Abgeordnetenhaus von Berlin - 10. Wahlperiode
87. Sitzung vom 8. Dezember 1988
Buwitt
(A) Wir wollen, daß unsere freiheitlichen Ideale, die Achtung
vor dem Bürger und seinen Rechten und der hohe Rang der
Grundfreiheit ein neues Denken in den Ländern des Ostblocks
unterstützen. Wir wollen als gegenwärtiges Grenzland zum
Ostblock den friedlichen Wettbewerb der Systeme und die
Überwindung der Ideologien. Wir hoffen auf die Überwindung
der Teilung unseres eigenen Landes in einem geeinten
Europa. Wir wünschen uns die Überwindung der Zerrissenheit
unseres Kontinents. Vergessen wir vor allem nicht unsere
Landsleute, denen das Leben in unserer europäischen Ge
meinschaft noch verwehrt ist, und arbeiten wir für den Tag, an
dem Europa einmal ein Ganzes sein wird.
[Beifall bei der CDU und der F.D.P.]
Wir sind bereit, dafür alle Anstrengungen zu unternehmen,
und laden alle Bürgerinnen und Bürger unserer Stadt ein, dem
Ziel eines neuen Europas alle Kraft und Begeisterung zu
widmen. Ich bin sicher, daß wir unseren Teil mit Zuversicht
und Fleiß beitragen werden, zusammen mit einem leistungs
fähigen Senat und einem Regierenden Bürgermeister Eber
hard Diepgen. - Recht herzlichen Dank!
[Lebhafter Beifall bei der CDU und der F.D.P.]
Stellv. Präsidentin Wiechatzek: Das Wort hat nun der
Abgeordnete Seiler.
Seiler (AL): Meine Damen und Herren, ich möchte aus
aktuellem Anlaß einmal etwas anders beginnen, als das sonst
hier üblich ist. Ich beginne mit einer Gruß- und Solidaritäts
adresse: Die Alternative Liste, ihre Fraktion im Abgeordneten
haus und ihre Fraktionen in den Berliner Bezirksverordneten
versammlungen begrüßen ausdrücklich und unterstützen den
(B) Protest der Berliner Studentinnen und Studenten gegen die
soziale und bildungspolitische Misere in dieser Stadt.
[Beifall bei der AL und der SPD]
Bundestreu, wie wir sind, begrüßen und unterstützen wir
außerdem den Protest der Studentinnen und Studenten in den
übrigen Universitätsstädten der Bundesrepublik Deutschland,
insbesondere in Frankfurt.
[Beifall bei der AL und der SPD]
Herr Senator Turner hat ja eben wohlweislich den Saal
verlassen,
[Franke (CDU); Er will sich das nicht anhören;
das verstehe ich!]
aber nichtsdestrotrotz werde ich nicht versäumen, die Forde
rungen, die die Studenten mit gutem Recht und der Sympathie
der Öffentlichkeit im Rücken vortragen, auch hier zu erwäh
nen. Es wird gefordert;
1. die echte Autonomie der Universität, die Trennung der
Forschung und Lehre von den Verwertungsinteressen der
Wirtschaft,
2. der Ausbau der kritischen interdisziplinären Wissen
schaft, die Verknüpfung von Geistes- und Naturwissen
schaft,
3. die verstärkte Kontrolle bzw. die gänzliche Abschaffung
der Atom- und Genforschung,
[Beifall bei der AL]
4. die paritätische Mitbestimmung in allen Universitätsgre
mien,
[Beifall bei der AL]
5. Die 50:50-Quotenregelung bei allen zu besetzenden Stel- (C)
len an den Universitäten - die Quotenregelung für Männer
und Frauen,
[Beifall bei der AL]
6. die materielle Absicherung durch Mindesteinkommen
und Wohnraum für alle,
[Beifall bei der AL]
7. die Rücknahme des Berliner Hochschulgesetzes und des
Hochschulrahmengesetzes,
[Zuruf von der AL; Und Turners!]
8. den Rücktritt von Heckeimann, Fricke und Turner,
[Zuruf von der AL: Jawohl! - Und von Kewenig! -
Beifall bei der AL]
9. die Frauenforschung in allen Bereichen und
[Beifall bei der AL]
10. keine Repressionen wegen Teilnahme an Streiks und
Besetzungen.
Diese Forderungen sind richtig, und sie sind notwendig. Sie
durchzusetzen gehen die Studentinnen und Studenten der
ehemals freien Berliner Universität den einzig möglichen
Weg. Wir beglückwünschen euch, Studentinnen und Studen
ten, zu eurem Erfolg und wünschen euch diesen auch bei
eurem weiteren Protest.
[Beifall bei der AL]
Wenn man die Redeschlachten, die hier heute schon geführt
worden sind, sich angehört hat, wenn man gesehen hat, wie
hier verhandelt worden ist sozusagen um die Frage, wer denn
nun eigentlich die Erfolge für sich einzuheimsen hat - Haben
wir von der CDU es nicht besser gemacht als ihr von der SPD?
- Und die SPD sagt dann: Aber wir haben doch die Phosphat
eliminationsanlagen gebaut! -
[Dr. Staffelt (SPD); Gut, daß Sie das noch einmal
betont haben!]
Und der Regierende Bürgermeister sagt; Ja, aber eingeweiht
haben wir sie! -, wenn man dieses Gezetere sich hier
angehört hat,
[Simon (CDU): Auf das Niveau begeben wir uns nicht!]
dann wird man sich eines nicht verkneifen können: Wenn man
am Ende dieser Legislaturperiode Bilanz zieht und sich
fragt: Was haben die letzten vier Jahre neokonservativer Herr
schaft einerseits und die Opposition von Sozialdemokraten
und Alternativen andererseits gebracht? - dann kommt man
zunächst - das muß man mit aller Nüchternheit feststellen -
nicht umhin, zur Kenntnis zu nehmen, daß in dieser Zeit das
Ansehen der Parteien und das Vertrauen in die Möglichkeiten
und Fähigkeiten der Politik enorm gesunken sind.
[Zuruf von der AL: Genau!]
Das ist eine parteiübergreifende Erscheinung, und das gefällt
uns vermutlich allen nicht, und es ist auch naheliegend, dies
im Wahlkampf erst einmal zu verdrängen. Aber ich spreche
dieses Problem sehr bewußt an, weil ich meine, daß politische
Auseinandersetzungen, die sich der Tatsache des Ver-
trauensverlusts in die Politik nicht stellen, dieser keineswegs
schmeichelhaften Tatsache, und sie nicht offensiv benennen,
unglaubwürdig sind und bleiben. Nichts ist in der gegenwärti-
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