Abgeordnetenhaus von Berlin - 11. Wahlperiode
15. Sitzung vom 12. Oktober 1989
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Gramer
(A) Dann glaube ich es Ihnen. - Dagegen wurden Interessen und
Bedürfnisse, Erfahrungen und Forderungen der „Normalbürger“
vernachlässigt und deren Zwangslage z. B. durch Begriffe wie
„Nischengesellschaft“ verniedlicht. Mir ist nicht bekannt, daß die
Landesvorsitzenden - weder von SPD noch CDU, weder in Ber
lin noch in Bonn - nach ihrem Händeschütteln mit Honecker die
unter schwierigsten Bedingungen agierenden, unabhängigen
politischen Gruppen besucht hätten. Das war ein Verdienst von
Mitgliedern der grün-alternativen Bewegung, deren Kontakte zu
Oppositionellen
[Buwitt (CDU): Die die Menschen in der DDR
zu Ausländern machen wollen! Das ist doch Ihre Politik!]
oft genug als Störung der offiziellen Entspannungspolitik ange
sehen wurden.
Die Alternative Liste hat z. B. in Polen seit Anbeginn Solidarität
mit Solidarnosc geübt - nicht erst, als diese Gewerkschaft den
Ministerpräsidenten stellte. Es ist beschämend für die CDU, daß
es einer der Ihren war, der als Parlamentspräsident zu verhindern
suchte, daß die AL-Fraktion im Jahr 1983 eine Spende von
200 000 DM an Solidarnosö übergab.
[Ristock (SPD): Hört, hört!]
In der Einschätzung der gesellschaftlichen Realität in der DDR
und möglicher Perspektiven gab und gibt es auch in der AL
unterschiedliche Positionen. Manche Mitglieder fürchteten und
fürchten auch heute noch, daß mit Veränderungen in der DDR
ihre utopischen Vorstellungen von Sozialismus beerdigt werden.
Es war Rudi Dutschke, ein engagierter und weitsichtiger, utopi
scher Sozialist, der vor über zehn Jahren formulierte: In der DDR
ist alles real, nur nicht der Sozialismus! - Das gilt sicher auch
heute.
[Beifall des Abg. Ristock (SPD)]
Aber: Die internationalen Rahmenbedingungen haben sich
seit dem Machtantritt von Gorbatschow entscheidend verändert.
(B) Das wirft neue Fragen auf, die möglicherweise auch neu beant
wortet werden müssen. In Polen regiert - wie wir alle wissen -
ein Solidarnosö-Ministerpräsident; in Ungarn hat sich die KP auf
gelöst; und in der Sowjetunion führt die Parteispitze einen hefti
gen Kampf gegen Bürokratie und Mißmanagement. Diese Verän
derungen üben Einfluß auf beide deutsche Staaten aus. Wir
müssen feststellen, daß sich die Situation insgesamt verändert
hat. Es ist dort in der DDR etwas in Bewegung gekommen - und
das bewegt uns auch hier.
In der SPD wird z. B. stundenlang darüber diskutiert, ob die
Bundestagsfraktion die DDR besuchen soll. Nachdem sie sich
positiv entschieden hat, wird sie von der SED ausgeladen. Die
einen fordern Wandel durch Annäherung, die anderen Wandel
durch Abstand. Der eine beschwört das gemeinsame Papierzwi
schen SPD und SED als großartigen Erfolg, der andere qualifi
ziert es ab als Flop.
In der Union sieht es kaum anders aus: Die einen beschwören
die Wiedervereinigung in den Grenzen von 1937, die anderen
fordern die Anerkennung der Westgrenze Polens.
[Dr. Köppl (AL): Wie jetzt bei uns!]
Auch in meiner Partei - danke schön, Kollege Köppl I - gab
und gibt es Diskussionen über sinnvolle Reaktionen auf die Ver
änderung in der DDR. Während es für manche in der AL zur Bei
behaltung der Zweistaatlichkeit keine Alternative gibt, sehen
andere die Zukunft in einem wiedervereinigten Deutschland.
Einig sind wir uns allerdings darin, daß die Demokratiebewegung
in der DDR nicht mißbraucht werden darf für die ewig-gestrige
Forderung nach einem wiedervereinigten Deutschland in den
Grenzen von 1937.
[Beifall bei der AL und der SPD]
Es ist ein Skandal, daß der Deutsche Bundestag noch nicht ein
mal zum 50. Jahrestag des Überfalls auf Polen die polnische
Westgrenze anerkannt hat.
Einig sind wir uns auch darin, daß ein erfolgreicher Demokra-
tisierungsprozeß in der DDR die Voraussetzung dafür ist, daß
die Bevölkerung dort die Zukunft gestalten kann, und zwar selbst
gestalten kann. Das betrifft auch und insbesondere die nationale
Frage. Die DDR-Bevölkerung hat das Recht, auch darüber selbst
zu befinden - egal, ob das Ergebnis ihrer eigenen Regierung
oder auch uns und erst recht Herrn Diepgen genehm ist.
Wenn diese Voraussetzung der Demokratisierung erreicht ist,
und zwar nur dann, kann sich meine Hoffnung erfüllen, daß sich
die Deutschen (Ost) ebenso wie die Deutschen (West) für den
gesamteuropäischen Einigungsprozeß entscheiden.
Meine andere Hoffnung ist die, daß ein gemeinsames Europa
basisdemokratisch, sozial, ökologisch und gewaltfrei gestaltet
sein wird. Dafür muß bei uns viel politische Kraft mobilisiert wer
den. Ich danke Ihnen!
[Beifall bei der AL und der SPD]
Stellv. Präsidentin Brinckmeier: Es hat jetzt der fraktions
lose Abgeordnete Andres das Wort. Nach § 64 Abs. 2 der
Geschäftsordnung haben Sie fünf Minuten Redezeit.
[Böger (SPD): Zehn Minuten zuviel!]
Andres (fraktionslos): Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! Liebe Berlinerinnen und Berliner!
[Gelächter bei der CDU und den REP]
Diese Aktuelle Stunde hat einen traurigen Anlaß. Ich muß Ihnen
ehrlich sagen, daß wir Grund haben, uns zu schämen. Wir haben
es zugelassen, daß sich ein Unrechtsstaat auf deutschem
Boden etabliert hat und seit 40 Jahren besteht. Wir haben nichts
dagegen unternommen, das zu verhindern. Wir haben immer ver
sucht, den Menschen in der Sowjetisch Besetzten Zone das
Gefühl zu vermitteln, daß wir wieder eines Tages eins sein wer
den. Aber dieses Vertrauen, das 17 Millionen Menschen in uns
gesetzt haben, haben wir schmählich enttäuscht. Man sieht das
an den Zahlen derjenigen, die zu uns kommen. 30 000 haben
bisher wieder das Vertrauen in unsere Politik verloren.
Wir müssen folgendes erreichen: Wir müssen denen drüben,
die nicht das Glück hatten, im freien Teil Deutschlands aufzu
wachsen und groß zu werden, das Vertrauen vermitteln, daß wir
eines Tages - in absehbarer Zeit - wieder ein Deutschland
haben, in dem alle Deutschen in Frieden und Freiheit leben kön
nen.
Das können wir aber nicht erreichen, indem wir der sogenann
ten DDR Mittel zur Verfügung stellen, um einen Demokratisie
rungsprozeß durchzuführen. Wir können das auch nicht errei
chen, indem wir alles ab- und ausgrenzen. Wir können das nur
erreichen, indem wir mit den Alliierten reden und fordern, daß
man sich mit uns zusammensetzen möge, um über einen
gesamtdeutschen Friedensvertrag zu sprechen, der seit fast
45 Jahren überfällig ist. Darüber sollte mit uns diskutiert und ver
handelt werden.
Wie dann die Grenzen aussehen, das müssen wir in die Ent
scheidung der Alliierten stellen. Insofern brauchen wir das Zei
chen, müssen wir die Verhandlungen auf den Weg bringen, um
den Menschen im anderen Teil Deutschlands wieder Mut zu
machen, um ihnen Hoffnung zu geben, daß es sich lohnt, noch zu
warten und nicht mit den Füßen abzustimmen.
Jedes Gerede, ob hier in diesem Haus oder im Bundestag,
führt zu nichts. Die Leute in der sogenannten DDR sagen: Der
Worte sind genug gewechselt, laßt uns endlich Taten sehen. Wir
wollen nicht mehr warten, wir wollen nicht immer das auf uns
nehmen müssen, an dem alle schuld sind und alle beteiligt
waren. -
Man hat das Gefühl, daß sich die DDR-Bürger alleingelassen
fühlen, sich selbst überlassen fühlen und jetzt einfach auf die
Straße gehen und sagen: Wir müssen sehen, daß wir ohne Hilfe
das erreichen, was anderen in den Schoß gefallen ist.
Lassen Sie mich mit dem Wort schließen, das ich Ihnen jetzt
sage. Sprechen Sie mir nach, wenn ich Ihnen folgendes sage:
[Gelächter bei allen Fraktionen]
Wir sagen Ja zu Deutschlandl
[Gelächter bei allen Fraktionen]