Abgeordnetenhaus von Berlin - 11. Wahlperiode
2. Sitzung vom 16. März 1989
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Dr. Statz
wachsen. Schüler und Studenten wollen selbstbestimmte For
men des Lernens; sie fordern statt autoritärer Gängelung Raum
für Eigeninitiative. Gegen die inhumane Ausländerpolitik sind
viele christliche Gruppen aufgestanden, bis hin zum zivilen
Ungehorsam, indem sie Flüchtlinge versteckten.
[Beifall bei der AL]
Das ist die neue gesellschaftliche Mehrheit in dieser Stadt, die
wir zur Unterstützung eines rot-grünen Senats brauchen.
[Beifall bei der AL und der SPD]
Diese Mehrheiten sind das Unterpfand dafür, daß jenseits der
Rechts-Iinks-Polarisierung, die die CDU jetzt wieder betreiben
will, das rot-grüne Reformbündnis von Dauer ist.
[Vereinzelter Beifall bei der SPD]
Ein rot-grüner Senat kann Zeichen setzen, daß die Menschen
wieder Hoffnung schöpfen, daß sie ihr Schicksal in die eigenen
Hände nehmen. Grün-alternatives Verständnis von Politik setzt
nicht einfach darauf, daß es eine neue Regierung schon richten
wird. Wir wollen nicht passive Erwartungen, sondern wir suchen
die Auseinandersetzung mit den Ansprüchen, den Erwartungen
und den Hoffnungen der Menschen, auch wenn wir ihnen immer
wieder sagen müssen, wie eng die Handlungsmöglichkeiten
eines rot-grünen Senats sind. Streitbarkeit ist nicht nur im Ver
hältnis zwischen den Koalitionspartnern notwendig, um einen
gemeinsamen Weg zu finden, sondern auch und gerade mit den
Menschen in der Stadt. Denn nur so schlagen die unvermeid
baren Enttäuschungen nicht um in Passivität, nur dann können
sie ausgehalten werden, nur dann wird die Vertretung von
berechtigten Interessen eingebettet in eine Verantwortung für
ein langfristiges rot-grünes Projekt. Ohne die gesamte Phantasie
und Kreativität in der Stadt, die bislang gefesselt war, wird der
politische Aufbruch stecken bleiben.
Die Alternative Liste schickt drei Frauen in den Senat die
diese Verbindung zwischen den außerparlamentarischen, gesell
schaftlichen Kräften und einer anderen Regierungspolitik verkör
pern, eine Verbindung, die weit über die AL selbst hinausgeht,
wie ihre Nicht-Mitgliedschaft in der AL zeigt: eine langjährige
Gewerkschafterin, erfahren im Kampf um mehr Spielräume und
um Möglichkeiten von selbstorganisiertem, nicht von oben ver-
ordneten Erneuerungen im Schulbereich; eine Ökologin, die die
angemessene technische und administrative Lösung der Pro
bleme des Umweltschutzes in der Auseinandersetzung und
Zusammenarbeit mit den Bürgerinitiativen angehen will; und
eine Feministin, die den ganzheitlichen Ansatz des Abbaus von
Frauendiskriminierung und eine neue Jugendpolitik in allen
gesellschaftlichen Bereichen und den autonomen Zugang zu
Problemen der Frauenemanzipation betont. Nichts macht den
politisch-kulturellen Wandel in den letzten Jahren deutlicher als
die Tatsache, daß acht von dreizehn Mitgliedern des Senats
Frauen sind.
[Beifall bei der AL und der SPD]
Der sozial-liberale Aufbruch Ende der 60er Jahre hat die alten
Institutionen entrümpelt und neue Möglichkeiten der demokrati
schen Teilhabe geschaffen, von denen die Bürgerinitiativen in
den 70er und 80er Jahren ihren Nutzen gezogen haben. Demo
kratie ist nicht nur ein Wagnis, das eingegangen werden muß,
um die bestehenden gesellschaftlichen und politischen Verhält
nisse zu verändern. Demokratie und Demokratisierung aller
Lebensbereiche sind die Grundlage, das Lebenselixier jeglicher
Veränderung - ohne die eigene Initiative und die eigene Verant
wortung der Menschen in der Stadt ist jede Reformpolitik zum
Scheitern verurteilt.
Der alte Senat hat eine Politik der vollendeten Tatsachen ver
folgt, die die demokratischen Möglichkeiten immer weiter einge
schränkt hat.
[Buwitt (CDU); So ein Quatsch!]
Wir wollen mehr Liberalität und Toleranz, multikulturelle Vielfalt
statt deutschtümelnde Engstirnigkeit.
[Beifall bei der AL und der SPD -
Buwitt (CDU): Selbst da klatscht Herr Momperl]
Wir wissen, was wir dem entgegenzusetzen haben, denn nur, (C)
was die Menschen sich selbst erstritten haben, kann ihren so
leicht nicht wieder genommen werden.
[Vereinzelter Beifall bei der AL]
Den vielfältigen Gruppen und Initiativen in dieser Stadt wer
den wir wieder zu ihrem demokratischen Recht verhelfen, gehört
zu werden. Wir werden ihnen die Möglichkeit geben, direkt Ein
fluß zu nehmen und Öffentlichkeit für ihre Belange herzustellen.
Jeder soll das Recht haben, Akten der Verwaltung einzusehen,
wenn er betroffen ist. Jeder soll Auskunft über gespeicherte
Daten erhalten - das gilt auch für den Verfassungsschutz.
[Vereinzelter Beifall bei der AL]
Die Möglichkeiten der Verbandsklage sollen erweitert werden -
ein wichtiges Rechtsmittel in der Hand der Bürgerinitiativen und
Betroffenengruppen. Die Rechte des Parlaments werden ge
stärkt. Die Verwaltung wird dezentralisiert - größere bezirk
liche Kompetenzen sollen eine bürgernahe Wahrnehmung der
Aufgaben der Ämter ermöglichen. Wir wollen den gläsernen
Staat und nicht den gläsernen Bürger.
Jenseits des Geruchs von Korruption, jenseits des deutschtü-
melnden Miefs, jenseits der Bespitzelung durch den Verfas
sungsschutz; Wir brauchen in dieser Stadt wieder Luft zum
Atmen.
[Beifall bei der AL und der SPD]
Präsident Wohlrabe: Das Wort hat jetzt für die Fraktion der
Republikaner der Herr Kollege Andres.
Andres (REP): Heute bleiben ja alle sitzen! Ich freue mich.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Werte Kolleginnen
und Kollegen! Heute soll laut Tagesordnung ein neuer Regieren
der Bürgermeister in das Amt gewählt werden. Herr Diepgen
geht, weil nicht er, sondern seine Partei, an der Spitze sein (D)
Generalsekretär Landowsky und die Ausländerbeauftragte, Frau
Barbara John, und andere versagt haben. Mein Rat an Sie, Herr
Diepgen,
[Wagner, Horst (SPD): Treten Sie über!]
lautet deshalb; Wechseln Sie die aus unserer Sicht als Versager
zu Bezeichnenden aus, und dann können Sie in dieser Stadt
irgendwann wieder in die Verantwortung gewählt werden.
[Oh! bei der SPD - Landowsky (CDU): Ich habe dafür nichts
bezahlt! - Heiterkeit]
Doch nun zu Ihnen, Herr Momper: In Ihrer Vorstellung soll
heute ein großer Tag in der Geschichte Berlins anbrechen. Aus
der Sicht der Berliner aber wird dies der schwarze Donnerstag
werden.
[Buwitt (CDU): Der rote Donnerstag!]
Aus der Sicht der Republikaner ist der 16. März 1989 der Tag
der Machtergreifung der Grünfaschisten!
[Rui! Oh! und Ach! von der SPD und der AL -
Frau Bischoff-Rlanz (AL): Würden Sie bitte eingreifen,
Herr Wohlrabe! - Frau Künast (AL): Rügen! -
Zuruf von der SPD: Das ist eine Ungeheuerlichkeit! - Unruhe]
Sie, Herr Momper, tragen für das kommende schwarze Kapitel
der Stadtgeschichte die volle Verantwortung!
Präsident Wohlrabe: Herr Kollege Andres, ich habe neulich
schon gebeten, daß Sie sich in der Wortwahl mäßigen. Ich darf
Sie noch einmal herzlich darum bitten, und wenn Sie das noch
einmal sagen, gibt es eine Rüge - die erste. Ich dachte, wir
kämen ohne so etwas aus.
[Wagner, Horst (SPD): Da lacht der noch drüber!]
Andres (REP): Sie, Herr Momper, tragen für das kommende
schwarze Kapitel der Stadtgeschichte die volle Verantwortung.
Eines kann ich Ihnen jedoch sagen; Berlin hat bewiesen, daß es
die Kraft hat, mit diesem drohenden rot-grünen Bündnis fertig zu