Abgeordnetenhaus von Berlin - 11. Wahlperiode
2. Sitzung vom 16. März 1989
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Präsident Wohlrabe eröffnet die Sitzung um 14.01 Uhr.
Präsident Wohlrabe: Meine Damen und Herren! Ich eröffne
die 2. Sitzung des Abgeordnetenhauses von Berlin und
bekunde unseren unbeugsamen Willen, daß die Mauer
fallen und daß Deutschland mit seiner Hauptstadt Berlin
in Frieden und Freiheit wiedervereinigt werden muß.
Vor Eintritt in die Tagesordnung, und ich darf höflichst bitten,
daß auch auf der Tribüne Ruhe einkehrt, darf ich einige Gedenk
worte sprechen:
[Die Anwesenden erheben sich.]
Ich möchte eines Mannes gedenken, der sich um unser Land
und unsere Stadt in ganz besonderem Maße verdient gemacht
hat. Im Alter von 93 Jahren ist am vergangenen Sonnabend in
den Vereinigten Staaten von Amerika der frühere amerikanische
Hohe Kommissar für Deutschland, John McCloy, gestor
ben. Sein Name wird mit der Nachkriegsgeschichte unserer
Stadt, deren Ehrenbürger er war, für immer aufs engste verbun
den bleiben.
John McCloy, der von 1949 bis 1952 Hoher Kommissar und
Militärgouverneur war, repräsentierte jene Kräfte in Amerika, die
bereit waren, dem Feind von gestern als Freund von morgen die
Hand zu reichen. Er gehörte zu jenen, die nach dem Zusammen
bruch unseres Landes den Grundstein für den wirtschaftlichen
Wiederaufbau und die politische Entwicklung zum freiheitlichen
Rechtsstaat legten. John McCloy wurde zum Wegbereiter der
jungen Bundesrepublik Deutschland.
Sein Anteil an der Vorbereitung und Durchführung des Mar
shall-Plans ist ebenso unvergessen wie sein Engagement inner
halb der USA als Fürsprecher deutscher Interessen. Das
Höchstmaß an Vertrauen, das er damals den Menschen und der
demokratischen Entwicklung in unserem Land entgegenbrachte,
war eines der Fundamente für die enge Freundschaft zwischen
Amerikanern und Deutschen, die sich seither immer weiter
festigte.
Konrad Adenauer, der John McCloy in politischer Zusammen
arbeit und persönlicher Freundschaft verbunden war, hat die
Haltung der USA gegenüber den Deutschen in den Jahren
unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg in seiner ersten Regie
rungserklärung am 20. September 1949 gewürdigt. Er sagte
damals:
Ich glaube nicht, daß jemals in der Geschichte ein sieg
reiches Land es versucht hat, dem besiegten Land in der
Weise zu helfen und zu seinem Wiederaufbau und seiner
Erholung beizutragen, wie das die Vereinigten Staaten
gegenüber Deutschland getan haben und tun.
Soweit das Zitat. Ich meine, daß wir auch heute Anlaß haben,
uns dieser Tatsache zu erinnern.
John McCloy gehörte zu denen, die pragmatische Politik, wie
sie die Gegenwart erforderte, mit langfristigen Perspektiven ver
banden. Zwei Schwerpunkte beherrschten in jenen Jahren sein
politisches Denken und Handeln; die Notwendigkeit, die Einheit
Deutschlands wiederherzustellen, und die Solidarität mit Berlin,
das für ihn das Symbol der Freiheit für die ganze Welt war.
Er selbst ist durch sein Wirken zu einem Symbol der deutsch-
amerikanischen Freundschaft und Schicksalsgemeinschaft
geworden. Er war ein verläßlicher und großer Freund der Deut
schen. Berlin hat ihm 1985 zu seinem 90. Geburtstag die Würde
eines Ehrenbürgers verliehen. Diese Auszeichnung konnte nur
ein kleiner Dank sein. John McCloy hat sich um unsere Stadt ver
dient gemacht. Wir gedenken seiner in Trauer und Hochachtung.
Wir haben heute aber auch Abschied zu nehmen von einem
langjährigen und unvergessenen Mitglied unseres Abgeordne
tenhauses: Dr. Günter Riesebrodt, den wir vor wenigen
Stunden zu Grabe getragen haben. Günter Riesebrodt war Zeit
seines politischen Wirkens ein aufrechter und streitbarer Demo
krat. Ihn nur als einen Mann der ersten Stunde zu bezeichnen,
würde ihm nicht gerecht, denn bereits vor 1933 war Günter
Riesebrodt politisch aktiv und hat darunter auch leiden müssen.
In der ihm eigenen Art der klaren Meinungsäußerung, der Ironie
seiner Sprache, die er als politisches Stilmittel zielsicher verwen- (C)
dete, genoß er nicht nur große Anerkennung in den eigenen
Reihen, sondern auch Respekt beim politischen Gegner. Die Un
bestechlichkeit in seinem politischen Urteil und die Unabhängig
keit bei der eigenen Positionsbestimmung läßt ihn heute noch als
ein wirkliches Vorbild in der politischen Kultur dieses Hauses
erscheinen.
Im Alter von 77 Jahren ist nach kurzer Krankheit ein Mann von
uns gegangen, der das Schicksal unserer Stadt in schwierigen
Zeiten mitbestimmt hat und dessen Rat und Urteil auch nach sei
nem Abtreten von der politischen Bühne von vielen gefragt war.
Ich bitte, auch ihm zu gedenken.
Und schließlich ist von uns gegangen unser langjähriger Kol
lege Robert Wachs. Robert Wachs hat lange Jahre kom
munalpolitische Verantwortung in der Bezirksverordnetenver
sammlung Schöneberg getragen und wurde erstmalig Ende der
70er Jahre in das Abgeordnetenhaus gewählt. Er gehörte dem
Abgeordnetenhaus bis zum Ende der letzten Legislaturperiode
an. Sein Schwergewicht lag in der Mittelstandspolitik und in der
Baupolitik. Wir haben mit Robert Wachs einen treuen und
liebenswerten Kollegen verloren und trauern um ihn.
Meine Damen und Herren, wir haben uns zu Ehren dreier Per
sönlichkeiten der politischen Geschichte unserer Stadt erhoben.
In unterschiedlichen Bereichen aktiv, sind sie sich jedoch in
einem gleich; Ihr politischer Wunschtraum war ein freies, demo
kratisches Berlin, eine Stadt ohne Mauer war ihr Ziel. Diesem
Ziel galt ihre ganze Kraft. Dafür wollen wir John McCloy, Günter
Riesebrodt und Robert Wachs danken. Doch wir sollten mehr
als nur Dank sagen: Wir Parlamentarier, gerade wir altgedienten,
stehen bei diesen Männern in der moralischen und politischen
Verantwortung. Wir sind verpflichtet, dafür zu sorgen, daß ihre
Arbeit, ihr politisches Engagement für unsere Stadt nicht im
Nebel der Geschichte verlorengehen. Persönlichkeiten wie
ihnen sei gedankt. Berlin wird sie nicht vergessen!
Ich danke Ihnen, daß Sie sich zu Ehren der Verstorbenen von (£>)
Ihren Plätzen erhoben haben.
Erklärung
des Regierenden Bürgermeisters
Vor Eintritt in die Tagesordnung ist gemäß § 62 Abs. 5 der
Geschäftsordnung des Abgeordnetenhauses eine Erklärung
abzugeben, worum der Regierende Bürgermeister gebeten hat.
Die Fraktionen haben sich im Ältestenrat verabredet, daß jede
Fraktion anschließend 15 Minuten Redezeit erhält. Wenn kein
Widerspruch erfolgt, wird so verfahren. - Ich sehe keinen Wider
spruch, dann wird so verfahren. Ich erteile dem Regierenden
Bürgermeister das Wort.
Diepgen, Regierender Bürgermeister: Herr Präsident! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! An diesem Tag wende ich
mich zuerst an die Berlinerinnen und Berliner im anderen Teil
unserer Stadt. Sie erleben heute nach einem Rücktritt einer
Regierung einen demokratischen Wechsel. Ich wünsche mir,
daß eines Tages in einem ungeteilten Berlin ein freigewähltes
Parlament eine Regierung des deutschen Volkes wählen kann.
[Beifall bei der CDU und den REP]
In unserer Demokratie ist der höchste Maßstab die Achtung vor
dem Willen des Wählers. Die Regierung von heute ist die Oppo
sition von morgen, und die Opposition von morgen ist die Regie
rung von übermorgen. Dies sollte alle, die aus dem Amt schei
den, und alle, die in ein Amt streben, zur Zurückhaltung und zur
Bescheidenheit mahnen.
So normal ein Regierungswechsel ist, heute stehen wir vor
einer ungewöhnlichen Situation. Denn heute schickt sich eine
Koalition an, eine Regierung zu bilden, von der sie selbst sagt,
daß sie eine Mehrheit in der Bevölkerung erst finden muß. Ich
will jetzt nicht darauf eingehen, wie es dazu gekommen ist. Dazu
wird die kommende Zeit Gelegenheit genug bieten.