Abgeordnetenhaus von Berlin - 11. Wahlperiode
20. Sitzung vom 7. Dezember 1989
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(A) Unsere deutschen Landsleute werden als „Besucher“ tituliert,
Ausländer werden uns als „Mitbürger“ verkauft. Es wird gesagt:
Die Ausländer haben unsere Stadt, unser Land, aufgebaut.
- Falsch, absolut falsch I Das waren unsere Alten, die überhaupt
nicht in diesem Haushalt bedacht wurden.
Wir Deutsche Demokraten fordern, daß für alle Rentner ein
Weihnachtsgeld in Höhe von 300 DM gezahlt wird, und erwar
ten, daß die Berlin-Zulage, die jeder Berliner zum Ausgleich des
Standortnachteiis erhält, ebenfalls an unsere Alten gezahlt wird.
Sie haben die gleiche Teuerungsrate hinzunehmen wie alle
anderen arbeitenden Berliner. Deswegen ist es nicht mehr als
recht und billig, daß unsere Alten hierfür einen finanziellen Aus
gleich erhalten. Das vermisse ich in diesem Haushalt. Deswegen
kann ich nur sagen: Diesem Haushalt kann ich, will ich und
werde ich nicht zustimmen.
[Teige (AL): Das macht nichts!]
Dies im Namen der Partei die Deutschen Demokraten. - Ich
danke Ihnen!
«
Stellv. Präsidentin Brinckmeier: Herr Andres! Ich habe
Sie bereits darauf aufmerksam gemacht, daß Sie als fraktionslo
ser Abgeordneter sprechen und nicht für eine Partei, die in
dieses Hohe Haus nicht hineingewählt worden ist.
[Andres (fraktionslos): Ich habe aber meine Meinung,
die darf ich äußern!]
In der Aussprache hat jetzt der Regierende Bürgermeister das
Wort!
Momper, Regierender Bürgermeister: Frau Präsidentin!
Meine sehr geehrten Damen und Herren I Die vergangenen vier
Wochen seil der Öffnung der Grenzen am 9. November haben
Berlin verändert wie kein Ereignis seit dem Mauerbau am
13. August 1961. Viele bisher geltenden Grundannahmen für
' ' die Politik in unserer Stadt müssen verändert werden. Das waren
die wichtigsten vier Wochen seit 28 Jahren und es waren auch
die schönsten vier Wochen für alle Berlinerinnen und Berliner.
[Beifall bei der SPD]
Berlin - das war die Stadt der Mauer, das war das Inselgefühl,
die schmerzhafte Trennung von den Menschen in der DDR und
in Ost-Berlin. Das war das unbestimmte Gefühl, in einer unnatür
lichen Situation, mit einer unmenschlichen Grenze und Mauer zu
leben. Das war das Sich-Arrangieren mit dem scheinbar Unabän
derlichen und die Hoffnung auf bessere politische Zeiten.
All diese Schatten, die so lange auf unserer Stadt und ihren
Menschen gelegen haben, sind jetzt weggefegt worden. Die
Bürgerinnen und Bürger der DDR können zu uns kommen, wann
immer und so oft sie wollen. Ab 1. Januar können wir frei und
ohne bürokratische Hürden nach Ost-Berlin und in die DDR rei
sen. Das Ergebnis der Gespräche von Kanzleramtsminister
Seiters und dem Vorsitzenden des Ministerrats, Hans Modrow,
sind die beste Weihnachtsbotschaft für uns alle.
[Beifall bei der SPD -
Vereinzelter Beifall bei der AL]
Berlin ist wieder eine Stadt, für die die Freizügigkeit für alle Men
schen gilt. Wir danken der Bundesregierung für ihre erfolgrei
chen Bemühungen und Kanzleramtsminister Seiters für sein Ver
handlungsgeschick.
[Beifall bei der SPD und der CDU]
In der DDR setzt sich der Demokratisierungsprozeß in
schnellem Tempo und mit dramatischen Entwicklungen fort. Die
Demokratiebewegung in der DDR hat auf der Straße ihre Frei
heitsrechte erkämpft. Die SED hat Glaubwürdigkeit, Vertrauen
und Machtanspruch verloren. Jetzt blickt die Weltöffentlichkeit
gebannt auf die weitere Entwicklung; denn die alte Ordnung ist
tot, und die neue politische Ordnung ist erst im Entstehen. Die
Geburt dieser neuen politischen Ordnung vollzieht sich unmittel
bar vor unserer Haustür. Wir sind dabei nicht nur stille Beobach
ter oder Ermutiger, wir sind auch unmittelbar Betroffene.
Wer die Stadtpoiitik für die nächsten Jahre und Jahrzehnte
entwirft, der darf nicht mehr länger für eine Insel planen. Wir
beginnen wieder, in den Kategorien einer Region zu denken.
Wir beginnen, ein neues Lebensgefühl zu entwickeln; denn wir
sind jetzt wieder Teil des größten Ballungsraumes in Europa zwi
schen dem Ruhrgebiet und Moskau.
Die Durchbrüche der Mauer öffnen wieder die alten Lebens
adern. In unserer Stadt wächst wieder zusammen, was zusam
mengehört: die Straßen, die Brücken, die Plätze und die Seen
ketten, auch die Familien, alte und neue Freundschaften.
Der Senat hat diese Herausforderung angenommen und den
Prozeß des Zusammenwachsens mit eigenen Vorschlägen und
mit praktischen Schritten vorangetrieben. Mit dem Ost-Berliner
Magistrat habe ich am Dienstag eine weitgehende Kooperation
auf allen Feldern der Stadtpolitik vereinbart. Das geht von der
Zusammenarbeit im Verkehrswesen über die Verbesserung der
Möglichkeiten zur Naherholung bis zum Austausch der Erfahrun
gen in der Kommunalwirtschaft, im Bildungswesen und der
Medizin. Wir werden so miteinander kooperieren, daß wir uns
jeweils zum gegenseitigen Vorteil ergänzen. Wir wollen das, was
in beiden Teilen der Stadt vorhanden ist, optimieren und allen
Bürgern zugänglich machen. Wir alle werden künftig die Vorteile
einer 3,5-Millionen-Stadt genießen - die Bürger aus Ost-Berlin
genauso wie die Bürger aus West-Berlin.
Diese praktische Kooperation mit Ost-Berlin ist ein Vorgriff auf
den Regionalausschuß, der die Zusammenarbeit im größeren
Maßstab der ganzen Region - von Potsdam bis Marzahn, von
Oranienburg bis Teltow - anstrebt. Die Bundesregierung wird
mit der DDR-Regierung über dieses Modell, das Nachahmer
auch andernorts finden wird, sehr bald sprechen. Es geht um
einen gemeinsamen Umweltschutz, um die gemeinsame Stadt-
und Regionalplanung, um Austausch in der Wissenschaft, der
Kultur und im Sport, die Erschließung der Verkehrswege und die
wirtschaftliche Kooperation im Großraum Berlin.
Dieser Regionalausschuß wird sich auch mit der Perspektive
der Olympischen Spiele in Berlin beschäftigen. Der Senat hat
diesen Gedanken des ehemaligen amerikanischen Präsidenten
Reagan aufgegriffen und mit aller Kraft - auch gegen viele skep
tische Stimmen - vorangetrieben. Heute sind wir der Durchfüh
rung gemeinsamer Olympischer Spiele im Großraum Berlin
näher denn je. Solche Spiele werden der symbolische Höhe
punkt der positiven Entwicklung in Europa sein; sie werden wirk
liche Friedensspiele über die alten Blockgrenzen hinweg sein
und die Ära des kalten Krieges und die Trennung mit einem Fest
der Jugend der Welt beenden.
[Beifall bei der SPD]
Die zentrale Bedeutung Berlins bei der Gestaltung des ge
meinsamen europäischen Hauses wird auch von der Bundes
regierung erkannt; der Senat hat bei seinem Treffen mit Mitglie
dern des Bundeskabinetts mit Genugtuung vernommen, daß die
Bundesregierung die besondere Situation Berlins zu würdigen
weiß und die Notwendigkeit zusätzlicher finanzieller Unterstüt
zung für die Stadt anerkennt. Bundeskanzler Kohl hat deutlich
gemacht, daß seine Haltung zu Berlin nicht durch unterschied
liche politische Konstellationen an Rhein und Spree negativ
beeinflußt sein wird. Der Senat begrüßt dieses klare Bekenntnis
zu Berlin. Ich hoffe, daß die Attacken gegen Berlin, wie sie in den
zurückliegenden Monaten vor allem aus dem Lager der CSU vor
genommen wurden, damit endlich beendet sind.
[Führer (CDU); Und Ihre Attacken
gegen die Bundesregierung]
Man darf auf dem Rücken Berlins nicht Wahlkampf treiben.
[Beifall bei der SPD - Frau Dr. Laurien (CDU);
Sehr richtig I - Diepgen (CDU):
Beherzigen Sie das! - Beifall bei der CDU]
- Danke schön! Ich werde dieses und den Beifall aller Fraktionen
dieses Hauses beherzigen und bei der nächsten Attacke der
CSU, die so unqualifiziert war, wie nur Sie sein können,
[Dr. Hassemer (CDU): Ihre eigenen! -
Dr. Wruck (CDU); Selbstkritik!]