Abgeordnetenhaus von Berlin - 10. Wahlperiode
91. Sitzung vom 19. Januar 1989
Grugelke
(A) gentlich die Aufgabe gehabt, die Studienreform hier weiter
voranzubringen. Aber ist es nicht geradezu organisierte
Verantwortungslosigkeit, Spielräume der Hochschulen für
Veränderungen in Lehre und Forschung durch den Abbau von
Mitbestimmungsmöglichkeiten im akademischen Mittelbau,
bei den Studenten einzuengen und partikuläre Interessen der
Professoren zu stärken? Oder ist es nicht geradezu verantwor
tungslos, der privaten Wirtschaftshochschule E.A.P. ohne
Grund öffentliche Mittel zuzuschieben und die staatliche
Anerkennung auszusprechen und dabei eben genau diese
angemessene Ausstattung im Fachbereich Wirtschaftswis
senschaften der FL) vorzuenthalten?
In vielen Bereichen wird eine ganze Studentengeneration
um ein ordnungsgemäßes Studium betrogen. Was sagt zu
dieser Tatsache ein Herr Möllemann, der sich Bundesbil
dungsminister nennt? Er sagt: Wir haben uns vertan! - Das ist
die ganze Antwort. Ich finde das empörend!
[Beifall bei der AL und der SPD]
An den Fachbereichen lautet nun die Losung: Wir verlieren
ein Semester, aber wir gewinnen ein Studium. Dieses ist,
denke ich, die richtige Antwort. In zahlreichen autonomen
Seminaren haben die Studenten die Defizite konservativ
liberaler Politik thematisiert.
[Zuruf des Abg. Landowsky (CDU)]
Sie haben neue Lehr- und Lernformen in Selbsthilfe erprobt.
Die AL geht davon aus, daß sie damit eine großartige
gesellschaftspolitische Leistung erbracht haben, Herr Lan
dowsky, die so manche Lehrveranstaltung aufwiegt, die durch
Ihre Politik nicht angeboten worden ist. Die Gleichstellung und
die materielle Absicherung der autonomen Seminare durch
zusätzliche Sach- und Personalmittel muß als Alternative zum
(B) normalen Lehrangebot institutionell abgesichert werden, oh
ne sie in ein Korsett herkömmlich organisierter Lehrveran
staltungen zu zwängen.
Allerdings bleibt das Versäumnis dieses Senats, die Hoch
schulen auch nur angemessen ausgestattet zu haben. Ob
Steuerreform, ob Gesundheitsreform - konservativ-liberale
Politik ist am Ende ihres Lateins. Von den unsozialen Wirkun
gen dieser Politik sind fast alle Menschen in unserer Stadt
betroffen, aberdieStudenten in besonderer Weise. DerBAföG-
Kahlschlag und der fehlende studentische Wohnraum ver
schlechtern und verschlimmern die soziale Situation der
Studenten.
Welche Antwort hat nun der Senat darauf? - Der Senat hüllt
sich mehr oder weniger in Schweigen und hinterläßt einen
hochschulpolitischen Scherbenhaufen. Dieser Senat hat ab
gewirtschaftet; dieser Senat muß abgelöst werden.
[Beifall bei der AL]
Alterspräsident Poritz: Das Wort zur Beantwortung der
Großen Anfrage hat Herr Senator Dr. Turner.
Dr. Turner, Senator für Wissenschaft und Forschung: Herr
Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lassen
Sie mich vor Eingehen auf die Einzelfragen einige allgemeine
Bemerkungen machen. Ausgehend von Nordrhein-Westfalen
und von Frankfurt ist in diesem Wintersemester eine Boykott-
Bewegung an den bundesdeutschen Hochschulen festzustel
len, die auch Berlin erreicht hat, die aber, nicht von Berlin
ausgegangen ist - wie es gelegentlich fälschlich behauptet
wird -, die hier auch nicht eine besondere Ursache hat und die
im Augenblick - man mag das beklagen, aber man muß es
feststellen - andere bundesdeutsche Hochschulstädte eben
falls erreicht hat. Wer gestern abend die Nachrichten gesehen
oder die Sendung „Brennpunkt“ verfolgt hat, konnte dieses
feststellen: außerdem ist es in der Presse zu lesen.
Ursprünglich war der Ansatz für diese Boykottmaßnahmen (C)
die Wohnungssituation; es kamen dann Forderungen hinzu,
die sich auf andere Bereiche bezogen. Es ist schließlich
zusammenfassend zu sagen, daß eine allgemeine Unzufrie
denheit mit der Studiensituation auslösend und bestimmend
für die Haltung vieler Studenten war. Äußere Gegebenheiten,
die Situation in der Lehre, Form und Inhalt des Lehrangebots -
dies alles waren Merkmale, die die Unzufriedenheit ausgelöst
haben, die vor dem Hintergrund der Kennzeichen der Massen
universität von heute zu sehen ist.
Wir haben innerhalb von 30 Jahren ein Anwachsen der
Studentenzahlen von 290000 auf 1,5 Millionen Studenten
gehabt, der Anteil an den jeweiligen Altersjahrgängen ist von
3% auf 22% gestiegen, die Zahl der Professoren bundesweit
von 5000 auf 25000. Als eine neuere Erscheinung der deut
schen Hochschulgeschichte haben wir die sogenannte Grup
penuniversität. Diese Merkmale, diese Kennzeichen gilt es zu
beachten, wenn man Lösungen, wenn man Antworten formu
lieren will auf die Fragen, die nicht nur aktuell gestellt werden,
sondern die - natürlich - schon eine Zeitlang bekannt und auf
die zum Teil auch Antworten gegeben worden sind.
Wir können davon ausgehen - und auch dies ist keine
neuere Erkenntnis -, daß die „Massenuniversität“ eine Er
scheinung auf Dauer bleiben wird. Jedenfalls ist heute nicht
abzusehen, wann wir deutlich zurückgehende Studentenzah
len haben werden. Wenn es heute 1,5 Millionen sind und wenn
es um die Jahrhundertwende vielleicht 1,1 Millionen sein
mögen, was niemand mit absoluter Sicherheit Voraussagen
kann, dann bedeutet auch eine solche Zahl noch „Massenuni
versität“ für die größere Zahl unserer Hochschulen.
Berlin hat dies erkannt, und es hat vor allen Dingen auch
entsprechend gehandelt, soweit überhaupt solche Zahlen
vorhersehbar waren. Das paßt der Opposition natürlich nicht,
und deswegen geht sie auf entsprechende Hinweise auch
nicht ein. Es ist aber keine Gebetsmühle, die ich hier abspiele,
sondern es ist die Notwendigkeit, erneut und immer wieder
und selbst denjenigen, die es nicht begreifen wollen, klarzu
machen, daß der Senat, daß das Abgeordnetenhaus in seiner
Mehrheit gehandelt haben, und zwar einmal in der Ausfinan
zierung der Personalhaushaite, zum anderen in der überpro
portionalen Steigerung der Haushalte für die Hochschulen
und auch mit dem Auftrag, Strukturpläne für das Jahr 2000 zu
erstellen, weil nur aufgrund einer solchen soliden Planung
dann Entscheidungen, auch Investitionsentscheidungen, ge
troffen werden können.
Dabei ist der Senat von Grundsätzen ausgegangen, die in
der Vergangenheit galten - jedenfalls seit 1981 -, die jetzt
gelten und auch weiter gelten werden. Berlin wird weiter
Uberproportional viele Ausbildungsplätze zur Verfügung stel
len. Wir müssen immerhin sehen, daß in Berlin 650 DM pro
Einwohner für diesen Bereich ausgegeben werden, im Bun
desdurchschnitt sind es 223 DM; das macht die ungeheure
Leistung deutlich. 3% der Bevölkerung der Bundesrepublik
wohnen in Berlin, aber wir haben 7% aller Studenten hier. Wir
haben ausgebaute Studienplätze für 60000 Studenten, und es
ist zu überlegen, ob und in welchen Bereichen eine Auswei
tung stattfinden sollte. Dabei muß die Attraktivität anknüpfen
an die Qualität der Ausbildung, an die Qualität der Absolven
ten.
Es wird weiter darauf ankommen - und auch das ist seit
längerem Ziel der Politik-, daß die Fachhochschulen mit ihren
kürzeren und insofern attraktiveren Studiengängen weiter
ausgebaut werden. Hierin liegt ein besonderes Merkmal, und
es ist ein Erfolg, daß es gelungen ist, die Ausbildungsgänge
so, wie sie jetzt sind, auch EG-weit anerkannt zu bekommen.
Aber es kommt auch darauf an, die vorhandenen Mittel
wirtschaftlich einzusetzen. Wenn in der ersten Frage das
Problem der Verbesserung der Studiensituation angespro
chen wird, dann muß man sich überlegen, wo denn welche
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