werden muß.
[Starker, anhaltender Beifall bei .der CDU,
der SPD und den REP]
Ich darf mit besonderer Herzlichkeit begrüßen den Ehrenbür
ger Berlins, unseren früheren Regierenden Bürgermeister und
Bundeskanzler, Herrn Willy Brandt. Herzlich willkommen!
[Starker anhaltender Beifall bei der SPD
und der AL - Vereinzelter Beifall bei der CDU]
Ich begrüße ebenso herzlich die Bundesministerin für inner
deutsche Beziehungen, Frau Dr.Wilms.
[Starker, allgemeiner Beifall]
Wir haben ein neues Mitglied im Abgeordneten
haus: Ich heiße willkommen unseren früheren Kollegen
Vogt, der für den Abgeordneten Ewers nachgerückt ist.
[Beifall bei der CDU, der SPD und der AL]
Der Ältestenrat hat heute beschlossen, daß aus Anlaß dieser
historischen Stunde die Fraktionen Erklärungen abgeben. Die
festgelegte Rednerreihenfolge lautet CDU, SPD, AL und REP.
Es liegt Ihnen ein Antrag vor, der sicherlich noch diskutiert
werden wird. Sollte es weitere Anträge geben, bitte ich Sie,
diese herzureichen, um sie geschäftsordnungsmäßig abzuwik-
keln.
Ich rufe auf
(B) lfd. Nr. 1, Drucksache 11/449:
Antrag der Fraktion der CDU, der Fraktion der
SPD, der Fraktion der AL und der Fraktion der REP
auf Annahme einer Entschließung zur aktuellen
Situation in Berlin
Als erster hat der Führer der CDU-Fraktion, Herr Diepgen, das
Wort.
[Gelächter und Unruhe bei der SPD und der AL -
Zurufe von der AL: Wir wollen ihn aber nicht!
Wir sind für Selbstbestimmung!]
Diepgen (CDU): Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Heute ist ein Tag der nationalen Einheit
[Beifall bei der CDU und den REP]
Wir, ich glaube, alle Berliner, heißen alle Besucher, alle Deut
schen aus dem anderen Teil unserer Stadt und unseres Landes
herzlich willkommen.
[Starker, allgemeiner Beifall]
Ich versichere: Wir stehen zusammen!
Heute rufen wir in alle Welt; Berlin bleibt eine Stadt! Die
Geschichte Europas wird ab heute neu geschrieben. Nichts
wird - so hoffe ich - sein, wie es vorher war. Dieser Sozialismus
ist tot, die Mauer ist offen, die Freiheit lebt!
[Beifall bei der CDU und den REP]
Berlin hat sich heute nacht wieder als die wirkliche Hauptstadt
der Deutschen erwiesen.
[Beifall bei der CDU und den REP]
Ich bin jedenfalls stolz, Deutscher zu sein, und ich bin besonders
stolz, ein Berliner sein zu dürfen.
Ich war - und das ist meine ganz persönliche Erinnerung und
auch meine Emotion, die ich in diesen Stunden empfunden
habe - 19 Jahre alt, als die Mauer gebaut wurde. Ich stand an
der Bernauer Straße - ohnmächtig und wütend, weil man keine (C)
Möglichkeit sah, gegen diese Mauer vorzugehen. Auf einen Tag
wie heute habe ich seitdem - seit 28 Jahren - gewartet. Dafür
haben wir - viele in diesem Abgeordnetenhaus - gearbeitet. Ich
habe mich niemals mit dieser Mauer abgefunden. Das schien
einige Zeit altmodisch zu sein, aber wir haben recht behalten.
Genauso werde ich mich auch mit der Teilung, mit der deut
schen Zweistaatlichkeit auf Dauer nicht abfinden.
[Beifall bei der CDU und den REP]
Die gestrige Entscheidung der SED war kein Gnadenakt, sie
ist erkämpft und abgetrotzt worden von den Deutschen in der
DDR, die gerufen haben: „Wir sind das Volk!"
Wie soll es jetzt weitergehen? - Ich fordere für Berlin - diese
Mauer ist politisch gefallen Jetzt muß sie auch als Bauwerk
abgerissen werden!
[Starker, anhaltender Beifall bei der CDU,
der SPD und den REP]
Ich habe immer davon geträumt und es auch oft gesagt, daß
ich eines Tages wieder mit meinen Kindern frei und ungehindert
durch das Brandenburger Tor schlendern möchte. Dieser Tag
ist nahe. Das Brandenburger Tor muß aufgemacht werden. Viele
von Ihnen waren auch heute oder in der Nacht am Brandenbur
ger Tor. Dort standen Hunderte und Tausende auf der Mauer.
Gestern sind die Menschen in beiden Richtungen durch das
Brandenburger Tor gegangen und über die Mauer geklettert.
Deswegen; Die Öffnung dieses Brandenburger Tores ist keine
Utopie mehr. Deshalb rufe ich Herrn Krenz zu: Öffnen Sie dieses
Brandenburger Tor!
[Beifall bei der CDU und den REP]
Wir brauchen die volle Reisefreiheit, und zwar in beide Richtun
gen. Auch Reisen von West nach Ost müssen ohne Hemmnisse,
ohne Zwangsumtausch und einzelne Berechtigungsscheine
möglich sein. Die Hemmnisse müssen abgebaut werden.
In Berlin kann und muß jetzt wieder gesamtstädtisch
geplant werden: Verkehr, Umweltschutz, Versorgung, Energie.
Die besten Architekten der Welt sollten sich damit beschäftigen,
Ideen zu entwickeln, und zwar genau für das Gebiet, auf dem bis
her noch diese Mauer steht.
Und für Deutschland? - Wir mischen uns nicht ein in die
Angelegenheiten der DDR, bevormunden niemand, und schon
gar nicht die Menschen, die die Bevormundung satt haben. Wir
geben aber Laut und sagen unsere Meinung, wenn es um
Deutschland geht, wenn es um diese deutsche Nation geht!
Heute steht auf der Tagesordnung die Hauptforderung in der
DDR nach freien und geheimen Wahlen, und dies möglichst
bald. Denn das haben die Menschen gefordert, jetzt wollen sie
Reformen. Bei diesen Wahlen muß auch das Machtmonopol
der SED zur Abstimmung stehen. Wir sollten auch bereit sein,
den Deutschen in der DDR wirtschaftlich zu helfen, wenn wir
wissen, wohin das Geld geht. Ich sage, je mehr Freiheit es gibt,
um so besser wissen wir, wo es in Zukunft hingeht. Um so mehr
können wir auch tun.
Was wird danach geschehen? - Ich weiß es nicht genau, was
sein wird. Ich weiß aber, was ich persönlich will und was meine
Fraktion will: Wir wollen ein freies und geeintes Deutschland
in einem freien und geeinten Europa!
[Beifall bei der CDU und den REP]
Dabei gibt es keinen deutschen Sonderweg. Es gibt ihn schon
deshalb nicht, weil überall in Europa die Freiheit auf dem Vor
marsch ist. Ich erinnere heute auch an die Verantwortung der
Drei Mächte aus dem Deutschland-Vertrag. Es ist die Verant
wortung für Deutschland und Berlin als Ganzes. Hier gibt es
auch eine Verantwortung der Sowjetunion. In der internationalen
Politik muß es jetzt einen Schritt weitergehen, weil die Nach
kriegszeit zu Ende gehen muß. Ich fordere daher zunächst eine
Gipfelkonferenz der Bundesregierung mit den drei Schutz
mächten in Berlin. Hierbei soll entschieden werden, was der
Westen im Sinne der Neugestaltung Europas, im Sinne von Frei
heit und Selbstbestimmung gemeinsam tun kann.
[Beifall bei der CDU]