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Volume Nr. 69, 11. Februar 1988

Full text: Plenarprotokoll (Public Domain) Issue1988, 10. Wahlperiode, Band V, 68.-81. Sitzung (Public Domain)

Abgeordnetenhaus von Berlin - 10. Wahlperiode 
69. Sitzung vom 11. Februar 1988 
Palm 
(A) Arbeitslosen rund 56 % ohne Berufsausbildung sind; im Bund 
sind es 44 % und im Bestand - September 1987 - 61,3 % und 
ohne Beruf im Bund 51 %. Das heißt, die erste Aufgabe für Ber 
lin für den Senat ist die Qualifizierung. Daran arbeiten wir. 
Der andere Punkt ist der Strukturwandel, der nur mittelfristig 
erreichbar ist. Herr Wagner, Sie wissen, wie schwer die Bemü 
hungen zum Erfolg führen, Trendwenden in der Entwicklung, ins 
besondere in der Industrie, in Berlin zustande zubringen. 
Ich will etwas wiederholen, was bereits in der Wirtschafts 
debatte im Dezember gesagt worden ist: Sie haben erneut dem 
Senat vorgeworfen, der Senat würde nichts tun. - Ich wieder 
hole: Im Energiebereich werden bzw. sind schon ausgegeben 
fünf bis sechs Milliarden DM, die sicherlich arbeitsplatzmäßig 
nicht nur Berlin zugute kommen, die aber ausgegeben werden. 
Im Bereich der Kanalisation und Bodensanierung werden erheb 
liche Mittel aufgewendet. Für den Bereich Umwelt - und Ar 
beitsplätze - stehen im Haushalt 1988 allein 500 Millionen DM. 
- Sie haben beklagt, daß es kein Stadtsanierungsprogramm 
gäbe. Zu Ihren Zeiten standen im Haushalt 13 Millionen DM, im 
Haushalt 1988 stehen 300 Millionen DM. 
Im Rahmen der Diskussionen, die wir hier führen, dürfen wir 
nicht außer acht lassen, daß in Bonn - und zwar quer durch alle 
Parteien, Herr Wagner - eine gewisse Müdigkeit gegenüber 
Berlin entstanden ist, weil wir in der Vergangenheit unsere Er 
folge möglicherweise zu laut herausposaunt haben, aber es gibt 
Regionen, denen es sehr viel schlechter geht. Deshalb werden 
wir in der Zukunft Schwierigkeiten haben, vom Bund Sonder 
maßnahmen und Sonderzugeständnisse zu bekommen. 
[Wieland (AL): Den Mund zu voll genommen über Jahre 
hinweg!] 
Ich sage zum Abschluß: Wir lassen uns durch Ihre wiederhol 
ten Katastrophendarstellungen von unserem Weg nicht abbrin 
gen. Strukturwandel zu mehr qualifizierten Arbeitsplätzen - heißt 
^ unsere Devise, und wir werden damit Erfolg haben. 
[Beifall bei der CDU und der F.D.P.] 
Seiler (AL); Meine Damen und Herren! Es gehört schon viel 
Dreistigkeit dazu, sich als Vertreter einer Partei, während deren 
Regierungszeit sich die Arbeitslosigkeit verdoppelt hat, hier hin 
zustellen und zu sagen, das sei Ausdruck davon, daß die Ar 
beitslosen nicht arbeiten wollten. 
[Beifall bei der AL - Palm (CDU): Das habe ich nicht 
gesagt!] 
Das ist sozusagen die Arroganz der Macht derjenigen, die nie 
ernsthaft etwas gegen Arbeitslosigkeit unternommen haben und 
die jetzt auch noch die Schuld an dieser Schwarzmalerei - wie 
Sie das nennen -, die Schuld an dieser Katastrophe von 
100 000 Arbeitslosen den Betroffenen in die Schuhe schieben 
wollen. Das ist die Arroganz der Macht, die Sie bei diesem Pro 
blem immer an den Tag gelegt haben. 
[Beifall bei der AL und der SPD] 
Ich bin allerdings auch ein bißchen verwundert über die Stra 
tegie der Sozialdemokraten. Wenn Sie hier zum wiederholten 
Mal den Appell starten, doch gemeinsam mit dem Senat und den 
Gewerkschaften nach Bonn zu gehen und von dort aus Program 
me zur Arbeitslosigkeit aufzulegen und durchzusetzen, dann erin 
nert mich das doch sehr stark an die Politik der Kooperation von 
Arbeit und Kapital, die auch in den 50er und 60er Jahren nicht 
ohne Erfolg betrieben worden ist, die aber - das müßten die So 
zialdemokraten wissen - in dem Moment von seiten des Kapitals 
rücksichtslos aufgekündigt worden ist, wo sie drohte, ihnen 
selbst, nämlich dem Kapital, Nachteile einzubringen. Das ist 
einer der wesentlichen Gründe für diese Arbeitslosigkeit, wie wir 
sie heute haben. Und wenn Sie vor diesem Hintergrund die 
Wiederauflage dieser gescheiterten Kooperationspolitik verlan 
gen, dann verschleiern Sie auch mit einen der wesentlichen 
Gründe für die Entwicklung, die Sie hier so sehr bedauern, 
[ Beifall bei der AL] 
Gestern hat der Senator für Wirtschaft und Arbeit die Bilanz (C) 
der wirtschaftlichen Entwicklung für das Jahr 1987 der Presse 
vorgestellt. Nun weiß man, daß Politiker immer dann, wenn sie re 
gieren, sozusagen Berufsoptimisten sein müssen. Bei Herrn Pie- 
roth hat man allerdings den Eindruck, daß sein Optimismus nicht 
berufsbedingt ist, sondern das, was er gestern an Optimismus 
geäußert hat, erinnert doch in erschreckender Weise an Arro 
ganz gegenüber den Problemen auf dem Arbeitsmarkt. Berlin ist 
auf dem rechten Weg - hat erzürn zigsten Mal verkündet. Ich bin 
allerdings ganz sicher, Herr Senator, daß dieser rechte Weg von 
den 100 000 offiziell registrierten Arbeitslosen in dieser 
Stadt, von den 20 bis 30 000 nicht bzw. nicht mehr registrierten 
Arbeitslosen, die aus der Statistik herausgekippt worden sind, 
um den rechten rechten Weg zu begradigen, von den 7 000 Be 
schäftigten in Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, von den vielen 
Männern und Frauen, die in ungesicherten, zeitlich befristeten, in 
nicht der Sozialversicherungspflicht unterliegenden ausbeu 
terischen Beschäftigungsverhältnissen dahinvegetieren, ganz 
anders gesehen wird. Ganz anders gesehen wird er natürlich 
auch von den weit über 100 000 Sozialhilfeempfängem in der 
Stadt. Und ganz anders gesehen wird er sicher auch von denen, 
die noch einen Arbeitsplatz haben, die aber mit dem Verlust ihres 
Arbeitsplatzes täglich rechnen müssen. Das ist keine kleine Min 
derheit, das sind zusammengenommen Hunderttausende. Und 
daß sind diejenigen, HerrPierolh, für die Sie gestern lediglich die 
lakonische Feststellung übrig hatten: „Die Zunahme von rund 
5 000 Arbeitsplätzen in 1987 ist den Arbeitslosen nicht ausrei 
chend zugute gekommen.“, um dann auch noch anzufügen: 
„Eine Umkehr bei der unverändert hohen Arbeitslosigkeit wird es 
frühestens in zwei Jahren geben.“ - Sehen Sie, das ist die Art, 
wie Sie mit dem Kernproblem der gegenwärtigen ökonomischen 
und gesellschaftlichen Situation umgehen. Und das ist die Art, 
von der ich behaupte, daß das mit Berufsoptimismus nichts mehr 
zu tun hat, sondern pure Ignoranz ist. 
[Beifall bei der AL] 
Die Selbstheilungskräfte des Marktes - das ist das, was Sie (D) 
für den richtigen Weg halten. Aber diese Selbstheilungskräfte 
haben vor dem Problem der Arbeitslosigkeit versagt - übrigens 
auch vor dem Problem der ökologischen Zerstörung unserer 
Natur. Was haben denn diese Selbstheilungskräfte eigentlich 
geheilt? - Sie haben die privatwirtschaftlichen Renditen geheilt! 
Die Erhöhung der Renditen hat aber nicht zu den ar 
beitsplatzschaffenden Investitionen geführt, die notwendig ge 
wesen wären, um die Arbeitslosigkeit zu mindern. Sie haben, wie 
das weiland Bundeskanzler Schmidt schon gesagt hat, Sie 
haben die Pferde zur Tränke geführt, die haben aber nicht gesof 
fen. Das ist der Weg, den Sie als den richtigen bezeichnen, der 
sich als so falsch und so erfolglos erwiesen hat vordem Hinter 
grund der Verdoppelung der Arbeitslosenzahlen, den Sie aber 
dennoch in unverbesserlicher Manier fortsetzen wollen. 
Was könnte man also tun, um dem Problem der Arbeitslosig 
keit Herr zu werden? Es gibt sowohl kurzfristig als auch mittelfri 
stig sehr wohl Möglichkeiten, von Berlin aus konkret Hilfe zu lei 
sten, um die Arbeitslosigkeit einzudämmen. Es gibt diese Mög 
lichkeit, weil wir einmal einen eklatanten Bedarf an zusätzlichen 
öffentlichen Dienstleistungen haben, zum Beispiel in den Schu 
len, in den Hochschulen, im sozialen Bereich sowohl in den Be 
zirksämtern als auch bei den Selbsthilfeprojekten; wir haben 
erhebliche Vollzugsdefizite im Umweltschutz, bei der Frauenfor 
schung, in den Kunstämtern und Heimatmuseen und in den 
Musikschulen - alle leiden sie unter Auszehrung -, die ärztliche 
Versorgung in den Krankenhäusern ist verbesserungsbedürftig, 
die Bau- und Wohnungsaufsicht wird vernachlässigt. Hier gibt 
es, von niemandem bestritten, unabweisbaren Bedarf an Perso 
nal. Und es gibt darüber hinaus auch die entsprechend qualifi 
zierten Arbeitskräfte auf dem Arbeitsmarkt. Schauen Sie sich die 
Arbeitslosenstatistiken an, schauen Sie sich die Zahl der arbeits 
losen Lehrer, der Sozialarbeiter, der Ärzte, der Künstler, der Wis 
senschaftler an. Es ist einzig das dogmatische Festhalten an pri 
vatwirtschaftlichen Lösungen, die sie daran hindert, auch kurzfri 
stig in Berlin für den Abbau der Arbeitslosigkeit etwas zu tun. 
Es gibt einen weiteren Punkt, bei dem Sie ebenfalls Ihr Dog 
matismus davon abhäit, wirkungsvoll etwas für den Abbau der 
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