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Volume Nr. 91, 19. Januar 1989

Full text: Plenarprotokoll (Public Domain) Issue1988/89, 10. Wahlperiode, Band VI, 82.-92. Sitzung (Public Domain)

Abgeordnetenhaus von Berlin - 10. Wahlperiode 
91. Sitzung vom 19. Januar 1989 
Grugelke 
(A) gentlich die Aufgabe gehabt, die Studienreform hier weiter 
voranzubringen. Aber ist es nicht geradezu organisierte 
Verantwortungslosigkeit, Spielräume der Hochschulen für 
Veränderungen in Lehre und Forschung durch den Abbau von 
Mitbestimmungsmöglichkeiten im akademischen Mittelbau, 
bei den Studenten einzuengen und partikuläre Interessen der 
Professoren zu stärken? Oder ist es nicht geradezu verantwor 
tungslos, der privaten Wirtschaftshochschule E.A.P. ohne 
Grund öffentliche Mittel zuzuschieben und die staatliche 
Anerkennung auszusprechen und dabei eben genau diese 
angemessene Ausstattung im Fachbereich Wirtschaftswis 
senschaften der FL) vorzuenthalten? 
In vielen Bereichen wird eine ganze Studentengeneration 
um ein ordnungsgemäßes Studium betrogen. Was sagt zu 
dieser Tatsache ein Herr Möllemann, der sich Bundesbil 
dungsminister nennt? Er sagt: Wir haben uns vertan! - Das ist 
die ganze Antwort. Ich finde das empörend! 
[Beifall bei der AL und der SPD] 
An den Fachbereichen lautet nun die Losung: Wir verlieren 
ein Semester, aber wir gewinnen ein Studium. Dieses ist, 
denke ich, die richtige Antwort. In zahlreichen autonomen 
Seminaren haben die Studenten die Defizite konservativ 
liberaler Politik thematisiert. 
[Zuruf des Abg. Landowsky (CDU)] 
Sie haben neue Lehr- und Lernformen in Selbsthilfe erprobt. 
Die AL geht davon aus, daß sie damit eine großartige 
gesellschaftspolitische Leistung erbracht haben, Herr Lan 
dowsky, die so manche Lehrveranstaltung aufwiegt, die durch 
Ihre Politik nicht angeboten worden ist. Die Gleichstellung und 
die materielle Absicherung der autonomen Seminare durch 
zusätzliche Sach- und Personalmittel muß als Alternative zum 
(B) normalen Lehrangebot institutionell abgesichert werden, oh 
ne sie in ein Korsett herkömmlich organisierter Lehrveran 
staltungen zu zwängen. 
Allerdings bleibt das Versäumnis dieses Senats, die Hoch 
schulen auch nur angemessen ausgestattet zu haben. Ob 
Steuerreform, ob Gesundheitsreform - konservativ-liberale 
Politik ist am Ende ihres Lateins. Von den unsozialen Wirkun 
gen dieser Politik sind fast alle Menschen in unserer Stadt 
betroffen, aberdieStudenten in besonderer Weise. DerBAföG- 
Kahlschlag und der fehlende studentische Wohnraum ver 
schlechtern und verschlimmern die soziale Situation der 
Studenten. 
Welche Antwort hat nun der Senat darauf? - Der Senat hüllt 
sich mehr oder weniger in Schweigen und hinterläßt einen 
hochschulpolitischen Scherbenhaufen. Dieser Senat hat ab 
gewirtschaftet; dieser Senat muß abgelöst werden. 
[Beifall bei der AL] 
Alterspräsident Poritz: Das Wort zur Beantwortung der 
Großen Anfrage hat Herr Senator Dr. Turner. 
Dr. Turner, Senator für Wissenschaft und Forschung: Herr 
Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lassen 
Sie mich vor Eingehen auf die Einzelfragen einige allgemeine 
Bemerkungen machen. Ausgehend von Nordrhein-Westfalen 
und von Frankfurt ist in diesem Wintersemester eine Boykott- 
Bewegung an den bundesdeutschen Hochschulen festzustel 
len, die auch Berlin erreicht hat, die aber, nicht von Berlin 
ausgegangen ist - wie es gelegentlich fälschlich behauptet 
wird -, die hier auch nicht eine besondere Ursache hat und die 
im Augenblick - man mag das beklagen, aber man muß es 
feststellen - andere bundesdeutsche Hochschulstädte eben 
falls erreicht hat. Wer gestern abend die Nachrichten gesehen 
oder die Sendung „Brennpunkt“ verfolgt hat, konnte dieses 
feststellen: außerdem ist es in der Presse zu lesen. 
Ursprünglich war der Ansatz für diese Boykottmaßnahmen (C) 
die Wohnungssituation; es kamen dann Forderungen hinzu, 
die sich auf andere Bereiche bezogen. Es ist schließlich 
zusammenfassend zu sagen, daß eine allgemeine Unzufrie 
denheit mit der Studiensituation auslösend und bestimmend 
für die Haltung vieler Studenten war. Äußere Gegebenheiten, 
die Situation in der Lehre, Form und Inhalt des Lehrangebots - 
dies alles waren Merkmale, die die Unzufriedenheit ausgelöst 
haben, die vor dem Hintergrund der Kennzeichen der Massen 
universität von heute zu sehen ist. 
Wir haben innerhalb von 30 Jahren ein Anwachsen der 
Studentenzahlen von 290000 auf 1,5 Millionen Studenten 
gehabt, der Anteil an den jeweiligen Altersjahrgängen ist von 
3% auf 22% gestiegen, die Zahl der Professoren bundesweit 
von 5000 auf 25000. Als eine neuere Erscheinung der deut 
schen Hochschulgeschichte haben wir die sogenannte Grup 
penuniversität. Diese Merkmale, diese Kennzeichen gilt es zu 
beachten, wenn man Lösungen, wenn man Antworten formu 
lieren will auf die Fragen, die nicht nur aktuell gestellt werden, 
sondern die - natürlich - schon eine Zeitlang bekannt und auf 
die zum Teil auch Antworten gegeben worden sind. 
Wir können davon ausgehen - und auch dies ist keine 
neuere Erkenntnis -, daß die „Massenuniversität“ eine Er 
scheinung auf Dauer bleiben wird. Jedenfalls ist heute nicht 
abzusehen, wann wir deutlich zurückgehende Studentenzah 
len haben werden. Wenn es heute 1,5 Millionen sind und wenn 
es um die Jahrhundertwende vielleicht 1,1 Millionen sein 
mögen, was niemand mit absoluter Sicherheit Voraussagen 
kann, dann bedeutet auch eine solche Zahl noch „Massenuni 
versität“ für die größere Zahl unserer Hochschulen. 
Berlin hat dies erkannt, und es hat vor allen Dingen auch 
entsprechend gehandelt, soweit überhaupt solche Zahlen 
vorhersehbar waren. Das paßt der Opposition natürlich nicht, 
und deswegen geht sie auf entsprechende Hinweise auch 
nicht ein. Es ist aber keine Gebetsmühle, die ich hier abspiele, 
sondern es ist die Notwendigkeit, erneut und immer wieder 
und selbst denjenigen, die es nicht begreifen wollen, klarzu 
machen, daß der Senat, daß das Abgeordnetenhaus in seiner 
Mehrheit gehandelt haben, und zwar einmal in der Ausfinan 
zierung der Personalhaushaite, zum anderen in der überpro 
portionalen Steigerung der Haushalte für die Hochschulen 
und auch mit dem Auftrag, Strukturpläne für das Jahr 2000 zu 
erstellen, weil nur aufgrund einer solchen soliden Planung 
dann Entscheidungen, auch Investitionsentscheidungen, ge 
troffen werden können. 
Dabei ist der Senat von Grundsätzen ausgegangen, die in 
der Vergangenheit galten - jedenfalls seit 1981 -, die jetzt 
gelten und auch weiter gelten werden. Berlin wird weiter 
Uberproportional viele Ausbildungsplätze zur Verfügung stel 
len. Wir müssen immerhin sehen, daß in Berlin 650 DM pro 
Einwohner für diesen Bereich ausgegeben werden, im Bun 
desdurchschnitt sind es 223 DM; das macht die ungeheure 
Leistung deutlich. 3% der Bevölkerung der Bundesrepublik 
wohnen in Berlin, aber wir haben 7% aller Studenten hier. Wir 
haben ausgebaute Studienplätze für 60000 Studenten, und es 
ist zu überlegen, ob und in welchen Bereichen eine Auswei 
tung stattfinden sollte. Dabei muß die Attraktivität anknüpfen 
an die Qualität der Ausbildung, an die Qualität der Absolven 
ten. 
Es wird weiter darauf ankommen - und auch das ist seit 
längerem Ziel der Politik-, daß die Fachhochschulen mit ihren 
kürzeren und insofern attraktiveren Studiengängen weiter 
ausgebaut werden. Hierin liegt ein besonderes Merkmal, und 
es ist ein Erfolg, daß es gelungen ist, die Ausbildungsgänge 
so, wie sie jetzt sind, auch EG-weit anerkannt zu bekommen. 
Aber es kommt auch darauf an, die vorhandenen Mittel 
wirtschaftlich einzusetzen. Wenn in der ersten Frage das 
Problem der Verbesserung der Studiensituation angespro 
chen wird, dann muß man sich überlegen, wo denn welche 
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