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Volume Nr. 84, 10. November 1988

Full text: Plenarprotokoll (Public Domain) Issue1988/89, 10. Wahlperiode, Band VI, 82.-92. Sitzung (Public Domain)

Abgeordnetenhaus von Berlin - 10. Wahlperiode 
84. Sitzung vom 10. November 1988 
Kuhn 
(A) Aber zurück zu der Schere: Wir sind uns einig, daß sie sich 
öffnet, daß die Nachfragesituation der Berufsanfänger in Zukunft 
nicht dem entsprechend wird, was der Arbeitsmarkt - voraus 
gesetzt, Sie schaffen dann auch die vielen Kitas für die vielen 
Kinder, die wir dann haben - hergibt. 
[Tiedt (F.D.P.): Ist ja jetzt schon!] 
Ich meine, nur unter dieser Voraussetzung entstehen auch diese 
vielen Stellen, das wollen wir bitte einmal festhalten! Erst einmal 
gibt es die alle noch nicht! Erst einmal gibt es nur Absichtserklä 
rungen über ein Kita-Bauprogramm, über eine Ausweitung der 
Vorschulerziehung, über eine verstärkte ganztagsähniiche 
Betreuung. Die Stellen, die da nötig wären, müssen ja noch erst 
geschaffen werden, und da wäre interessant, ob die Senatsmit 
glieder, die für die Finanzen und die Stellenpläne zuständig sind, 
sich dem anschließen können, daß das in den 90er Jahren so 
kommen wird. Aber gut, ich gehe einmal davon aus, daß Sie das 
genauso sehen. 
Wenn sich so eine Schere öffnet, dann gibt es zwei Möglich 
keiten, darauf zu reagieren. Die eine Möglichkeit wäre, man ver 
sucht, das Interesse an diesem Beruf zu erhöhen und mehr Leute 
dazu zu bewegen, ihn anzustreben, also in die entsprechenden 
Ausbildungseinrichtungen zu gehen. Das zweite, das man 
gleichzeitig angehen müßte, wäre, die Verweildauer der ausge 
bildeten Kräfte in den Einrichtungen zu verlängern, also zu ver 
hindern, daß so viele ausscheiden, denn der Ersatzbedarf ist in 
den nächsten Jahren immer sehr viel höher als die Möglichkeit 
der Neuschaffung von Plätzen; 650, die jährlich ersetzt werden 
müssen, zu 200, die neu hinzukommen. 
Wenn man an diesen beiden Punkten etwas ändern will, dann 
muß man sich natürlich fragen: Woher kommt es, daß sich einer 
seits wenige Jugendliche dafür interessieren, diesen Beruf zu 
ergreifen, und daß andererseits sehr viele Erzieher, die in diesem 
Beruf stehen, schon relativ früh, nach sechs bis sieben Jahren 
wieder aussteigen? Nur wenn man diese Frage richtig beantwor- 
(B) 
tet, kann man auch den Schlüssel dafür finden, die Verhältnisse 
zu verändern. Darum will ich ein paar Punkte nennen, wie die Ant 
worten aus unserer Sicht wohl wären. 
Zur Frage 1: Wir haben das demographische Problem, das 
trifft mehr oder weniger alle Ausbildungsbereiche. Wenn die 
Zahl der 16/17jährigen insgesamt zurückgeht, dann ist natürlich 
klar, daß davon potentiell viele Ausbildungsgänge betroffen sind. 
Aber wovon hängt denn für 16jährige oder 17jährige die Berufs 
wahlentscheidung ab? Das lernen die doch schon im Berufskun 
deunterricht der 10. Klasse. Da geht es zuerst darum: Hat man 
Spaß an dem Beruf? Möchte man mit Kindern arbeiten, möchte 
man sich zum Anwalt der Lebensinteressen von Kindern 
machen ? Übrigens auch ein Anliegen, das sehr wohl noch etwas 
mit dem Impetus gesellschaftlicher Veränderungen zu tun haben 
sollte; insofern bin ich nicht froh darüber, daß da Veränderungen 
eingetreten sind und das Primat des Bastelbogens und der Uhu- 
Tube in einigen Einrichtungen wieder eingekehrt ist. 
Zweiter Punkt wäre, daß junge Leute sich fragen: Wie lange 
dauert meine Ausbildung? Wie bin ich in dieser Zeit finanziell 
abgesichert? Was habe ich hinterher für Beschäftigungsper 
spektiven? Ist das ein sicherer Arbeitsplatz? Und: Welche 
Arbeitsbedingungen finde ich eigentlich später in diesem 
Bereich vor? 
Wenn man das einmal als Fazit zusammennimmt, dann kann 
man sagen: Die Berufsperspektiven sind vielleicht günstig, weil 
es offene Stellen geben wird, aber all die anderen Faktoren sind 
leider negativ. Betrachten wir doch einmal, wie solch ein Jugend 
licher abgesichert ist in der Berufsfachschule. Er bekommt ja 
nichts in den ersten zwei Jahren seiner Ausbildung. Da gibt es 
nur für ganz wenige, sozial eng umrissene Ausnahmen die Aus 
bildungsförderung durch das Land. Alles andere greift dort nicht. 
Da muß sich also jemand dafür entscheiden, zwei Jahre seiner 
Ausbildung einkommenslos zu machen, und das in Konkurrenz 
zu Ausbildungsbereichen, in denen man im ersten und zweiten 
Jahr schon 700 DM oder 800 DM im Monat verdient. Das ist 
doch eine wichtige Hemmschwelle. 
In der zweiten Phase, in der Fachschulausbildung, gibt es (C) 
BAföG-Regelungen; aber wir wissen doch alle, daß diese 
BAföG-Regelungen unzureichend sind und vor allen Dingen für 
ältere Bewerber, für „Seiteneinsteiger“, vielleicht für Mütter mit 
Kindern, für Leute, die bereits einen anderen Beruf hinter sich 
haben, die Summen, die da gezahlt werden, in der Regel auch 
nicht ausreichen und zu gering sind, um lebenserfahrene Perso 
nen zu motivieren, quer in diese Ausbildung einzusteigen. Das 
heißt, für uns wäre wichtig zu wissen - und dazu haben Sie kon 
kret nichts gesagt -: Plant der Senat in dieser Situation durch 
Maßnahmen möglicherweise im Bereich der Landes-Ausbil- 
dungsförderung oder auf anderem Wege diese ersten zwei 
Jahre der Ausbildung finanziell attraktiver zu gestalten, um sie 
konkurrenzfähig gegen viele andere Angebote im handwerklich 
technischen Bereich abzuheben? Da muß etwas passieren, das 
fordern wir. 
Die Neuordnung der Ausbildung hat zu einer Verlängerung 
geführt; sie ist jetzt ein Jahr länger. Wo gibt es sonst noch 
Berufe, in denen man nach vier Jahren Schule und einem Jahr 
Praktikum - und auch dort mit einem relativ bescheidenen 
Gehalt, denn es sind immerhin schon 20jährige oder 21jährige, 
die dann mit 1 400 DM brutto auskommen müssen - solche 
Opfer auf sich nehmen muß nur der Sache wegen, also für 
diesen Beruf eine fünfjährige Ausbildung auf sich nehmen muß? 
Wenn diese Ausbildung nun verlängert wurde, was aus anderen 
Gründen sicher sinnvoll war, dann muß man auch den nächsten 
Schritt tun und die finanzielle Absicherung in diesen fünf Jahren 
verbessern, selbst wenn es Geld kostet. Sie werden es nicht 
schaffen, immer nur zu werben, aber das, wofür Sie werben, 
nicht zu verändern. 
Ein letzter Punkt zu dieser ersten Frage: Die spätere Arbeits 
situation. Sie beschäftigt schon denjenigen, der sich heute über 
legt, ob er denn nun Erzieher werden will, denn er denkt natürlich 
nicht nur an die Ausbildungszeit und daran, was er da verdient, 
sondern er denkt auch daran, wo er später einmal arbeiten wird. 
Die meisten werden wohl oder übel im Kita-Bereich, also im (D) 
staatlichen Bereich arbeiten müssen, einige wenige werden sich 
Nischen suchen im Bereich selbstorganisierter Projekte, und 
andere wiederum werden bei freien Trägern Unterkommen. 
Wenn man sich aber die Arbeitsbedingungen anguckt - das ist 
ein Punkt, der zum zweiten Problemkreis überleitet dann wird 
man feststellen, daß sich auch dort etwas verändern muß. Ich will 
den zweiten Problemkreis deshalb hier gleich mit einbeziehen, 
nämlich die Frage, warum ausgebildete Erzieher nach relativ kur 
zer Zeit wieder aus ihrem Beruf aussteigen; jedenfalls geschieht 
dies schneller, als es in anderen Berufen der Fall ist. Die Frage ist 
also: Warum ist eigentlich ein großer Teil der Mitarbeiter auf 
diesem Sektor schon nach relativ kurzer Zeit verschlissen, ver 
braucht, und warum glaubt er, den psychischen Belastungen 
dort nicht mehr gewachsen zu sein? Bevor ich mich der Frage 
zuwende, was ich mit solchen Mitarbeitern mache, muß ich 
natürlich erst einmal überlegen, ob ich an den Arbeitsbedingun 
gen etwas verändern kann mit dem Ziel, daß es dann nicht mehr 
so viele sind, die nach zehn oder fünfzehn Jahren so kaputt sind, 
daß sie raus wollen aus dem Beruf, daß sie nicht mehr können. 
Das muß ich doch zuerst in Angriff nehmen und dann erst 
gucken, was ich denen anbieten kann, die es trotzdem und 
immer noch nicht mehr schaffen oder nicht mehr wollen, was ja 
auch völlig legitim sein kann. 
Schauen wir uns an, was nötig wäre, um den Erzieherberuf 
attraktiver zu gestalten. Dabei muß man sich dann mit dem 
Wesen sozialpädagogischer Arbeit befassen, denn da handelt 
es sich um eine ganz andere Tätigkeit als in vielen anderen Beru 
fen. Erziehungsarbeit, Arbeit auf dem sozialpädagogischen Sek 
tor ist eben nicht gegenstandsbezogen, nicht handwerklich oder 
technisch, sondern ist bezogen auf komplexe soziale Prozesse, 
auf die tägliche Interaktion mit vielen großen oder kleinen Kin 
dern, mit Mitarbeitern, mit Eltern, und sie erfordert von der han 
delnden Person, daß sie in ihrer gesamten psychischen Disposi 
tion täglich neu gefragt ist und täglich neu bestehen muß. Das ist 
das Wesen sozialpädagogischer Arbeit, jedenfalls ein besonde 
res Beiastungsmoment. Wenn man sich dann anguckt, wie sich 
die Klienten entwickelt haben, was für Kinder denn nun in den 
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