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Volume Nr. 82, 20. Oktober 1988

Full text: Plenarprotokoll (Public Domain) Issue1988/89, 10. Wahlperiode, Band VI, 82.-92. Sitzung (Public Domain)

Abgeordnetenhaus von Berlin - 10. Wahlperiode 
82. Sitzung vom 20. Oktober 1988 
(A) 
(B) 
Sen Fink 
Wir haben sie unterstützt trotz vieler gegensätzlicher Stellung 
nahmen. Ich finde, bei all dem, was Sie kritisieren, sollten Sie 
auch einmal an solcher Stelle anerkennen, wenn unkonventionell 
und unkompliziert auch unkonventionelle Initiativen unterstützt 
worden sind. 
[Beifall bei der CDU - Wieland (AL): Habe ich doch 
gemacht!] 
Und wir haben keinen Nachholbedarf auch darin, was bei 
spielsweise die Versorgung mit Kita-Plätzen angeht. Mittlerweile 
liegt Kreuzberg in der Versorgung mit Kita-Plätzen ganz an der 
Spitze! Und ich erinnere an die Vergangenheit; Da war das näm 
lich ganz anders. Insbesondere unter SPD-Regierungen war es 
so, daß die meisten Kita-Plätze in den reichen und bürgerlichen 
Bezirken entstanden sind, in Zehlendorf beispielsweise, wäh 
rend Kreuzberg ganz weit hinten gestanden hat. Und Tatsache 
ist, daß durch diese Senatspolitik Kreuzberg in der Versorgung 
mit Kita-Plätzen ganz nach vorne gekommen ist! 
[Beifall bei der CDU] 
Wir verstehen übrigens viele Kreuzberger durchaus, wenn sie 
befürchten, der Bezirk werde zu einem Zentrum der Sozialindu 
strie gemacht. Berufsankläger wie professionelle Betroffene 
schwimmen tatsächlich allzu leicht auf der Welle der ritualisier 
ten Revolte, die die Begleitmusik zum Handaufhalten abgibt und 
Proteste inszeniert für die Innenausstattung der „Kreuzberger 
Nächte“. Dem steht häufig der Eigensinn der Bewohner gegen 
über - Gott sei Dank -, insbesondere auch der türkischen. Es ist 
nicht zu übersehen, sie gehören mittlerweile zum stabilsten Fak 
tor des Bezirks, sie werden nicht mehr nur geduldet, sondern als 
Arbeitgeber, Arbeitnehmer, Kunde und Berater wie selbstver 
ständlich akzeptiert, auch wenn hier und da einmal ausländer- 
feindliche Parolen auftauchen. Die Integration der ausländischen 
Bewohner sollten wir alle gemeinsam vorantreiben, nicht als Teil 
eines multikulturellen Breies, sondern in einem Prozeß, der sie 
ernst nimmt, 
[Härtig (AL): Sagen Sie einen Satz zum kommunalen 
Wahlrecht!] 
- ich sage gleich etwas dazu - sondern in den einem Prozeß, der 
sie ernst nimmt, ihnen ihre eigene Kultur beläßt und sie dort 
unterstützt, wo sie nach neuen Ausdrucksformen suchen. 
Gerade wir Deutschen können viel von ihnen lernen, Ansätze 
dazu sind auch vorhanden. 
[Weiterer Zuruf des Abg. Härtig (AL) - Glocke des 
Präsidenten] 
- Herr Abgeordneter Härtig, hören Sie doch in Ruhe zu! - Aber 
es führt auch kein Weg daran vorbei, die ausländische Wohn 
bevölkerung stärker in die kommunalen Belange einzubeziehen, 
ihre Teilhabe und Mitbestimmung zu stärken. Was spricht eigent 
lich dagegen, daß die nichtdeutsche Wohnbevölkerung ihre 
Sprecher selbst bestimmt, etwa in einer Urwahl zu den Auslän 
derbeiräten? - In Städten wie Stuttgart oder Nürnberg ist dies 
bereits seit Jahren üblich. Wir sind nicht für das kommunale 
Wahlrecht, aber es gibt eine Fülle von Formen, wie die auslän 
dischen Bürger noch sehr viel stärker an ihren Belangen beteiligt 
werden können. Und sperren wir die Phantasie nicht einfach aus, 
indem wir schlichtweg „hie hott - hie hüh“ rufen ? Lassen Sie uns 
die möglichen Formen auch kreativ nutzen, ich glaube, dann 
kommen wir gemeinsam einen Schritt weiter. 
[Beifall bei der CDU] 
Lassen Sie mich zum Problem der Arbeitslosigkeit kommen. 
Um jeden einzelnen Arbeitslosen sollten wir uns kümmern und 
keinem selbstverschuldete Unmündigkeit vorwerfen. Aber verlie 
ren wir mit dem starren Blick auf die Zahlen - sind es 24 % bei 
den jugendlichen Arbeitslosen? Sind es gar 30 % bei den aus 
ländischen? - nicht das Gespür für den einzelnen? Lassen wir 
uns nicht von Forderungen nach immer neuen Maßnahmen blen 
den, die letztlich nur einen befristeten Gießkanneneffekt haben. 
Den Zahlen nach gibt es in Berlin keinen Mangel an qualifizierten 
Ausbildungsplätzen! Wir sollten ursächlicher denken und uns 
von einem Arbeitsbegriff lösen, der letztlich nur durch die erzie 
herische Brille gesehen wird: Arbeit als pädagogischer Trick zur 
Wiederherstellung von Ruhe und Ordnung! Die postindustrielle 
Gesellschaft ist zunehmend auf Autonomie, Selbständigkeit und 
Kreativität angewiesen. Wir müssen nicht glauben, daß der 
Arbeitsgesellschaft die Arbeit ausgeht. Aber wir müssen verhin 
dern, daß sich die eine Hälfte der Bevölkerung zu Tode arbeitet, 
während sich die andere Hälfte zu Tode langweilt! Das setzt eine 
Abkehr von vielen traditionellen Vorstellungen in den Arbeits 
beziehungen voraus. Die Debatte um Flexibilisierung der Arbeits 
zeit macht das deutlich. Für mich ist Kreuzberg ein Seismograph 
für diese Entwicklungen. Dort sind nicht deshalb so viele arbeits 
los, weil es keine Arbeit gibt, sondern Kreuzberg ist - bitte ver 
stehen Sie mich hier nicht bewußt falsch - auch ein Ort für 
Arbeitslose. Hier können Menschen noch mit wenig Geld aus- 
kommen, sind die Mieten niedrig. Hier scheint sich neben der 
Arbeitslust so etwas wie ein selbst beanspruchtes Recht auch 
auf Faulheit herauszubilden mit fließenden Übergängen und wohl 
auch mit einem hohen Maß an Schwarzarbeit. 
Die Erfahrung des seit Anfang April laufenden 501-Pro 
gramms, das vom Senat konzipiert wurde und finanziert wird, 
scheint dies auch zu bestätigen. Weil es Arbeitsplätze vermittelt, 
die die jungen Erwachsenen möglichst selbst ausgesucht 
haben, wird das Programm auch angenommen. Es ist freiwillig 
und befristet, bietet aber Optionen. Der Andrang zeigt, daß es 
den Bedürfnissen der jungen Menschen entspricht. Und darin 
scheint eine der neuen Stärken der alten „Kreuzberger 
Mischung“ zu liegen. Sie garantiert einen weitgehend unbüro 
kratischen Austausch zwischen den Sektoren aus Arbeit, Leben, 
Freizeit und Kultur, mit einem Wort, entspricht der Lebensweise 
eines neuen, vielleicht anarchischen Hedonismus. 
Von 1984 bis 1987 sind 70 neue Gewerbebetriebe nach 
Kreuzberg gezogen, entstanden 5 000 Arbeitsplätze neu. Zwar 
ist die Textil- und Papierindustrie zurückgegangen, an ihre Stelle 
aber sind zu einem erheblichen Teil neue Handwerksbetriebe 
des Metallgewerbes, der Holzverarbeitung und des Kraftfahr 
zeughandwerks getreten. Zahlreiche Elektronikbetriebe, Spezial 
maschinen- und Präzisionswerkzeugbauer zeigen, daß von 
einem beachtlichen Teil in Kreuzberg SO 36 die neusten tech 
nischen Entwicklungen frühzeitig aufgegriffen und zur Anwen 
dungsreife gebracht wurden. Kein Wunder auch, daß das Quali 
fikationsniveau im Stadtteil mit einer Facharbeiterquote von 
39 % über der Berlins im Gesamtdurchschnitt liegt. 
„Kreuzberger Mischung“, das heißt auch sorgsamer Umgang 
mit Material und Räumen, Improvisation auf höchstem Niveau 
und auch Selbermachen, schließlich schnelles Reagieren auf 
Marktlücken. 
Es läßt sich auch an historische Erfahrungen anknüpfen. 
Kreuzberg sperrte sich bereits vor 150 Jahren gegen die Maß 
losigkeiten eines industriellen Großstadtmolochs. Zur gleichen 
Zeit, als Großfabriken draußen vor der Stadt entstanden, waren 
es die Kreuzberger Handwerker, die Präzisions- und Spezial 
maschinen entwickelten. Werkzeugfabriken, Gießereien entstan 
den, die Installationsindustrie, deren Spitzenprodukt - die Aqua- 
fix-Klospülung - noch heute am Moritzplatz produziert wird. 
[Heiterkeit bei der CDU und der AL] 
Mir scheint, daß die über Generationen aufgebauten Qualifikatio 
nen und Kooperationsformen wichtige Gründe dafür sind, daß 
Kreuzberg nicht zum Industriemuseum geworden ist. 
Schauen wir noch einmal zurück: Vor über 125 Jahren hielt 
der preußische Richter Schulze aus Delitzsch in einem Kreuz 
berger Lokal in der heute zu Ost-Berlin gehörenden Sebastian 
straße seine aufsehenerregenden Reden an die Berliner Arbei 
ter, mit denen er sie zur Selbsthilfe durch Genossenschaften auf 
forderte. 
[Kliem (CDU): Ganz toll, Herr Senator, prima! - Zuruf 
des Abg. Härtig (AL)] 
- Schauen Sie, Herr Abgeordneter Härtig, es ist schon besser, 
wenn man sich mit den aktuellen Problemen und den grundsätz 
lichen Problemen auseinandersetzt, dann auch einmal einen 
Blick in die Geschichte zu werfen. Dann kann man nämlich sehr 
viel besser erkennen, wo man steht, und dann wird man nicht 
zum Gefangenen des jeweils neusten, modischen Schicks, der 
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