Abgeordnetenhaus von Berlin - 11. Wahlperiode
10. Sitzung vom 22. Juni 1989
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Dr. Statz
(A) Auf dem Evangelischen Kirchentag hat zum Beispiel der stellver
tretende Vorsitzende des Bundes der Evangelischen Kirchen der
DDR, Manfred Stolpe, eine sehr bemerkenswerte Rede gehal
ten,
[Zurufe von der CDU]
und er hat genau diese gesamteuropäische Perspektive unter
Verzicht auf Wiedervereinigungsoptionen benannt. Ich zitiere;
Berlin kann der europäische Friedensstützpunkt werden, wo
aus den Besatzungstruppen von den Europäern beauftragte
und ergänzte Friedenstruppen werden und wo die KSZE
ihren Sitz hat.
Ich finde das einen bemerkenswerten Anknüpfungspunkt für
eine gemeinsame Debatte mit politischen Kräften in der DDR
über diese KSZE-Perspektive, die wir ja auch von seiten des rot-
grünen Senats in der nächsten Zeit angehen wollen.
[Beifall bei der AL - Buwitt (CDU): Was hat er denn
zum Selbstbestimmungsrecht in der DDR gesagt? - Weitere
Zurufe von der CDU]
Meine Herren von der CDU! Lassen Sie sich doch zum Bei
spiel einmal von dem ehemaligen Gesandten der USA in Berlin,
David Anderson, erzählen, daß es eine viel größere Flexibilität in
Statusfragen geben kann. Ich denke, dieser Mann versteht etwas
von diesem Geschäft. Zum Beispiel sein Vorschlag, die Flughä
fen in Tempelhof und Gatow zu schließen und einen gemein
samen Flughafen in Oranienburg zu bauen, gegen den wir ver
kehrspolitisch sind, der aber statuspolitisch eine sehr interes
sante Anregung war!
[Zurufe von der CDU]
Es wird natürlich auch innerhalb der SPD sehr laut nachge
dacht. Ich habe mit großem Interesse etwa von seiten desjeni
gen, der in der Friedrich-Ebert-Stiftung für Deutschlandpolitik
zuständig ist, Wilhelm Bruns, den Vorschlag gelesen, doch aus
(g. der Sackgasse von Wiedervereinigungsansprüchen und derTat-
* ' Sache, daß niemand einen politischen Weg weisen kann, wie
denn so etwas ins Werk gesetzt werden könnte, endlich heraus
zufinden. Der Bundestag könne zum Beispiel eine Enquete-Kom
mission einrichten, in der die Frage des Widerspruchs zwi
schen der Präambel des Grundgesetzes und der Realität
und eine Neuinterpretation der Präambel des Grundgesetzes in
dieser Hinsicht zum Thema gemeinsamer Diskussion würde.
Warum versuchen wir nicht, darüber eine allgemeine friedenspo
litische, außenpolitische und deutschlandpolitische Debatte mit
allen Parteien zu führen? Und warum führen wir sie zum Beispiel
hier im Abgeordnetenhaus nicht offen, um endlich diese Wider
sprüche und den Scheinkonsens in der Deutschland-Politik
deutlich zu machen?
Im „Volksblatt“ vom Sonntag lese ich eine sehr interessante
Interpretation, in einem Kommentar von Zawatka, der sagt, man
müsse doch endlich einmal den Realitäten Rechnung tragen und
darüber nachdenken, ob die Wirkung der Berliner Verfassung,
weil es de facto so ist, nicht in einem Prozeß der Neureflektion
auf West-Berlin beschränkt werden soll, um auf diese Weise
den Alleinvertretungsanspruch gegenüber Ost-Berlin auszuräu
men und auf dieser Grundlage zu einer besseren Kooperation zu
kommen.
[Beifall bei der AL - Adler (CDU): Welche Gründe
hätte man dafür?]
- Der Grund ist, daß man von seiten der DDR - und wie ich finde
zu Recht, weil ihre Existenz eben immer noch in Frage gestellt
wird - eine größere Offenheit für vorwärtsweisende Lösungen
erreichen könnte und daß man sich endlich in diesem Hause und
in dieser Stadt nichts mehr darüber Vormacht, was denn die Rea
litäten sind, daß man diese nationalistische Rhetorik läßt und
anfängt, endlich konkret Politik zu machen.
[Beifall bei der AL - Widerspruch bei der CDU - Buwitt
(CDU): Sie stellen ja unsere Existenz in Frage, das
ist ja unerhört!]
Ich möchte zum Schluß ein großes Kompliment der Senats
kanzlei und der Senatorin für Bundesangelegenheiten machen.
Im Rahmen der Vorbereitung dieses Besuches ist offensichtlich (C)
gewesen, daß man im Rahmen der bestehenden Statusregelun
gen und Interpretationen eine pragmatische Politik der kleinen
Schritte machen kann, und diese ist notwendig und unabding
bar! Und wenn Sie unsere Papiere lesen, werden Sie mir zustim
men müssen, wir haben immer gesagt: Einen Salto mortale aus
dem gegenwärtigen Status kann es nicht geben! - Aber ich
hoffe, daß das Treffen zwischen Walter Momper und Erich
Honecker zum Ergebnis hat, daß nicht nur dieser Weg konse
quent weiter beschritten wird, sondern daß wir auch unbefange
ner darüber nachdenken, wie diese Debatte, die längst angefan
gen hat, weitergeführt werden kann. Ich hoffe, daß der Besuch
auch ein Neuanfang in dieser Hinsicht ist. Diese Debatte ist da,
rückwärts gewandte Statusinterpretationen, Denkverbote,
Tabus und Konservatismen helfen uns nicht weiter. Wir werden
diese Debatte fortsetzen. Und einer der zentralen Punkte, in der
wir diese Debatte führen werden, ist das Projekt West-Berlin als
Zentrum der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit
in Europa, und zwar mit einem europäischen Vorzeichen und
nicht mit einem deutsch-deutschen. - Danke schön!
[Beifall bei der AL]
Stellv. Präsidentin Brinckmeier: Die Redezeit der Fraktio
nen ist erschöpft. Damit hat die Besprechung zur Erklärung des
Regierenden Bürgermeisters ihre Erledigung gefunden.
Ich rufe nunmehr auf die
Aktuelle Stunde
zum Thema „Aus- und Obersiedler in Berlin“
Für die SPD-Fraktion hat das Wort der Fraktionsvorsitzende
Dr. Staffelt.
Dr. Staffelt (SPD): Frau Präsidentin I Meine sehr verehrten (Q)
Damen und Herren I Ich darf diese Aktuelle Stunde mit dem Dank
der SPD-Fraktion an die Senatorin für Gesundheit und Soziales,
Frau Stahmer, beginnen, die es erreicht hat, in Verhandlungen
mit der Bundesregierung, mit dem Bundesinnenministerium,
Berlin bei der Aufnahme von Aus- und Übersiedlern erheblich
zu entlasten.
[Beifall bei der SPD]
Sie alle wissen, daß die bis dahin gültige Quote von acht Pro
zent für Berlin dem Jahre 1962 entstammt, als diese Stadt drin
gend darauf angewiesen war, zusätzliche Arbeitskräfte zu erhal
ten. Heute müssen wir aus Gründen der Humanität, aus Grün
den der Möglichkeit der Integration der Aus- und Übersiedler in
dieser Stadt darauf bestehen, daß diese Quote auf das Maß
zurückgeschnitten wird, das für die übrigen Bundesländer, das
heißt also anhand der Bevölkerungszahl, gilt, dies wäre eine
Quote von 2,7 Prozent.
Die SPD-Fraktion hat das Problem des massiven Zuzugs von
Aus- und Übersiedlern früh erkannt und hier auch in der letzten
Legislaturperiode mehrfach auf die dadurch auf uns zukommen
den Konsequenzen verwiesen. Leider hat der damalige Senat es
nicht für nötig gehalten, auch nur eine einzige Mark zusätzlich in
den Haushalt 1989 einzustellen, um die Probleme der Über- und
Aussiedler in Berlin tatsächlich lösen zu helfen.
[Buwitt (CDU): Das ist falsch, was Sie sagen!]
Wir sind, Herr Kollege Buwitt, sehr daran interessiert, daß die
Menschen, die hierher kommen, zügig und schnell in unsere
Gesellschaft integriert werden. Um dies zu erreichen, brauchen
wir Mittel, die nicht nur für den Wohnungsbau, sondern die dar
über hinaus auch für die Bereitstellung von Infrastruktur, bei
spielsweise in Form von Schulen und Lehrern oder auch von Kin
dertagesstätten und Erzieherinnen und Erziehern bestehen. Herr
Buwitt, hier haben Sie ein Feld hinterlassen, das - so möchte ich
es kennzeichnen - auf nichts, aber auch auf rein gar nichts vor
bereitet war!
[Beifall bei der SPD -
Vereinzelter Beifall bei der AL]