Abgeordnetenhaus von Berlin - 10. Wahlperiode
87. Sitzung vom 8. Dezember 1988
Momper
wird, können wohl auch nicht damit gemeint sein. Mit neuen
Impulsen ist wohl auch nicht gemeint, daß die Bundesregie
rung die Transitpauschale um über 60% auf über 850 Millio
nen DM anhebt und dafür ein neuerTransitübergang im Süden
Berlins errichtet wird. Wir begrüßen diese Verbesserung, das
ist keine Frage, aber politische Impulse für eine aktive
Deutschlandpolitik sind das doch wohl nicht gewesen. Ausge
rechnet im Felde der Deutschlandpolitik, einer für Berlin
zentralen Frage, fehlt es dem Senat an Phantasie und Kreativi
tät!
[Beifall bei der SPD]
In der Regierungserklärung von 1985 war formuliert, daß es
das Ziel des Senats sei, auch bei der 750-Jahr-Feier Berlin
möglichst als Einheit sichtbar zu machen. Das Gegenteil
davon ist eingetreten. Es gab zwei 750-Jahr-Feiern in dieser
Stadt, zwei Feiern, die strikt voneinander getrennt waren. Die
Möglichkeit zur gemeinsamen Erinnerung an die Geschichte
Berlins wurd durch Taktieren und Hinhalten leichtfertig ver
spielt. Das haben wir damals kritisiert, und das kritisieren wir
auch heute noch!
[Beifall bei der SPD]
Wer eine Phase der Entspannung zwischen Ost und West
ungenutzt verstreichen läßt, wer in dieser Zeit der Reformen
im sowjetischen System für unsere Stadt keine Pläne schmie
det, wer nicht den Mut hat, in dieser Zeit Neues zu denken und
zu wagen, der versündigt sich an der Zukunft unserer Stadt.
Bisher haben Sie Beiträge dazu nicht gebracht!
[Beifall bei der SPD]
Die Deutschlandpolitik dieses Senats ist über die Formel
„Leistung gegen Devisen" nicht hinausgekommen. Wir wis
sen schon lange, daß man mit der DDR ins Geschäft kommen
kann, sobald das Geld fließt. Das ist auch in Ordnung, aber
heute muß es doch wohl um mehr gehen. Es muß um den
politischen Interessenausgleich zwischen Ost und West ge
hen, um die Anerkennung von gewachsenen Realitäten und
um die Formulierung neuer und offener Positionen zur Berlin-
Frage, und zwar auf allen Seiten. Der Deutschland- und
Berlinpolitik des Senats fehlt diese Perspektive. Die CDU ist
nur mühsam an dem Punkt angekommen, den die SPD schon
vor mehr als fünfzehn Jahren erreicht hatte, nämlich das
Aushandeln von praktischen Verbesserungen, was ich damit
überhaupt nicht kritisieren will, es reicht aber nicht!
Und immer wieder wird selbst das durch eine überholte
nationale Rhetorik gestört. Es hilft unserer Stadt nichts, wenn
die CDU in Sonntagsreden immer wieder Berlin als Hauptstadt
der Deutschen beschwört. Es kommt vielmehr darauf an, die
Rolle Berlins im Ost-West-Verhältnis neu zu definieren und für
die Stadt eine aktive Position in den sich vertiefenden Ost-
Westbeziehungen zu schaffen. Derzeit besteht aber die Ge
fahr, daß Berlin außen vor bleibt in die Entwicklung, daß die
Entspannung geradewegs an unserer Stadt vorbeizieht: Weil
die Sowjetunion noch nicht flexibel genug ist, weil die DDR
sich nicht genug bewegt, aber auch weil Senat und Bundesre
gierung nicht über den Schatten der CDU springen können.
Zuletzt ist dies beim Besuch des Bundeskanzlers in Moskau
deutlich geworden. Der Bundeskanzler hat keine neuen
Positionen zur Abrüstungs-, Sicherheits- und Entspannungs
politik vorlegen können. Er hat die ganz alten Positionen
wiederholt. Der Bundeskanzler hat Berlin zum Prüfstein
erklärt-zum Prüfstein der Politik der Sowjetunion natürlich.
Aber wenn dies Meßlatte nicht auch an unser eigenes
Verhältnis zur Sowjetunion und zur DDR gelegt wird, dann
werden wir keine Fortschritte erreichen. Wer in der Friedens
und Abrüstungspolitik der Sowjetunion nichts zu bieten hat,
der wird auch nichts bekommen. Diese Regel hat sich beim (C)
Kohl-Besuch in Moskau zum Nachteil Berlins leider wieder
bestätigt.
[Beifall der SPD]
Ich fordere die CDU erneut auf, so wie wir den politischen
Kontakt mit gesellschaftlichen Organisationen in der DDR
endlich aufzunehmen - angekündigt haben Sie das ja schon
lange. Diese Kontakte sind fruchtbar, denn sie bieten Informa
tionen und Einblick in das Denken der anderen Seite. Kommu
nikation ist die Voraussetzung für Verständigung. Politischer
Interessenausgleich heißt doch, daß wir die entstandenen
Realitäten respektieren und nicht immer wieder in Frage
stellen. Dazu gehört auch die Respektierung der faktischen
Hauptstadtfunktion von Ost-Berlin für die DDR, wie umgekehrt
die Respektierung der faktischen Zugehörigkeit West-Berlins
als Bundesland der Bundesrepublik Deutschland.
[Beifall bei der SPD]
In allen diesen Zielen steckt die Vision von einer Stadt, die
gelernt hat, mit ihrer Lage zurechtzukommen, und die gelernt
hat, sich darin dynamisch fortzuentwickeln. Diese Vision ist
nur über eine Neudefinierung grundlegender abrüstungspoli
tischer und deutschlandpolitischer Ziele zu verwirklichen.
Diese Vision geht untrennbar einher mit dem Prozeß der
Abrüstung und Entspannung.
Ein Senat, von dem Impulse für eine fortschrittliche
Deutschlandpolitik ausgehen sollen, der muß Stellung neh
men gegen die Nachrüstung bei den Kurzstreckenraketen.
Der muß sich für eine atomwaffenfreie Zone und für das
Konzept der Sicherheitspartnerschaft zwischen Ost und West
einsetzen. Das kleinkarierte Festhalten an alten Positionen
widerspricht den neuen Entwicklungen, die am Horizont
sichtbar sind. Das Wort des Generalsekretärs Gorbatschow
von dem gemeinsamen „Europäischen Haus“ bietet auch eine
neue Perspektive für Berlin. Wir Berliner wollen in diesem
Prozeß eine aktive Rolle spielen. Nur so wird langfristig die
Teilung der Stadt überwunden werden. Nur so kann die Mauer
ihren trennenden Charakter verlieren. Nur so sichern wir eine
friedliche Entwicklung unserer Stadt und erreichen eine gute
Nachbarschaft mit unserem Umland.
[Beifall bei der SPD]
„Berlin soll Forum sein für neue Ideen, verbunden mit dem
Geist der Toleranz und der Offenheit.“ - Da klatschen Sie nicht
mehr! Was ist von diesem Anspruch ihrer Regierungserklä
rung 1985, Herr Diepgen geblieben? - Berlin braucht, so
fahren Sie fort, „junge Bürger, die im Geiste der Freiheit,
Toleranz und Solidarität" Verantwortung übernehmen, also
im Sinne „republikanischer Tugend“ tätig werden, heißt es
weiter in der Regierungserklärung. Ich frage Sie, Herr Diep
gen, zählen zu diesen jungen Bürgern auch die Journalisten
der „taz“, des „Tagesspiegels" und den Pressesprecher Ihrer
Jugendsenatorin wie einige Dutzend anderer, über die das
Landesamt für Verfassungsschutz Überwachungsakten ange
legt hat? Meinten Sie die damit? Ich frage Sie. Herr Diepgen,
meinen Sie mit dem Geist der Freiheit, den Sie hier beschwo
ren haben, auch die jungen Menschen, die Sie 1987 als „Anti-
Berliner“ zu bezeichnen pflegten? Ich frage Sie, Herr Diep
gen, meinen Sie mit republikanischer Tugend auch den Satz
Ihres Herrn Innensenators, wonach am Tatort die Pressefrei
heit schon einmal zurückstehen müsse? Meinten Sie das
damit, Herr Diepgen? Ich frage Sie, Herr Diepgen, meinen Sie
mit Offenheit und Toleranz auch die Polizeisondereinheit
EbLT, die am 1. Mai 1988 gezielt gegen Fotografen und
Kameraleute in Kreuzberg vorgegangen ist und dabei auch
gleich ihre Chefs in Zivil mit verprügelt hat? „Ohne Ansehen
der Person“ - so der Innensenator - hatten sie offenbar der
Einfachheit halber gleich alle Zivilisten pauschal verprügelt.
5211