Abgeordnetenhaus von Berlin - 11. Wahlperiode
16. Sitzung vom 26. Oktober 1989
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Dr. Köppl
Denn nur in diesem Förderungssystem sind die Mieten gebun
den und können dadurch vom kleinen und normalen Einkom
mensbezieher bezahlt werden. Bisher ist dies zu wenig erfolgt,
und wir fordern von der AL-Seite eindringlich, dies zu korrigieren.
Wir werden, da die Vorlage durch das Parlament muß, unseren
Einfluß geltend machen.
[Beifall bei der AL]
Das zweite Problem, das wir haben; Angesichts der Haus
haltslage halten wir die vom Senat vorgelegte Finanzierung
durch weitere Umschichtung aus dem Haushalt für nicht reali
stisch. Wir halten es für ausgeschlossen, daß ein zusätzliches
Wohnungsbauprogramm, das in den kommenden vier Jahren
eine Gesamtbelastung von etwa 700 Millionen DM ausmacht -
mit zusätzlichen Verpflichtungsermächtigungen im Milliardenbe
reich -, durch Umschichtungen im Haushalt erbracht werden
kann.
Aus diesem Grunde - das sage ich hier klipp und klar im
Namen der AL-Fraktion - muß die Frage der Gewerbesteuer
erhöhung erneut auf die Tagesordnung der Politik gesetzt wer
den.
[Beifall bei der AL]
Berlin hat im Jahre 1979 die Gewerbesteuer um 100 Prozent
punkte gesenkt. Der Ausfall wurde teilweise über die Bundes
hilfe ersetzt. Heute - unter den großen Belastungen - muß diese
Frage in Bonn neu diskutiert werden, denn wenn alle zusammen
rücken müssen, alle Solidarität üben müssen - wie es der Regie
rende Bürgermeister in seiner Presseerklärung zur Senatsklau
sur eingefordert hat -, dann darf doch wohl nicht ernsthaft die
Industrie ausgenommen werden. Das ist doch keine sozialdemo
kratische Politik - ich bitte Siel
[Beifall bei der AL]
Die Rahmenbedingungen in Berlin - ich nehme dieses Wort
ganz bewußt auf, weil die Rahmenbedingungen immer für die
Industrie als konstant vorausgesetzt werden - haben sich für
alle verändert Wenn zum Beispiel diese Rahmenbedingungen
für die Wohnungssuchenden und die Arbeitslosen sogar
schlechter geworden sind, dann frage ich mich; Warum dürfen
die Rahmenbedingungen in diesem Punkt für die Industrie nicht
zur Disposition gestellt werden? Ich sehe kaum eine andere
Möglichkeit, weil Bonn im Augenblick sehr hartleibig ist und
keine zusätzlichen Gelder zur Verfügung stellt, daß auch die
Industrie ihren Solidarbeitrag zur Integration der Zuwanderer in
Berlin leistet. Ich denke, dies ist eine Aufgabe, die Rot-Grün
anpacken muß; eine Anhebung auf den alten Prozentsatz würde
etwa 250 Millionen DM/Jahr in die Kasse bringen, und diese
250 Millionen DM/Jahr werden dringend gebraucht.
Und noch etwas: In der augenblicklichen guten Konjunktur
sind diese 250 Millionen DM/Jahr lässig von der Industrie aufzu
bringen. Die Gewerbesteuer ist eine Großbetriebssteuer,
[Zuruf des Abg. Pieroth (CDU)]
sie trifft vor allem etwa 500 Großbetriebe in Berlin, und diese
Großbetriebe können im Augenblick diese 250 Millionen
DM/Jahr aufbringen.
[Pieroth (CDU); Gucken Sie mal Ihren
Wirtschaftssenator an I]
Einen weiteren originellen Vorschlag
[Dr. Staffelt (SPD): Originell ist ja nun die
Gewerbesteuererhöhung nicht gerade!]
hat die AL gestern Ihnen und der Presse vorgestellt: Wir müssen
noch einmal über die Stellplatzabgabe für den privaten Pkw-
Verkehr diskutieren. Der private Pkw-Verkehr verursacht in Ber
lin Kosten von etwa 1,5 Milliarden DM, die von der öffentlichen
Hand aufgebracht werden müssen; es muß eine Infrastruktur für
die Verletzten des Straßenverkehrs zur Verfügung gestellt wer
den, die öffentlichen Straßen müssen unterhalten werden, usw.
Wenn wir jedem privaten Pkw-Besitzer im Jahr 50 DM - das ent
spricht dem Betrag einer Umwelt-Monatskarte - auferlegten,
dann würden wir bei etwa 700 000 privaten Pkw-Besitzern
35 Millionen DM einnehmen. Ich denke, dieser Betrag ist in der
jetzigen Situation ebenfalls ein Solidarbeitrag, den die privaten (C)
Pkw-Besitzer, die die Kosten auch verursachen, entrichten müß
ten. Auch über diesen Vorschlag werden wir in den nächsten
Tagen noch weiter diskutieren. - Schönen Dank!
[Beifall bei der AL und der SPD]
Stellv. Präsidentin Brinckmeier: Für die Fraktion der
Republikaner hat jetzt der Herr Abgeordnete Voss das Wort.
Voss (REP): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen
und Herren! Was verbirgt sich wirklich hinter dem Schlagwort
vom verdichteten Bauen? Was verbirgt sich hinter der schlich
ten Forderung vom Zusammenrücken für alle Berliner Bürger?
- und zwar auch für die Neubürger, die ich hier, um Mißverständ
nissen üblicher Art im Umgang mit meiner Partei vorzubeugen,
etwa erwähne. - Hinter derartigen Formulierungen der Regie
rungskoalition verbergen sich Sachverhalte, die längst geeignet
sind, den sozialen Frieden in der Stadt nachhaltig zu beeinflus
sen und zu stören.
Etwa 22 000 Menschen leben in Notlagern und Durchgangs
heimen unter teilweise unwürdigen Bedingungen und ohne
Chance, absehbarer Zeit angemessenen Wohnraum zu finden.
Bis zum Jahresende wird ihre Zahl noch auf wenigstens 30 000
angestiegen sein. Das Wohnungsdefizit in Berlin wird für Ende
1989 auf mindestens 30 000 Wohnungen und bis 1993 auf
56 000 Wohnungen offiziell geschätzt. Tatsächlich waren bei
den städtischen Wohnungsbaugesellschaften im August bereits
95 000 Bewerber registriert und verfügten 62 000 Bürger über
Wohnberechtigungsscheine, von denen 22 000 einer Dringlich
keit unterlagen. Etwa 6 000 Studenten und 12 000 obdachlose
Menschen auf Wohnungssuche sind in den genannten Zahlen
nicht enthalten. Obdachlose in Zivilschutzbunkern, Studenten in
Turnhallen, Aus- und Übersiedler sowie Asylbewerber in eilends
errichteten Notquartieren, die nicht einmal die Bezeichnung
„Lager“ rechtfertigen: Dies ist die Situation in der Stadt im (D)
Herbst 1989.
Das Boot ist voll, aber es sinkt noch nicht - so konnten wir
unlängst aus Senatskreisen hören. Eine schöne Umschreibung
für eine ernste Lage, der in Wahrheit nicht durch eine hoffnungs
volle Politik begegnet wird, sondern die sich immer rascher
bedrohlichen sozialen Konflikten nähert.
Der Regierende Bürgermeister erklärt für den Senat - ich
zitiere aus dem „Tagesspiegel“ vom 24.10. 89 -, er werde auf
die immer gewünschte Öffnung der Grenzen nicht restriktiv rea
gieren. Tatsächlich aber sind die Grenzen nicht offen, findet nach
wie vor kein normaler Bevölkerungsaustausch von und nach
West-Berlin statt.
Was wir tatsächlich erleben, ist eine rasant fortschreitende
Verdichtung von Menschen in einer Stadt ohne Hinterland
und ohne ausreichende Infrastruktur für diese Menschen in fast
allen Bereichen ihrer Grundbedürfnisse.
Der SPD-Abgeordnete Edel erklärt am 24. September 1989
- ich zitiere aus der „Berliner Morgenpost „Langfristig müsse
die Frage beantwortet werden, welche Einwohnerzahl auf der
480 Quadratkilometer großen politischen Insel Berlin möglichst
nicht überschritten werden sollte, um nicht Einschnitte in der
Lebensqualität hinnehmen zu müssen“. Und er erklärt weiter,
„daß bei fehlenden Möglichkeiten zu weiterer Ausdehnung der
Stadt ein unkontrolliertes Bevölkerungswachstum nicht hinge
nommen werden kann“.
Zuzugsbeschränkungen hält der Kollege Edel allerdings -
noch? - nicht für einer freien Gesellschaft würdig, und er räumt
ein, daß nicht alle Faktoren der Bevölkerungsentwicklung steuer
bar sind. Alle sicherlich nicht - Herr Kollege Edel -,
[Edel (SPD): Das verbitte ich mir!]
aber einige mit Sicherheit doch, ich komme noch darauf zurück.
Die Folgen unkontrollierter Verdichtung sind uns aus der Physik
ebenso wie aus den Sozialwissenschaften bekannt.