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Volume Nr. 86, 1. Dezember 1988

Full text: Plenarprotokoll (Public Domain) Issue1988/89, 10. Wahlperiode, Band VI, 82.-92. Sitzung (Public Domain)

Abgeordnetenhaus von Berlin - 10. Wahlperiode 
86. Sitzung vom 1. Dezember 1988 
- Schaumschlägerei! Alles Schaumschlägerei! - (C) 
[Simon (CDU): Was Sie machen!] 
Präsident Rebsch: Für die Alternative Liste hat jetzt die Kol 
legin Frau Nitz-Spatz das Wort. 
Frau Nitz-Spatz (AL); Herr Präsident! Meine Damen und 
Herren! Seit Oktober haben in Berlin unzählige Veranstaltungen 
zum „Gesundheits-Reformgesetz“ stattgefunden, man sollte 
besser sagen: Gesundheitsruingesetz. Auf diesen Veranstaltun 
gen hatten CDU und F.D.P. generell einen sehr schlechten 
Stand. Sie versuchten sogar, sich gegenseitig die Schuld am 
mißratenen Gesetz in die Schuhe zu schieben. So soll die F.D.P. 
der CDU die Erhöhung des Zuzahlungsbetrages von 5 auf 10 
DM pro Krankenhaustag aufgezwungen haben. Doch wenn in 
den Diskussionen alle Stricke rissen, dann versteckten sich die 
Regierungsparteien hinter der SPD, die schließlich Mitte der 
70er Jahre mit der Selbstkostenbeteiligung begonnen hatte. Sie, 
die CDU, würde diesen Weg nur konsequent weitergehen. Herr 
Braun hat das gerade wieder erst vorexerziert. Fazit: Das Selbst- 
bewußtsein der Regierungsparteien 
[Frau Schmid-Petry (F.D.P): Ist ungebrochen!] 
ist trotz großer Schaumschlägerei nicht allzu groß, wenn es um 
die Vertretung des Gesetzes gegenüber den Bürgern geht. 
Die Bevölkerung weiß, was mit dem Gesetz auf sie zukommt. 
Nicht umsonst versucht sie, noch in diesem Jahr Leistungen zu 
bekommen, für die sie nächstes Jahr doppelt und dreifach zur 
Kasse gebeten wird. Dies ist eine verständliche Reaktion. 
[Frau Schmid-Petry (F.D.P.): Nennen Sie 
mal ein Beispiel, Frau Nitz-Spatz!] 
- Das wissen Sie genausogut wie ich, darüber brauchen wir jetzt 
gar nicht zu reden! 
[Weitere Zurufe von der CDU und der F.D.P.] 
Es bleibt dabei, mit dem Gesetz zerschlagen Sie endgültig die 
Solidargemeinschaft. Dies zu verschleiern, nützt Ihnen nichts. 
[Frau Schmid-Petry (F.D.P.): Volksverdummung!] 
Und immer wieder mußten wir die Erfahrung machen, daß Sie 
das scheinheilige Argument der Kostenexplosion dazu benutz 
ten, bei den Versicherten abzukassieren, aber auf der anderen 
Seite, bei der Pharmaindustrie, der Medizingeräteindustrie, den 
privaten Krankenversicherungen, den Sterbegeldversicherungen 
und wie sie alle heißen, kräftige Zugeständnisse zu machen. 
[Beifall der Frau Abg. Brinckmeier (SPD)] 
Das Gesundheits-Reformgesetz ist ein typisches Beispiel für 
Ihre mittel- und großständische LobbyistenpolitikI Und noch ein 
mal: Es gibt keine Kostenexplosion im Gesundheitswesen, der 
Anteil der Ausgaben für Gesundheit am Bruttosozialprodukt ist 
im letzten Jahrzehnt konstant geblieben I 
Die Bevölkerung versteht sehr gut, daß die von Ihnen gewollte 
Zuzahlungsorgie diejenigen trifft, die jetzt schon krank, arm, alt 
und behindert sind. 
[Schicks (CDU): Das versuchen Sie, den Leuten 
einzureden, das ist falsch! - Simon (CDU); 
Das weiß sie auch!] 
Für diese Menschen gibt es keine Bagatellbeiträge, die sie ein 
fach wegstecken können. Stattdessen werfen Sie ihnen vor, sie 
würden sich unrechtmäßig - wir haben das gerade wieder 
gehört - am Gesundheitswesen bedienen. Sie behaupten also, 
Arme, Alte, Kranke und Behinderte bedienen sich am Gesund 
heitswesen; sie sanieren sich daran. Warum werden sie nicht 
gesünder? Es bleibt dabei, die Versicherten der gesetzlichen 
Krankenversicherung wird mit in Zukunft daran erkennen, daß sie 
die schlechtesten Zähne haben, daß sie billigste Rollstühle und 
falsch angepaßte Brillen haben. 
[Tiedt (F.D.P.): Unglaublich!] 
Es bleibt dabei: Die Versicherten der gesetzlichen Krankenver 
sicherung — 
[Weitere erregte Zurufe von der CDU 
un der F.D.P.] 
Die Versicherten der gesetzlichen Krankenversicherung werden 
erst dann zum Arzt, zur Krankengymnastin und ins Krankenhaus 
gehen, wenn es schon zu spät sein kann. Würden Sie sich mit 
der Bevölkerung unterhalten, dann würden Sie das auch erfah 
ren. 
[Beifall bei der AL - Vereinzelter Beifall 
bei der SPD] 
Dieses Ergebnis werden Sie mit der Gesundheitsreform auf der 
Versichertenseite erreichen. Härtefall- und Überforderungs 
klauseln werden diesen Mißständen nicht abhelfen, im Gegen 
teil, sie verschärfen die Zweiklassenmedizin, die Sie ja so 
dringend wollen! 
Zum Thema Totalverdatung; Anläßlich des Welt-Aids-Tages 
möchte ich darüber sprechen, wie sich das Gesundheitsreform 
gesetz auf Menschen mit HIV und Menschen mit Aids auswirkt. 
Die letzte Gesundheitsministerin betonte noch, es werde keine 
namentliche Meldepflicht für HlV-Positive und Aids-Erkrankte 
eingeführt. Minister Blüm und die Regierungsfraktionen haben 
jedoch mit dem beschlossenen Gesetz die Politik der Verfolgung 
von Menschen mit HIV und Aids sanktioniert. 
[Schicks (CDU): Das kann ja wohl nicht wahr 
sein! - Wagner, Jürgen (SPD): Das ist aber wahr!] 
Mit den maschinenlesbaren Krankenversicherungskarten, dem 
Aufbau von zentralen Versichertenverzeichnissen und Versicher 
tenkonten werden die Krankenkassen in Zukunft alle verordneten 
Leistungen aufzeichnen. Diese Totalverdatung haben Sie zwar 
dadurch ein wenig entschärft, indem Sie nun sagen, daß nur im 
Einzelfall geprüft werden darf, daß nur im Falle einer Wirtschaft 
lichkeitsprüfung oder Qualitätskontrolle geprüft werden darf. 
Aber machen wir uns doch nichts vor, es bleibt bei der Totalver 
datung! Hinzu kommt die Erfassung aller Arbeitnehmer durch die 
personenbezogene Zentraldatei bei den Berufsgenossenschaf 
ten. 
Der medizinische Dienst als weiteres Ausspähungsinstrument 
wird getreu dem bisherigen Vertrauensärztlichen Dienst über 
wachen, bevormunden und anweisen. Er wird - ich zitiere § 283 
Absatz 3 b- 
insbesondere auf Verlangen des Arbeitgebers zur Beseiti 
gung von begründeten Zweifeln an der Arbeitsunfähigkeit 
gutachterliche Stellungnahmen einholen. 
Dazu braucht man keinen weiteren Kommentar mehr abzugeben! 
Bleiben wir bei der kleinen Gruppe von Menschen mit HIV 
oder Aids als Beispiel, dann wird klar, daß sie mit diesem Gesetz 
anhand der verordneten Leistungen, anhand der verordneten 
medizinischen Maßnahmen und Medikamente ohne Schwierig 
keiten total erfaßt werden kann. Das Verfassungsrecht auf infor 
mationelle Selbstbestimmung für alle kranken Menschen wird 
damit außer Kraft gesetzt. Mit diesem Gesundheitsruingesetz 
wird die Würde aller Menschen, nicht nur der Menschen mit HIV 
und Aids, mit Füßen getreten! 
[Beifall bei der AL - vereinzelter 
Beifall bei der SPD] 
Ihre scheinbar fortschrittliche Aids-Politik entblößt sich selbst als 
Larve! Wir meinen, die Würde aller Menschen ist unantastbar! 
[Tiedt (F.D.P); Das steht im Grundgesetz!] 
Ein weiteres Unding dieses Gesetzes ist die Einführung der 
Teilarbeitsfähigkeit, die durch den medizinischen Dienst festge 
stellt werden soll. Teilarbeitsfähigkeit heißt, daß erkrankte Arbeit 
nehmer während ihrer Krankheit dem Arbeitgeber stundenweise 
zur Verfügung stehen. Der medizinische Dienst kommt dann zu 
den Kranken nach Hause und beschließt dies. Auch dies ist men 
schenunwürdig ! 
Die Riegeabsicherung ist eine weitere Demütigung für die Be 
dürftigen und die Frauen, die ihre Angehörigen pflegen - mein 
Kollege Eggert wird dazu reden. Wir fordern die Rücknahme 
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