Abgeordnetenhaus von Berlin - 10. Wahlperiode
73. Sitzung vom 21. April 1988
Stellv. Präsidentin Wiechatzek
Ich rufe auf
lfd. Nr. 2, Drucksache 10/2144;
I. und II. Lesung der Vorlage - zur Beschlußfassung -
über Gesetz über die Anwendung von Bundesgesetzen
zu internationalen Abkommen der Bundesrepublik
Deutschland
Eine Beratung war nicht vorgesehen. Gemäß der Geschäfts
ordnung, § 32 Absatz 3, verbinde ich die I. und die II. Lesung. -
Wer dem Gesetz über die Anwendung von Bundesgesetzen
seine Zustimmung zu geben wünscht, den bitte ich um das
Handzeichen. - Danke schön!
Die lfd. Nrn. 3 bis 6 sind durch die Konsensliste erledigt.
Wir kommen zu
lfd. Nr. 7, Drucksache 10/2032:
Große Anfrage der Fraktion der SPD über Strukturre
form im Gesundheitswesen
Das Wort zur Begründung hat Frau Kollegin Brinckmeier.
Frau Brinckmeier (SPD): Frau Präsidentin! Meine sehr
geehrten Damen und Herren!
Unser Gesundheitswesen muß bezaltbar bleiben! Die
Kostenexplosion im Gesundheitswesen muß gestoppt
werden. Eines aber bleibt für uns unverrückbar; Nie
mals darf es wieder heißen: Weil du arm bist, mußt du
früher sterben. Wer krank ist, dem muß geholfen
werden - ohne Rücksicht darauf, ob er reich oder arm
ist. Wir brauchen eine echte Gesundheitsstrukturre
form.
[Beifall bei der SPD]
- Ich erwarte den Beifall der CDU und der F.D.P.!
[Preuss (CDU): Haben Sie Herrn Fink zitiert?]
Für diese Aussage, Herr Senator Fink, die Sie anläßlich Ihrer
Wahl zum CDA-Vorsitzenden im Oktober vergangenen Jahres
gemacht haben, sagen wir Sozialdemokraten Ihnen unsere
volle Unterstützung zu. Ebenfalls unterstreichen wir Ihre
Forderung, daß die zukünftigen Belastungen nicht nur den
Versicherten aufgebürdet werden dürfen, sondern vor allem
denjenigen, die den Hauptteil der Belastungen verursacht
haben, nämlich Ärzten, Krankenhäusern und der Pharmaindu
strie.
Wo, Herr Senator Fink, ist von dieser Generalforderung
nach einer wirklichen Gesundheitsstrukturreform etwas übrig
geblieben? Wo, Herr Senator Fink, macht sich die angeblich so
soziale Handschrift der CDA-Sozialausschüsse bei dem uns
vorliegenden Referentenentwurf des Bundesarbeitsministers
Blüm bemerkbar? - Der Vorschlag der Koalition zur Struktur
reform im Gesundheitswesen entspricht nicht den Erwartun
gen, die an eine Reform gestellt werden müssen, da er kaum
strukturwirksame Elemente enthält. Es handelt sich vielmehr
um ein Kostendämpfungskonzept, das die Lasten der finan
ziellen Konsolidierung einseitig den Versicherten und den
Kranken auferlegt. So gesehen handelt es sich nicht einmal
um ein Kostendämpfungsgesetz, sondern um ein Kostenver
lagerungspaket, das dreisterweise auch mit dem Etikett
„solidarische Erneuerung unserer Krankenversicherung“
versehen wird. Das genaue Gegenteil ist der Fall. Das
Solidarprinzip, das bisher als konstitutiver Bestandteil der
gesetzlichen Krankenversicherung gilt, wird in seinem Kern
zerstört. Auch das Sachleistungsprinzip bleibt auf der Strecke.
Bisher galt es, einen Solidarausgleich zwischen Jungen und
Alten, zwischen Gesunden und Kranken, zwischen wirtschaft
lich Stärkeren und wirtschaftlich Schwächeren herzustellen.
Je weniger Gesundheitsleistungen über Beiträge und je mehr
über Selbstbeteiligung finanziert werden, desto größer ist der
Schaden, den das Solidarprinzip nimmt. Zugleich hat mehr
Selbstbeteiligung erhebliche Umverteilungswirkungen. Denn
beitragsfinanzierte Leistungen tragen Arbeitnehmer und Ar
beitgeber gemeinsam. Die Selbstbeteiligung dagegen geht
allein zu Lasten der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer,
die unter der Regierung Kohl ohnedies verteilungspolitisch
immer mehr unter die Räder gekommen sind. Die Anbieter
von Gesundheitsleistungen werden weitgehend geschont. Die
Beiträge der pharmazeutischen Industrie zur Konsolidierung
sind entweder inhaltlich falsch konzipiert, wie das Festpreis
modell, und zudem auch noch weiter aufgehöhlt worden durch
die Intervention der F.D.P., oder als politisch kaum realisier
bare freiwillige Maßnahme angelegt, wobei auch hier festzu
halten ist, daß von dem viel beschworenen Solidarbeitrag der
Pharmaindustrie nicht mehr die Rede ist.
Wir alle wissen, daß die schwerwiegende Strukturkrise
unseres Gesundheitssystems nur durch einen gesundheitspo
litischen Neuanfang, der die strukturellen Mängel behebt,
überwunden werden kann. Die Politik der Kostenbegrenzung
und Plafonierung, wie sie der Referentenentwurf der Koalition
vorsieht, zielt nicht auf die Ursachen der Mängel, sondern
lediglich auf deren Folgen. Nicht die kaum unter Kontrolle zu
haltenden Kosten, sondern die sie hervorrufenden strukturel
len Mängel sind des Übels Kern. Das, was der Arbeitsminister
derzeit versucht, hat mit diesem gesundheitspolitischen Neu
anfang nichts zu tun. Er ändert an den bestehenden Verhält
nissen nichts, er verteilt nur die Lasten neu. Und bei dieser
Lastenumverteilung schneiden die Patienten und Versicher
ten ausgesprochen schlecht ab. Dazu komme ich im einzelnen
noch.
Es ist natürlich immer leichter zu sagen, was man nicht will.
Wer eine Strukturreform für notwendig hält-und Sozialdemo
kraten tun dies -, der muß auch sagen, was er will. Wir haben
deshalb ein Papier erarbeitet, das die Eckdaten eines sozial
demokratischen Konzeptes zur Strukturreform im Gesund
heitswesen darlegt, das auf Schaffung sachgerechter Struktu
ren zielt, die den Bedürfnissen der Menschen entsprechen.
Unser Ziel ist es, mit der Orientierungslosigkeit im Gesund
heitswesen Schluß zu machen. Wir wollen eine inhaltliche
Orientierung des Gesundheitssystems, aus der sich die finan
zielle Orientierung ableitet.
[Beifall bei der SPD]
Das bedeutet, daß zunächst ein Ziel- und Prioritätenkatalog,
der die Aufgaben des Gesundheitswesens zusammenfaßt,
erstellt wird und als Orientierungsrahmen gilt. Zu diesem
Orientierungsrahmen wollen wir dann einen Finanzrahmen.
Ich hoffe, daß es künftig noch Gelegenheit geben wird, sich mit
dem SPD-Modell auseinanderzusetzen, da dies im Rahmen
unserer heutigen Anfrage ohne Zweifel zu weit führen würde.
Herr Senator Fink! Wir erwarten von Ihnen, daß Sie sich
endlich einmal zu den konkreten Auswirkungen für die Berli
ner Patienten und Versicherten äußern, wenn der Blümsche
Referentenentwurf Realität würde. Es reicht nämlich nicht
aus, sich schützend hinter Blüm zu stellen und die Koalitions
verhandlungen als einen vernünftigen Kompromiß zu be
zeichnen, nur weil dadurch der Einstieg in die Absicherung
der häuslichen Pflege gelungen sei.
Die neue Regelung der Pflegefinanzierung in der vorgese
henen Form kann wohl kaum jemanden befriedigen. Auch wir
halten eine umfassende Verbesserung der Absicherung Pfle
gebedürftiger für dringend erforderlich und haben auch ent
sprechende Initiativen in den Bundesrat eingebracht. Auch in
der SPD gibt es unterschiedliche Auffassungen darüber, ob
dies im wesentlichen über Steuermittel finanziert und durch
ein Bundespflegegesetz erfolgen oder eine Lösung über die
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