Abgeordnetenhaus von Berlin - 10. Wahlperiode
76. Sitzung vom 9. Juni 1988
Frau Jörgensen-Ulimann
Meist werden die Frauen dann offenbar abgeschoben oder
ausgewiesen. Und wir fragen, stimmt das, ist das die gängige
Praxis, und wie oft wird das gemacht, und warum wird das
gemacht? — In Zeitungsberichten und auch wiederum von
Leuten aus Beratungsstellen wurde hier auch noch der ganz
schwere Vorwurf erhoben, den wir ebenfalls geklärt haben
wollen: Sie haben nämlich den Vorwurf erhoben, daß durch
die Abschiebehaft, durch Abschiebung und Ausweisung häu
fig verhindert wird, daß Frauen Anzeigen gegen diese Schlep
per erstatten, daß sie Aussagen machen. Und diese Leute
ziehen daraus den Schluß, daß auf diese Art und Weise im
Grunde solche Schlepper und kriminellen Organisationen vor
Ermittlungen und Strafverfahren geschützt werden und völlig
unbesehen Weiterarbeiten können, und das zu ganz hohen
Profiten. Deshalb also die Frage: Stimmt es, daß in den
vergangenen Jahren nur eine einzige Verurteilung zustande
kam wegen Menschenhandels in Berlin? - Und wir erklären
Sie sich und auch uns das?
Gleichzeitig wird auch in der Presse festgestellt, daß
bedingt durch dieses Vorgehen letztlich noch mehr Frauen
durch diese Bordelle laufen, das heißt, die Fluktuation ist
stärker, aber es ändert überhaupt nichts an der Praxis, daß
Frauen hier gezwungen werden, der Prostitution nachzuge
hen, das Geld, das sie dabei verdienen, sofort abzugeben und
hier unter völlig unwürdigen Bedingungen leben zu müssen.
Es heißt weiter, so sehen es auch Hilfsorganisationen, die
sich damit beschäftigen, daß diese Abschiebungen letztend
lich die Probleme für die Frauen nicht im geringsten beenden,
weil diese Frauen, bedingt durch die Schuldscheine, die ich
schon erwähnt habe, 5000 bis 6000 DM Schulden am Hals
haben. Das ist im Maßstab ihres Heimatlandes eine riesige
Summe! Sie können also überhaupt nicht zurückkehren,
würden von ihren Familien auch nicht aufgenommen werden.
Wenn also diese Frauen schon kein Geld haben, so stellt sich
die Frage, und auch hier wurde berichtet, daß die Polizei
teilweise diesen Frauen bei Abschiebungen Bargeld ab
nimmt, um davon Tickets zu kaufen, damit sie über Tegel
ausgeflogen werden können, obwohl diese Frauen bereits ein
Rückflugticket über Schönefeld besitzen. Es ist also die Frage,
warum wird das so praktiziert, und wenn es so praktiziert wird,
warum können diese Frauen dann nicht über Schönefeld
ausreisen, wenn sie das wünschen?
Es kommen weiterhin Warnungen von Leuten, die sich viel
mit dieser Problematik der Zwangsprostitution beschäftigt
haben, daß diese Abschiebungen Frauen weiterhin gefähr
den, weil sie nicht aus den Fängen dieser internationalen
Organisationen herauskommen, weil sie mit dem Schulden
berg, den sie da als Schuldverschreibung noch haben, unter
Druck gesetzt werden, in die Zwangsprostitulion zurückzukeh
ren in anderen Ländern und somit überhaupt aus diesem
Kreislauf nicht herauskommen. Welches Wissen haben Sie
also, Herr Senator Kewenig, über die Aktivitäten internationa
ler Menschenhändlerorganisationen in Berlin und deren Ver
knüpfungen darüber hinaus? — Und was wissen Sie über
deren Organisationsstrukturen, wie sie arbeiten? — Und vor
allen Dingen, wie beurteilen Sie die Strategien der Polizei, die
ich schon kurz geschildert habe, nämlich durch Razzien und
Abschiebungen von Frauen letztlich diese Frauen sehr stark
zu kriminalisieren, währenddessen der Eindruck bleibt, daß
die eigentlichen Kriminellen, nämlich diejenigen, die in sol
chen Schlepperorganisationen bleiben, ungeschoren Weiter
arbeiten können, und das noch mit hohen Profiten?
[Beifall bei der AL]
Alterspräsident Poritz: Zur Beantwortung der Großen Anfra
ge hat nun das Wort Herr Senator Dr. Kewenig.
Dr. Kewenig, Senator für Inneres: Herr Präsident! Meine
Damen und Herren! Lassen Sie mich, bevor ich zu den
einzelnen Fragen Stellung nehme, sagen, es handelt sich um
ein ernstes Problem, auf das Sie durch Ihre Große Anfrage
aufmerksam machen. In dieser Problematik befangen sind
eine Reihe von Frauen, die ohne Zweifel Opfer und nichts
anderes sind. Aber wir haben es ja leider oft so, daß das letzte
Ende des Bindfadens, dessen Schuld sehr gering ist, gefaßt
wird, während diejenigen, die die eigentlichen Fäden ziehen
und die die große Schuld auf sich laden, nicht gefaßt werden.
Das ist eines der Probleme, bei denen wir ganz sicher
gemeinsam gerne weiter wären, als wir gegenwärtig sind.
Ganz generell bin ich der Auffassung — einmal völlig unab
hängig von der Berliner Polizei —, daß man diesem Problem
des internationalen Menschenhandels noch nicht auf eine
wirklich durchgreifende Weise Herr geworden ist. Ich befürch
te, daß wir noch einige Jahre gemeinsamer internationaler
Anstrengungen, aber auch Anstrengungen hier in Berlin
brauchen, um das Problem auch nur halbwegs in den Griff zu
bekommen.
Zu Ihren Einzelfragen nun die folgenden Antworten.
Zu Ihrer Frage 1; Beim Polizeipräsidenten in Berlin sind
derzeit neun Ermittlungsverfahren wegen Verdachts des
Menschenhandels nach § 181 StGB anhängig. Nach dem
gegenwärtigen Stand der Ermittlungen kann nicht davon
ausgegangen werden, daß alle ausländischen Frauen, die in
Berlin der Prostitution nachgehen oder aber heiraten, Opfer
des Menschenhandels sind, obwohl diese Antwort nicht etwa
die Bedeutung des Menschenhandels in diesem Bereich
minimieren soll.
Zu Ihrer zweiten Frage: Beweisbare Erkenntnisse aus
Ermittlungsverfahren über Aktivitäten und Organisationen
international arbeitender Menschenhändler konnten bisher
von der Berliner Polizei - aber soviel ich weiß auch von den
Polizeien anderer Länder — nicht gewonnen werden. Die
zuständigen Fachdienststellen der Polizei vermuten entspre
chendes, beobachten dieses Feld sehr aufmerksam, sind aber
bisher beweiskräftig noch nicht fündig geworden.
Zur Frage 3: Es trifft nicht zu, daß seit November 1987
verschärfte Razzien durchgeführt werden. Vielmehr wurden
zu diesem Zeitpunkt der Polizei die veränderten Rechtsauffas
sungen des Landeseinwohneramtes und der Staatsanwalts
chaft zur Prostitutionsausübung bekannt, wonach nicht mehr
der Nachweis im Einzelfall erforderlich, sondern der „typische
Aufenthalt in einem einschlägig bekannten Betrieb" ausrei
chend ist, um ein Strafverfahren nach § 47 des Ausländerge
setzes und ausländerrechtliche Maßnahmen mit dem Ziel der
Abschiebung einzuleiten. Die Polizeivollzugsbeamten waren
aufgrund dieser Rechtslage gehalten, entsprechende Ermitt
lungsverfahren zu führen, das heißt, die Zahl erhöhte sich.
Seitdem 21. März 1988 ist die Fachdienststelle der Direktion
„Spezialaufgaben der Verbrechensbekämpfung“ Koordinie
rungsstelle für polizeiliche Maßnahmen an Orten der Prostitu
tionsausübung. Erst von diesem Zeitpunkt an sind genaue
statistische Angaben möglich. Es wurden seit dem 21. März
84 Kontrollen derartiger Betriebe durchgeführt, bei denen
54 ausländische Frauen, davon 54 Thailänderinnen und eine
Polin, für das Landeseinwohneramt in Abschiebehaft genom
men wurden. Wie viele Frauen seit November 1987, also seit
Beginn der geänderten Praxis, aufgrund der hier in Rede
stehenden Problematik abgeschoben wurden, kann nicht
beantwortet werden, da das Landeseinwohneramt - Abtei
lung Ausländerangelegenheiten— dies nicht gesondert stati
stisch erfaßt. Angaben zum Abschiebungsgrund wären nur mit
einer außer Verhältnis stehenden manuellen Auswertung der
Ausländerakten möglich, die in der Kürze der Zeit nicht
durchführbar war.
Zu Frage 4: Dem für die Abschiebungen zuständigen
Landeseinwohneramt obliegt es unter anderem, die tatsächli
che Ausreise der abzuschiebenden Ausländer zu überwa
chen. Die Wahrnehmung dieses Auftrags wäre jedoch bei